Wie Kreativität entsteht, sieht man hier im Chaos des Anakonda-Raumes der Peter Gläsel Schule in Detmold. Zwölf Kinder zwischen sechs und zehn Jahren sitzen im Kreis und studieren das Lied „Vier kleine Fische“ ein. Letzte Feinheiten werden geklärt, Strophen vergeben, Einsätze abgesprochen. Grundschullehrerin Nele Hartmann und Musiker Florian Stubenvoll versuchen, dabei die Fäden in der Hand zu behalten. Als Stubenvoll die Boomwhackers, große Klangröhren aus Kunststoff, austeilt, steigert sich die Lautstärke. Routiniert klatscht der Musiker einen Rhythmus. Die Kinder reagieren sofort und klatschen die Antwort. Ruhe kehrt ein, die Probe kann weitergehen. „Das ist ein Projekt zum Thema Noten in der Musik“, kommentiert der neunjährige Neo, der eine Gruppe Besucher durch seine Schule führt. „Wir drehen einen Erklärfilm. Dabei dürfen wir uns aussuchen, in welcher Gruppe wir mitmachen möchten: hier bei der Musik, in der Theater- oder der Filmgruppe.“
„Kreativität ist der Motor unserer Schule“, erklärt Stefan Wolf, Geschäftsführer der Peter Gläsel Stiftung, den Besuchern später. „Wir möchten, dass sich die Schüler zu kreativen, selbstbewussten Menschen entwickeln. Schließlich wissen wir nicht, wie die Welt aussieht, in der sie einmal leben werden.“ Um Kinder auf diese ungewisse Zukunft vorzubereiten, eröffnete der Pfarrer 2015 gemeinsam mit dem bildenden Künstler Josef Köhler im Auftrag der Stiftung die freie Ersatzschule in privater Trägerschaft. Die Kinder lernen hier in jahrgangsübergreifenden Gruppen. Auf einzelne Fächer verzichtet die Schule ganz. „Bei uns stehen künstlerische und musische Prozesse im Mittelpunkt“, sagt Wolf. Viele der Lehrer, die hier Lernbegleiter heißen, sind Schauspieler, Musiker oder Filmemacher.
Kreativität ist ein Rohstoff der Zukunft
Nicht nur in der Gläsel-Schule wird Kreativität als Rohstoff der Zukunft gehandelt. Auch in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft steht die Fähigkeit, Neues zu denken und zu erschaffen, hoch im Kurs. Weltweit versuchen Schulen, ihre Schüler auf die neuen Anforderungen vorzubereiten. Selbst in Singapur, das seinen Spitzenplatz im jüngsten PISA-Test vor allem diszipliniertem Arbeiten verdankt, bekommen die Schulen von der offiziellen Politik die Vorgabe, ihre Schüler vom reinen Pauken zum kreativen Denken zu bringen. Wie aber lässt sich die schöpferische Kraft fördern?
Sicherheit ist ein guter Nährboden für Kreativität
Die Voraussetzungen sind günstig, denn Kreativität wurde dem Menschen in die Wiege gelegt. „Eine alltägliche Form finden wir schon bei Kindern im Säuglingsalter“, sagt Rainer Holm-Hadulla, Kreativitätsforscher und Professor für Psychotherapeutische Medizin an der Universität Heidelberg. „Jedes Kind komponiert aus den Reizen, die es aufnimmt, seine eigene Welt.“ Dabei zeige die Bindungsforschung, dass ein Kind dann besser lerne und sich entwickle, wenn es über so etwas wie eine Grundsicherheit verfüge. Auch für Kreativität ist Sicherheit ein guter Nährboden. Umgekehrt lassen sich innovative Ideen bereits im Keim ersticken, wenn man Menschen unter Stress setzt.
Wie entsteht Kreativität im Kopf?
Um zu verstehen, warum Angst und Stress so verheerend auf die Kreativität wirken, lohnt sich ein Blick in unser Denkorgan. Zwar lässt sich Kreativität keiner festen Gehirnregion zuordnen, aber man weiß, dass vor allem zwei Netzwerke während des kreativen Prozesses zusammenarbeiten: das Basis- oder Default-Mode-Netzwerk, das immer dann aktiv ist, wenn wir unsere Gedanken schweifen lassen. Und das Kontroll- und Entscheidungsnetzwerk. Die zündende Idee entsteht immer aus einem Wechsel aus Abschweifen und Fokussieren. Dabei bringt das Gehirn beim Tagträumen erst jede Menge, teils abwegiger, Ideen hervor, die dann durch das Kontrollzentrum auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft werden. Gedanklicher Schrott wird – meist unbewusst – direkt aussortiert.
Die wichtigste Regel: Druck rausnehmen
Stehen wir unter Stress, schaltet unser Gehirn aber in den Notfallmodus: Jetzt gilt es, möglichst keinen Fehler zu machen. Wir stürzen uns auf die Details und lassen neue Ideen nicht mehr zu. Konzentriertes, fehlerfreies Arbeiten ist so zwar möglich. Der Blick fürs große Ganze und kreative Ideen aber nicht. Will man Schüler also zu innovativen Denkern machen, heißt das: Druck rausnehmen.
Die Peter Gläsel Schule setzt das konsequent um. Ihr erklärtes Ziel ist ein „lustvolles Lernen ohne Angst und unnötigen Druck“. Die Schüler dürfen selbst entscheiden, wie sie sich den Lernstoff aneignen. Auf Noten und Hausaufgaben verzichtet die Schule ganz. Ab der dritten Klasse führen die Lernbegleiter mit den Schülern Lernberatungsgespräche, in denen sie auch den Lernstand der Schüler zum Thema machen. „Unsere erste Frage lautet dabei immer: ,Wie wohl fühlst du dich?‘“, sagt Stefan Wolf. „Die Kinder sollen bei uns in dem Vertrauen aufwachsen, dass sie Ideen haben dürfen.“
Der Ideentreibstoff heisst Motivation
Der Verzicht auf übermäßigen Druck fördert das schöpferische Denken offenbar noch aus einem weiteren Grund. „Kreativität entsteht aus intrinsischer Motivation, aus dem Antrieb von innen also, einer echten Begeisterung für die Sache“, sagt Konrad Lehmann, Hirnforscher und Buchautor. „Schule und Eltern vermitteln aber viel zu oft, dass die Schüler für einen Erfolg lernen, für Noten, Abschlüsse und um Geld zu verdienen.“ Das sei viel zu viel Motivation von außen und damit Gift für den inneren Antrieb.
Noten sind Gift für den inneren AntriebKonrad Lehmann, Hirnforscher und Buchautor
Um kreative Leistungen zu fördern, reicht es aber nicht, Druck und Angst aus der Schule zu verbannen und stattdessen Begeisterung zu wecken. „Natürlich müssen wir den Schülern auch möglichst viel Wissen vermitteln, auf das sie zurückgreifen können“, sagt Stefan Wolf von der Peter Gläsel Schule. Schließlich müssen die Ideen, aus denen das Gehirn auswählt, ja irgendwo herkommen. Und auch die Auswahl durch das Kontrollnetzwerk basiert auf vorhandenem Wissen.
„Neurobiologisch lässt sich Kreativität als ,Neuformierung von vorhandenen Informationen‘ definieren“, erklärt Rainer Holm-Hadulla. Diese Informationen müssten aber im Gehirn gespeichert sein, damit sie neu und originell kombiniert werden können. Es genüge nicht, wenn sie irgendwo im Internet stehen.
Kreativität braucht Wissen und Können
Schaut man sich die Biografien besonders kreativer Persönlichkeiten an, wird schnell klar, dass Thomas Edison nicht ganz falsch lag, als er sagte: „Genie ist ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration.“ Ob Mozart, Picasso, Goethe oder Einstein: Gerade außergewöhnlich kreative Menschen waren häufig besonders fleißig. Auch wenn man die Ansprüche an den Nachwuchs nicht ganz so hoch setzt, ohne gelernte Grundlagen geht es nicht. Um einen guten Aufsatz in Deutsch zu schreiben, muss man die Regeln der Rechtschreibung beherrschen, für eine knifflige Knobelaufgabe in Mathe braucht man die Grundrechenarten. Selbst um im Kunstunterricht kreativ zu sein, kann es nicht schaden, den richtigen Umgang mit den verschiedenen Farben, Werkzeugen und Materialien zu kennen.
Kreativität entsteht im Wechselspiel von diszipliniertem Lernen und freiem GestaltenRainer Holm-Hadulla, Kreativitätsforscher
So absurd es also erst einmal klingt: Um Kreatives leisten zu können, müssen Schüler auch lernen, sich selbst zu strukturieren und konzentriert an einer Sache dranzubleiben. „Kreativität entsteht immer im Wechselspiel von diszipliniertem Lernen und freiem Gestalten“, sagt Rainer Holm-Hadulla. Pädagogische Ideologien fokussierten häufig nur das eine oder das andere. „Dabei spielen strukturiertes Lernen und freie Imagination zusammen. Das eine ist nicht kreativer als das andere.“ Dieses Zusammenspiel müsse individuell für jedes Kind austariert werden. Es gebe Schüler, die bräuchten viel Freiraum, um kreativ zu sein. Andere bräuchten eine klare Struktur, feste Lernzeiten und einen aufgeräumten Schreibtisch.
Spagat zwischen Disziplin und Freiraum
Wie aber können Schulen und Eltern diesen Spagat schaffen: einerseits genug Wissen zu vermitteln und andererseits ausreichend Freiräume zu schaffen, um Kreativität und Motivation nicht im Keim zu ersticken? Konrad Lehmann rät Eltern und Lehrern: „Fordern Sie die Kinder auf, darüber nachzudenken, wo ihr Spaß an einer missliebigen Sache liegt.“
Ganz ohne Unlustgefühle geht es nicht
Ganz ohne Unlustgefühle geht es aber doch nicht. „Die intrinsische Motivation kommt oft erst beim Tun“, sagt Rainer Holm-Hadulla.„Ich finde nur heraus, was mich weiterbringt und was mich glücklich macht, wenn ich mich darauf einlasse.“ Und dazu gehöre es nun mal auch, die Frustration zu ertragen, etwa einen bestimmten Gitarrengriff über Wochen zu üben. Oder sich einen schwierigen Text über mehrere Tage zu erarbeiten. „Unsere Welt ist nun mal komplex. Wir brauchen Menschen, die versuchen, auch komplizierte Sachverhalte zu verstehen. Nur so ist Innovation möglich.“
Lehrer und Eltern sieht der Kreativitätsforscher daher in der Verantwortung, die Kinder freundlich unterstützend zu begleiten und ihnen ein anregendes Umfeld zu bieten. „Eine musikalische Begabung wird sich nicht ausbilden, wenn ich nie ein Instrument in der Hand hatte. Eine mathematische Begabung entwickelt sich nur bei gutem Unterricht oder viel Anregung zu Hause.“ Gleichzeitig darf der Nachmittag aber auch nicht so durchgetaktet sein, dass keine Zeit zum Tagträumen bleibt. „Eltern sollten ruhig auch Langeweile zulassen“, empfiehlt Konrad Lehmann. „Sie ist die Sehnsucht nach etwas, das einen begeistern kann. Auch daraus entsteht Kreativität.“
Zum Weiterlesen
Mehr zum Thema Kreativität und zündende Ideen bieten diese zwei Bücher:
Auf eine spannende Suche nach dem Ursprung der Kreativität nimmt Konrad Lehmann seine Leser mit in seinem Buch „Das schöpferische Gehirn“. Springer, 24,99 Euro
Was macht Kreativität aus – und wie lässt sie sich entfalten? Darüber schreibt Rainer Holm-Hadulla in „Kreativität – Konzept und Lebensstil“. Vandenhoeck & Ruprecht, 25 Euro
Als großen Feind der zündenden Ideen sehen beide Experten den falschen Umgang mit digitalen Medien. „Das Internet ist natürlich eine riesige Wissensquelle“, räumt Holm-Hadulla ein. „Aber ich muss das, was ich recherchiert habe, anschließend auch dem kombinatorischen Denken überlassen, indem ich die Gedanken schweifen lasse. Durch aufregende neue Reize wird dieser kostbare assoziative Denkmodus jedoch unterbrochen.“ Wer in jeder kleinen Pause weitersurft oder chattet, gibt seinem Gehirn keine Gelegenheit zum Geistesblitz. Meist kommt der nämlich genau dann, wenn wir uns erst intensiv mit einem Problem beschäftigt haben und dann die Gedanken schweifen lassen. Am besten bei Routinetätigkeiten, die nicht unsere volle Aufmerksamkeit verlangen: beim Duschen, Aufräumen oder Spazierengehen – oder auch im Schlaf.
Richtig angewendet können digitale Medien die Kreativität jedoch auch fördern. Auch die Gläsel-Schule in Detmold setzt sie ganz selbstverständlich ein: Während die Musikgruppe im Anakonda-Raum ihr Lied einstudiert, produziert Filmemacherin Katinka Sasse mit einer Reihe von Kindern auf dem Tablet einen Stop-Motion-Film zum Thema Noten.
„Wie entsteht Kreativität?“ – Magazin SCHULE – Foto: cookie_studio/freepik