Wie Bildung gelingt – Besuch des Kinderkunsthauses München in der Kunsthalle
Denken & Diskutieren

Wie Bildung gelingt: ein Plädoyer für lebendige Vielfalt

Schulen achten viel zu wenig auf die lebendige Individualität der einzelnen Kinder. Damit Bildung gelingt, müssen Lehrkräfte ihnen vor allem Hilfe zur Selbstentwicklung bieten – und endlich ihre Lehrinhalte und Lernziele anpassen. Ein Essay von Ursula Forstner und Prof. Dr. Harald Lesch


„Ein bloß gut informierter Mensch ist der nutzloseste Langweiler auf Gottes Erde.“ (Alfred North Whitehead)

Die Bildung von Kindern und Jugendlichen ist ein uraltes Dauerthema. Ihre Institutionen, also die Schulen im weitesten Sinne, stehen unter öffentlicher Dauerkritik. Seit etlichen Jahren werden zu große Klassen, chronischer Lehrermangel, unzureichende Bildungsinhalte und ungleiche Bildungschancen angeprangert. Inzwischen steht sogar der Präsenzunterricht zur Diskussion – als Pandemietreiber. Dazu kommen die aktuellen Klagen über die verschlafenen Chancen der Digitalisierung. Schon diese wenigen Stichworte zeigen, welch unübersichtliches Gelände von historischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ausmaßen hier betreten wird. Die Gefahr, sich in Einzelthemen zu verlieren, ist groß. Deshalb möchten wir an dieser Stelle einen großen Schritt zurücktreten, die Perspektive wechseln und erst einmal fragen:

Worum geht es uns eigentlich, wenn wir von Bildung reden?

Wie Bildung gelingt. Ein Gespräch – Magazin SCHULE
Wie Bildung gelingen kann, diskutieren hier die Philosophin Ursula Forstner und der Physiker Harald Lesch. Ihr Ansatz orientiert sich an den erstaunlich aktuellen Essays des englischen Philosophen Alfred North Whitehead (1861-1947), erschienen 1929 in dem Sammelband „The Aims of Education and Other Essays“. Deutsche Übersetzung von Christoph Kann und Dennis Sölch: „Die Ziele von Erziehung und Bildung und andere Essays“ (Suhrkamp, 2012) Mehr dazu findet sich im Buch von Forstner und Lesch: „Wie Bildung gelingt. Ein Gespräch.“ (wbg Theiss 2020, 16 Euro)

Die Antwort ist denkbar einfach: Es geht uns um unsere Kinder. Doch so banal das klingen mag, es ist keinesfalls selbstverständlich: In keinem der großen Bildungsthemen unserer Zeit kommen Kinder und Jugendliche so vor wie sie sind, nämlich lebendig! Lernende sind alles mögliche: Kindergartenkinder, Vorschulkinder, Schüler und Schülerinnen, Studierende, Auszubildende; mal sind sie benachteiligt, mal privilegiert, mal hochbegabt, mal mit Förderbedarf. Damit Bildung gelingt, müsste sie daher die lebendige Individualität jedes einzelnen Kindes im Blick behalten. In der Realität gelingt das aber (noch?) viel zu selten. Beim Abarbeiten von übervollen Lehrplänen und der Durchführung von unzähligen Prüfungen stört Lebendigkeit und Individualität eher. Idealerweise sind in einem solchen System Kinder wundersame leere Gefäße: Oben füllt man Wissen ein, in der Hoffnung, dass unten Bildung herauskommt.

Erstes Bildungsziel: Hilfe zur Selbstentwicklung

Wenn wir unsere Kinder nicht nur zu möglichst reibungslos funktionierenden mechanischen Rädchen im Getriebe der Ökonomie machen wollen, müssen wir uns fragen, was wir ihrer Lebendigkeit und Individualität schuldig sind. Lebendiges ist niemals statisch, niemals passiv, es entwickelt sich, es ist aktiv; und Bildung hat den Zweck, die aktive Selbstentwicklung anzuregen und zu leiten. Das aber können nur Lehrende leisten, die selbst nicht verlernt haben, lebendig zu sein, und denen man erlaubt, lebendige Gedanken zu vermittelt und nicht nur totes Wissen. Das Korsett aus Lehrplänen und Leistungserhebungen lässt ihnen dafür aber nur wenig Raum.

Die Lehrpläne sind zu voll – zu viele Fächer, zu viel Stoff!

Unsere zentrale Forderung lautet daher: Weniger ist mehr! Spätestens das pandemiebedingte Homeschooling hat gezeigt: Die Lehrpläne sind zu voll – zu viele Fächer, zu viel Stoff! Was davon bleibt, ist ein bisschen von allem: Einige Bestandteile der Blüte, die eigentümliche Schreibweise von Camille Saint-Saëns, die Anzahl der europäischen Länder (oder doch nur die der EU?), unerklärlich viele Englischvokabeln für ‚Spielfeld’ und so weiter. Das ist passive Aufnahme von zusammenhanglosen Begriffen und keine Bildung, die zur Selbstentwicklung der intellektuellen Fähigkeiten anregt. Geboten wäre Folgendes: Beschränken wir die zentralen Ideen, die Kindern beigebracht werden, auf wenige, aber bedeutsame und lassen wir diese in allen möglichen Kombinationen durchspielen. Kinder sollten sich diese Ideen zu eigen machen und ihre Anwendung hier und jetzt verstehen mit Bezug zu ihrem unmittelbaren Leben und mit Freude am Entdecken.

Zweites Bildungsziel: Verstehen der Gegenwart

„Unterrichte nicht zu viel, und unterrichte das, was du unterrichtest, gründlich!“, so unsere Forderung. Aber wie kann entschieden werden, was bedeutsam ist und was weg kann? Bildung soll der Selbstentwicklung dienen, aber nicht als bloßer Selbstzweck, sondern mit dem Ziel, dass Persönlichkeiten heranwachsen, die sich in der Welt zurechtfinden, weil sie wesentliche Zusammenhänge verstanden haben, und so ihre Zukunft aktiv und verantwortungsvoll gestalten können. Bildung muss also weit über den ökonomischen Effekt hinaus nützlich sein. Das ist sie aber nur, wenn sie zum Verstehen der Gegenwart beiträgt, denn das ist es, was Kinder und Jugendliche interessiert: das Hier und Jetzt ihres unmittelbaren Lebens.

Wissen ohne Bezug zur Gegenwart ist sinnlos

Das bedeutet nicht, dass Wissen über die Vergangenheit unnütz ist, sondern nur, dass Wissen ohne Bezug zur Gegenwart keinen Sinn ergibt. Und wenn es im Leben einer 11-Jährigen in Süddeutschland keinen Bezug zu Nehrungen, Haffs und sonstige Küstenformen der Ostsee gibt, dann hat man für das Fach Geografie schon einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, was gegenwärtig keinen Sinn ergibt. Nur so entsteht Platz für das, was die Lernenden wirklich angeht.

Ja, der Umgang mit sozialen Netzwerken gehört hingegen zweifelsohne zum unmittelbaren Leben unserer Kinder und Jugendlichen und somit unbedingt in die Schulen. Aber nicht „zusätzlich“ sondern „anstatt“, sonst verkommt potentiell nützliches Wissen zu Informationsschnipseln fürs Kreuzworträtsel. Das Ergebnis wäre geistige Trockenfäule statt intellektueller Selbstentwicklung.

Bildung ist letztlich nichts anderes als die Kunst, sich Wissen nutzbar zu machen.

Diese Kunst zu vermitteln ist keine leichte Aufgabe. Das zentrale Problem dabei ist, Wissen gegenwärtig und lebendig zu halten. Das gelingt am besten, wenn folgende Faktoren berücksichtigt werden:

  • die Kompetenz der Lehrpersonen,
  • die intellektuellen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler,
  • ihre Aussichten im Leben und ihre Erwartungen an ihr Leben,
  • die Möglichkeiten, die von der unmittelbaren Umgebung der Schule geboten werden,
  • die Ausstattung der Schule usw.

Daraus ergibt sich eine lebendige Vielfalt, für die sich einheitliche Maßstäbe verbieten – also auch einheitliche Prüfungen! Normierte Messungen lassen sich an toter Materie durchführen, nicht aber am lebendigen menschlichen Verstand. Die Erweckung von Neugierde, von Urteilsvermögen, vom Vermögen, ein kompliziertes Gewirr von Tatsachen zu meistern, die Anwendung von Theorien in der Vorhersage bestimmter Sachverhalte – all das lässt sich nicht mit festen Lehrplänen, einheitlichen Lehrbüchern und vorgeschriebenen Prüfungsfächern vermitteln. Alles Lernen, alles Unterrichten muss im Hier und Jetzt stattfinden. Letztlich gibt es nur ein Fach, und das ist das Leben selbst in all seinen Facetten.

Mathematik sind nicht nur intellektuelle Kunststückchen

Unterrichtet man zum Beispiel Mathematik nur für die nächste Prüfung, dann folgt daraus nichts weiter. Dabei ist Algebra das intellektuelle Werkzeug, das geschaffen wurde, um die quantitativen Aspekte der Welt klar zu machen. Es ergibt wenig Sinn zu sagen, dass ein Land groß ist – wie groß? Wir können der Quantität nicht ausweichen. In der Corona-Pandemie kam niemand an Statistiken vorbei. Das ist Bestandteil unserer Gegenwart und auch die unserer Kinder und Jugendlichen. Aber welche Mathematiklehrerin, welcher Mathematiklehrer hat den Freiraum, seinen Schülerinnen und Schülern beim Verstehen all dieser Zahlen, Diagramme, Kurven, Inzidenzmaße und R-Werte zu helfen? Wäre das jetzt nicht wichtiger als die Binomischen Formeln? Die Lernenden müssen spüren, dass sie etwas Wirkliches und Lebendiges studieren und nicht lediglich intellektuelle Kunststückchen aufführen.

Kinderkunsthaus München – Holzwerkstatt – Wie Bildung gelingt
Phantasievoll werken, sich individuell kreativ ausdrücken: Das findet in den Schulen heute kaum statt. Wie groß das Bedürfnis danach ist, zeigen aber beliebte Angebte wie das Kinderkunsthaus München – während der Corona-Pandemie sogar digital. Das Aufmacherfoto dieses Artikels zeigt einen Besuch eines Kinderkunsthaus-Kurses in der Kunsthalle

Die Fächer Sport, Musik und Kunst wiederum wurden vielerorts im Rahmen der coronabedingten Schulschließungen komplett aufgegeben. Wenn Schule aber nur noch aus „Wissensfächern“ besteht, dann hat sie ihren umfassenden Bildungsauftrag, nämlich der Selbstentwicklung zu dienen, gründlich verfehlt. Schon in normalen Zeiten waren es oft diese weichen Fächer, die aus vielerlei Gründen immer wieder ausfielen. Doch kaum fanden sie wieder statt, wurden auch schon wieder Leistungsnachweise gefordert. Ein Widerspruch! Wozu Beweglichkeit, Freude am Singen oder Kreativität überhaupt bewertet werden müssen, sollte tatsächlich selbst noch einmal auf den Prüfstand.

Drittes Bildungsziel: Allgemeinbildung und Spezialisierung

Es kann keine allgemeine, für alle gerechte und faire Prüfung geben. Schon Kinder sind Spezialisten, darin manifestiert sich ihre lebendige Individualität. Wo die eine ein faszinierendes Thema sieht, kann der andere nur ein paar unzusammenhängende Beispiele finden. Leider lässt sich Unterricht nicht in einen Teil für fundierte Allgemeinbildung und einen anderen Teil für spezielle Kenntnisse zerteilen. Beides geht nahtlos ineinander über. Was Unterricht vermitteln muss, ist ein vertrautes Gespür für die Macht der Ideen, für die Schönheit von Ideen und für die Struktur von Ideen (Allgemeinbildung); zusammen mit einem bestimmten Wissen, das konkreten Bezug zum Leben des Lernenden hat (Spezialwissen).

Es kann keine allgemeine, für alle gerechte und faire Prüfung geben

Für das Geographie-Beispiel von oben könnte das bedeuten, dass die 11-Jährige am Ende der Lerneinheit eine fundierte Idee von den Prozessen hat, welche die Oberfläche unserer Erde formen (Allgemeinbildung). Also raus in die Landschaft vor der Tür! Lässt sich die Schülerin aus dem Alpenvorland für die Entstehung der oberbayerischen Seen begeistern, dann wäre das schon ein schönes Lernziel. Ob ihr Interesse an Geomorphologie weiter reicht, kann nur die Schülerin selbst entscheiden. Sollte sie nach dem nächsten Sommerurlaub wissen wollen, warum die Ostseeküste so und nicht anders geformt ist (Spezialwissen), weiß sie jedenfalls, welche Fragen sie stellen muss. Vielleicht wird sie ja sogar eine Expertin auf diesem Gebiet.

Was unterscheidet die Expertin vom Fachidioten? Vielseitigkeit!

Die Expertin unterscheidet sich ganz wesentlich vom Fachidioten, denn sie hat sich die wesentliche Tugend der Amateure bewahrt: deren immense Vielseitigkeit. Und tatsächlich bleibt eine gute Allgemeinbildung, die sich an den gegenwärtigen Lebensthemen orientiert, die Voraussetzung für Vielseitigkeit und Flexibilität. Wie gelangt man dorthin? Indem man den Bildungseinrichtung mehr Freiheit für ihr Angebot an Allgemeinbildung und Spezialstudien gibt in Übereinstimmung mit ihren Möglichkeiten. Abzulehnen sind Bildungseinrichtungen, die nur darauf zielen, die nächste (externe) Prüfung zu bestehen, sei es für den Übertritt an eine weiterführende Schule oder für den Zugang zu einer Hochschule.

Fazit: Mehr Mut zu Vielfalt und Lebendigkeit!

Unsere Forderungen stehen scheinbar im Gegensatz zu allen Rufen nach Vergleichbarkeit von Lerninhalten und Bildungsabschlüssen. Scheinbar, denn was unter „Vergleichbarkeit“ firmiert, ist oft nur der Ruf nach einfachen Kenngrößen (Noten), mit denen man Entscheidungen rechtfertigen will. Dabei ist selten klar, was diese Kenngrößen überhaupt bedeuten. Was heißt es, wenn Schüler X besser im bayerischen Zentralabitur abgeschnitten hat als Schülerin Y? Dass er nicht unbedingt der bessere Arzt wird, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Vielleicht wäre seine Bestimmung, ein begnadeter Pädagoge zu werden, das traut er sich aber nicht, weil das ein „verschenktes“ Einserabitur wäre.

In unserer hochkomplexen Welt mit all ihren gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und ökologischen Problemen kommen wir mit einfachen Antworten nicht sehr weit. Wir müssen die Komplexität zulassen von Anfang an, nämlich bei unseren Kindern und Jugendlichen. Das geht nur, wenn sie ihre individuellen Möglichkeiten voll ausschöpfen können. Dazu braucht es:

  • Freiräume und nicht übervolle Lehrpläne samt PISA;
  • Lehrerinnen und Lehrer, die begleiten und nicht (ver-)urteilen;
  • Schulen, die experimentieren dürfen und nicht bloß verwalten;
  • eine Lehrerausbildung, die phantasievolle Pädagogen hervorbringt und keine langweiligen Fachpauker;
  • so dass Kinder und Jugendliche lebendig bleiben und dabei ungestraft Fehler machen dürfen.

Das ist keine einfache Aufgabe. Sie erfordert viel Mut von den Entscheidungsträgern, viel Vertrauen in unsere Pädagogen – und unbedingtes Vertrauen in unsere Kinder!

„Wir dürfen nicht einfache Antworten auf weitreichende Fragen erwarten.“ (Alfred North Whitehead)



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