Frau Brosche, für viele Schülern bedeuten Zeugnisse Ärger. Kommt es vor, dass dabei Tränen fließen?
Bei den Größeren an meiner Mittelschule ist das selten, dafür muss schon jemand die Abschlussprüfung vergeigen. Anders ist das bei den Grundschülern in unserem Haus, vor allem in der dritten und vierten Klasse. Dort lastet schon ein wahnsinniger Druck auf den Kindern, dass der Übertritt an eine höhere Schule klappt. Wenn dann Noten schlecht ausfallen, ist da sehr schlechte Stimmung.
Druck ist dem weiteren Lernen ja nicht gerade zuträglich. Wie reagieren Eltern denn richtig auf ein schlechtes Zeugnis?
Es ist sehr leicht zu fordern, dann Druck rauszunehmen. Natürlich werden Noten durch Druck so gut wie nie besser, sondern meistens schlechter. Aber ich erinnere mich an meine eigenen Söhne, bei denen wäre ich auch gern jederzeit gelassen und vernünftig gewesen. Und trotzdem bin ich regelmäßig in leichte Panik verfallen, wenn ich dachte: Mensch, der hat’s doch drauf, und jetzt hat er trotzdem diese Probe vergeigt, und dann kippt die Note im Zeugnis.
Man kommt nicht leicht aus seiner Haut.
Eben. Als Pädagogin müsste ich raten, sich selbst und dem Kind zu sagen: Beruhige dich, ist doch alles nicht wichtig. Aber ein bisschen wichtig ist es eben schon, auf welche Schulform mein Kind nach der Grundschule kommt. Und wenn ich das so sehe, wird mir mein Kind das anmerken, auch wenn ich es nicht so sage.
Was kann ich stattdessen machen?
Einerseits möchte ich den Faulpelz natürlich wachrütteln
Grundsätzlich finde ich wichtig, dass Eltern Zuversicht signalisieren: Du wirst deinen Weg machen, und wir stehen dir bei. Klar, wenn ich da einen begnadeten Faulpelz vor mir habe, ist dessen Zuversicht vielleicht sogar größer als meine. Das ist dann eine echte Gratwanderung: Einerseits möchte ich den Faulpelz wachrütteln, andererseits können Schreckensszenarien bewirken, dass das Kind noch mehr Schwierigkeiten beim Lernen bekommt. Letztlich hilft nur Vernunft, und die bedeutet für mich: gelassen bleiben, stützen, stärken – auch auf anderen Gebieten. Nehmen Sie dem Kind nicht den Rest an Motivation, indem Sie es kleinmachen.
Welche anderen Gebiete meinen Sie?
Dinge, die mit Schule gar nichts zu tun haben. Jeder Mensch kann etwas gut, egal, ob das ein Musikinstrument ist oder Basteln oder ob sich jemand bei den Pfadfindern engagiert. So etwas verdient Wertschätzung, und die macht ein Kind oder einen Jugendlichen auch auf anderen Gebieten stark. Übrigens finde ich deshalb, dass Lehrkräfte ebenfalls nicht nur die unterrichtlichen Leistungen ihrer Schüler wahrnehmen sollten. Natürlich kann ich einem Kind keine bessere Note in Mathe geben, weil es zu Hause so schöne Autos bastelt. Aber wenn ich das weiß, sehe ich das Kind anders an und kann ihm eine andere Wertschätzung geben. Auch für die Lehrkraft sollte ein Schüler nicht nur Schüler, sondern Mensch sein.
Auf andere Dinge zu blicken hilft, Noten wieder zu verbessern?
Der Hype ums Zeugnis ist ja ein wenig künstlich
Ja, davon bin ich überzeugt. Vielleicht nicht sofort, aber auf Dauer, und das ist doch das Wichtige. Außerdem ist der Hype um so ein Zeugnis ja ein wenig künstlich: Das fällt schließlich nicht vom Himmel, sondern ist das Ergebnis eines halben Schuljahrs. Zwar erfahren Eltern oft nicht jede einzelne Note, aber eine Idee sollten sie schon haben, wo ihr Kind gerade steht. Und wenn nicht, können sie sich jederzeit von der Lehrkraft auf den neuesten Stand bringen lassen. Zwischen zwei Zeugnissen ein und desselben Kindes können schon mal Welten liegen, wenn sich da jemand wieder einkriegt.
Die Frage ist, wie wir es hinbekommen, dass sich der Jemand wieder einkriegt?
Die Frage ist: Will er oder sie das überhaupt? Ich habe wirklich alle Varianten schon gehabt: Mal will das Kind nicht so, wie die Eltern wollen, mal wollen beide bessere Noten, aber es klappt nicht. Und manchmal ist sogar das Kind ehrgeiziger als seine Eltern. Wenn nur die Eltern unzufrieden sind und das Kind mit seinen schulischen Leistungen eigentlich ganz glücklich ist, dann werden sie es nicht zu besseren Noten hinschimpfen oder hindrohen können, das funktioniert einfach nicht. Außerdem wollen Eltern doch nicht erreichen, dass ihr Kind nur unter Druck arbeitet.
Das klingt ein bisschen fatalistisch.
Nicht fatalistisch, sondern realistisch. Eltern können sehr wohl Impulse geben und ihrem Kind deutlich machen, dass sie ihm mehr zutrauen, als es im Moment zu leisten bereit oder in der Lage ist. Aber letztlich hat unser Einfluss Grenzen. Zeugnisse werden nicht dadurch besser, dass Eltern die Faulheit ihres Kindes beklagen und ihm sozialen Abstieg androhen. Im Laufe der Pubertät erholen sich die Noten oft, das Kind kann und will sich irgendwann wieder aufs Lernen konzentrieren. Wenn ich an mich als Mutter denke: Da hätte ich mir unzählige Worte sparen können, die mit Sicherheit mehr Unfrieden als Erfolg gebracht haben.
Einer meiner Söhne hatte einen echten pubertären Absturz
Es ist aber schon schwer zu ertragen, wenn man sieht: Mein Kind könnte, aber es hat schlicht keinen Bock und versaut sich so seinen Abschluss.
Zugegeben, hinterher redet es sich immer leicht. Einer meiner Söhne hatte einen echten pubertären Absturz und hat von einem Tag auf den nächsten nichts mehr für die Schule gemacht. Ein Lehrer hat mich damals gefragt, ob ich mir vorstellen könne, ihn wiederholen zu lassen. Ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, weil ich ihn für seine Faulheit nicht auch noch mit einem Jahr mehr Zeit belohnen wollte. Aber natürlich ist er trotzdem durchgefallen. Und tatsächlich: Ein Jahr später war er wieder bei sich und hat am Ende ein gutes Abitur gemacht.
Also doch mehr Gelassenheit wagen, anstatt wegen der Zeugnisse Ärger zu machen?
Ich habe wirklich noch nie gesehen, dass Noten dadurch besser geworden wären, dass der Druck erhöht wurde. Aber ich habe viele junge Menschen verzagen sehen. Bei meinem eigenen Sohn habe ich irgendwann bemerkt, dass mein ganzer Druck und mein Gezeter nur bewirkten, dass er sich immer weiter von mir entfernte. In dem Moment hat bei mir die Liebe gesiegt, und ich habe akzeptiert, dass er jetzt nun einmal so ist und mein Mann und ich ihn trotzdem weiter begleiten werden. So sind wir immerhin wieder ins Gespräch gekommen.
Wurden dann auch die schulischen Leistungen besser?
Überlegen Sie einmal: Wie waren Sie selbst damals mit 12, 14, 16 Jahren?
Ja, aber vielleicht wäre der Entwicklungsschritt sowieso gekommen. So etwas wird man nie wissen. Was man aber wissen kann: dass ein ramponiertes Eltern-Kind-Verhältnis und ein ramponiertes Kind-Selbstvertrauen bleibende Folgen hat. Ein kleiner, aber feiner Geheimtipp: Versetzen Sie sich einmal in Ihr Kind hinein und überlegen Sie: Wie war ich selbst damals mit 12, 14, 16 Jahren? Was ging in mir vor? Was würde mir an der Stelle meines Kindes jetzt guttun? Was würde ich mir von meinen Eltern erhoffen, wie würde ich erwarten, dass man mit mir umspringt? Versuchen Sie hinter dem mürrischen Null-Bock-Gesicht die verletzliche Seele zu sehen, die von Ihnen geliebt werden möchte – bedingungslos, sprich: ohne die Bedingung „gute Schulleistung“. Ich bin der Meinung – und das Leben hat mich schon oft bestätigt –, dass Kinder, die nicht fremdgesteuert durch die Schule gehen, viel eher zu einem leistungsbereiten, selbst gesteuerten Leben finden.
Und wenn das Kind doch auch selbst gern besser wäre?
Dann sind die Probleme lösbar. Wenn das Kind nicht über- oder unterfordert scheint, sollte man mit den Lehrern sprechen, durchaus auch die Schüler selbst. Es ist allein schon psychologisch wichtig zu signalisieren: Ich bin leistungsbereit, ich möchte mich verbessern. Da nimmt einen die Lehrkraft gleich ganz anders wahr. Vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, die Note durch eine mündliche Abfrage oder durch ein Referat zu verbessern. Und wenn die Schule kein individuelles Förderangebot hat, kann manchen Schülern zeitweise auch Nachhilfe durchaus helfen. Das gilt vor allem dann, wenn ein Kind große Lücken hat und Dinge schlicht noch nicht kann, die es längst können müsste. Da hilft es enorm, wenn sich jemand hinsetzt, um mit dem Kind in dessen Tempo diese Lücken wieder zu schließen.
Wenn Zeugnisse Ärger machen – Interview mit Heidemarie Brosche – Foto: Ulrich Wagner – Dieser Artikel wurde am 2.2.2018 erstellt und wird seitdem fortlaufend aktualisiert. Das Datum oben bezieht sich auf die jüngste Aktualisierung