Paul* sagt kein Wort. Als der Junge von der Schule nach Hause kommt, schütteln ihn Weinkrämpfe. Unter Tränen legt er seiner Mutter einen Vertrag vor, stammelt etwas von „letzter Chance“ und „Klasse wechseln“. Paul weint und zittert, kann kaum reden. Als sich der 12-Jährige am Abend noch immer nicht beruhigt hat, fahren seine Eltern mit ihm zum Kinderarzt. Der attestiert einen psychischen Ausnahmezustand. Durch Gespräche mit ihrem Sohn und der Schule rekonstruieren die Eltern in den folgenden Tagen, was geschehen ist: Paul wird ohne Vorwarnung aus dem Unterricht geholt. Nach einer Schulstunde Wartezeit ohne weitere Erklärungen wird er in ein kleines Besprechungszimmer gebracht, in dem seine Klassenlehrerin und zwei fremde Lehrer auf ihn warten.
Der Raum wird von innen verschlossen, dann konfrontieren ihn die Erwachsenen mit einer Liste seines angeblichen Fehlverhaltens. Paul soll den Unterricht gestört und Mitschüler beleidigt haben. Die Lehrer pochen auf eine Verhaltensänderung, drohen mit dem Wechsel in eine andere Klasse und lassen Paul einen Vertrag unterschreiben, in dem sieben weitere Treffen zur Kontrolle seines Verhaltens und Konsequenzen bei Verstößen festgelegt sind. Gleich fünfmal muss der Junge seinen Namen daruntersetzen.
Anschließend schickt man ihn zurück in den Unterricht. Er ist so verstört, dass in der Klasse das Gerücht umgeht, seiner großen Schwester sei etwas zugestoßen. Die Eltern kontaktiert die Schule nicht. Das letzte Gespräch mit der Klassenlehrerin liegt zu diesem Zeitpunkt ein halbes Jahr zurück. Pauls Klasse gilt als schwierig und unruhig, die Eltern suchten deshalb schon in der Vergangenheit den Kontakt zu Pauls Lehrern. Alle versicherten: Paul sei zwar sehr lebhaft, störe aber nicht mehr als andere Schüler auch. Die Lehrer versprachen, sich zu melden, sollte es Probleme geben. Doch weder vor noch nach dem Vorfall klingelt bei den Schneiders das Telefon.
Farsta bei einem Sechstklässler? Die Methode wendet man auch bei Kriminellen an
Die Methode, die bei dem Sechstklässler angewandt wurde, heißt Farsta. Sie ist nach einem Stadtteil im schwedischen Stockholm benannt und gilt als Härtefallmethode gegen Mobbing. Eingesetzt wird sie höchstens bei älteren Schülern, meist an Brennpunktschulen und auch nur dann, wenn mildere Methoden gescheitert sind. Aber nicht nur deshalb wirft die Anwendung bei dem 12-jährigen Gymnasiasten aus Baden-Württemberg Fragen auf. Abgesehen vom dem verheerenden Kommunikationsdefizit zwischen Schule und Eltern, das die Schulleitung inzwischen bedauert, ist eine andere Frage viel entscheidender: Warum kommt eine derart heftige Anti-Mobbing-Methode bei einem Schüler zum Einsatz, der nachweislich nicht gemobbt hat? „Sicher ist Paul kein Engel – aber um Mobbing ging es nie“, sagt seine Mutter Jana Schneider. Das bestreiten auch Lehrer, Schulleitung und Schulaufsicht nicht. Wie also kann es sein, dass Methode und Problematik so gar nicht zueinanderpassen? Warum muss ein kleiner Junge eine Methode über sich ergehen lassen, die sonst bei Kriminellen zur Anwendung kommt?
Stefan Drewes überraschen solche Geschichten nicht. Für den Vorsitzenden der Sektion Schulpsychologie des Berufsverbands deutscher Psychologen ist Pauls Beispiel zwar ein Extrem-, aber kein Einzelfall. „Im Verband werden wir öfter mit ähnlichen Geschichten konfrontiert“, sagt Drewes. Die Gründe dafür sieht er zum einen in der mangelnden Versorgung von Schulen mit Schulpsychologen, wie sie der Verband schon lange moniert. Zum anderen aber auch in den weit verbreiteten Wochenendseminaren und Workshops, in denen Lehrer psychologische Methoden erlernen, die aber natürlich keine fundierte Ausbildung ersetzen können. Ausgestattet mit dem Halbwissen der Seminare wandeln die Pädagogen die Methoden oft ab, wenden sie falsch an oder führen sie dilettantisch durch. Auch einer der beteiligten Lehrer in Pauls Fall hat kurz vor dem Vorfall ein solches Seminar besucht.
Stefan Drewes erzählt von Fällen, in denen Lehrer mit Fantasiereisen, Familienaufstellungen oder Intelligenz- und Persönlichkeitstests experimentiert haben. Sogar in Psychotherapie versuchen sich manche Pädagogen. Der Psychologe erinnert sich zum Beispiel gut an den Fall eines Neuntklässlers an einer Gesamtschule, dessen Lehrer sich in seiner Freizeit für Psychotherapie interessierte und auf diesem Bereich fortbildete. Schließlich begann der Pädagoge, die Probleme des Jungen in psychotherapeutischen Gesprächen zu erkunden. Erst in der Schule, später auch nachmittags in der Eisdiele. „Nicht nur, dass damit ein Abhängigkeitsverhältnis entsteht und der Lehrer seine Rolle verlässt – die Schule und die Eltern wussten auch lange nichts davon“, sagt Drewes. Die Situation zog Konflikte im Elternhaus nach sich, die Eltern kamen kaum noch an ihr Kind heran.
In seelischen Dingen wird gern mal gepfuscht – oft mit fatalen Folgen
Bereits im März 2012 warnte der Verband deutscher Psychologen in einer Pressemitteilung vor den Konsequenzen psychotherapeutischer Gespräche mit Schülern. „Psychotherapie ist das Mittel der Wahl bei einer psychischen Erkrankung, die sorgfältig zu diagnostizieren ist. Sie eignet sich nicht dafür, schulische und entwicklungsbedingte Probleme zu lösen“, heißt es darin. Abgesehen davon, dass solche Methoden nicht von Laien durchgeführt werden sollten, sieht der Verband auch die Gefahr, dass Schüler durch eine solche Vorgehensweise pathologisiert werden, obwohl sie vielleicht einfach nur in einer schwierigen Entwicklungsphase stecken.
Böse Absicht mag Drewes den Lehrern nicht unterstellen, sieht in solchen Fällen aber eine klare Kompetenzüberschreitung: „Viele wissen gar nicht, welche Schäden sie damit anrichten können.“ Wie unbedacht Pädagogen im Grenzbereich der Psychologie agieren, ärgert den Experten. „Niemand würde bei einer körperlichen Verletzung auf die Idee kommen, selbst einen medizinischen Eingriff vorzunehmen. Aber bei seelischen Dingen wird gern mal gepfuscht – mit mitunter fatalen Folgen.“
Für Paul waren die Folgen tatsächlich schwerwiegend: Der Junge zog sich zurück, weinte viel, war unsicher und schlief schlecht. Deshalb haben seine Eltern sich gewehrt. Es gab viele Gespräche und Schriftwechsel mit den beteiligten Lehrern und der Schulleitung, aber auch mit externen Experten und dem Landeselternrat. Enttäuscht vom Verhalten der Schulleitung wandte sich das Ehepaar Schneider schließlich an das zuständige Regierungspräsidium in Stuttgart und die örtliche Zeitung – mit beachtlichem Erfolg: Pauls Schule darf die Methode bis auf Weiteres nicht mehr anwenden, sie wurde aus dem Sozialcurriculum gestrichen. Außerdem will das Kultusministerium nun landesweit über die Gefahren konfrontativer Methoden wie Farsta informieren. Die Behörde betont, dass die Methode „hohe Anforderungen“ an die Anwender stelle und von „besonders erfahrenen und qualifizierten Experten begleitet“ werden müsse. Ein entsprechender Passus soll demnächst in eine offizielle Präventionsbroschüre aufgenommen werden. Die künftige Anwendung der Farsta-Methode knüpft das Präsidium zudem fortan an bestimmte Kriterien, darunter die umfassende Kommunikation mit allen Beteiligten und den Einsatz von Experten wie Schulpsychologen.
Die Schneiders haben also viel erreicht, die Konsequenzen ihrer Beschwerde reichen weit über den Fall ihres Sohnes hinaus. Der hat inzwischen die Schule gewechselt und kommt in der neuen Klasse gut zurecht. Trotzdem ist er oft noch traurig und unkonzentriert. Seit dem Vorfall ist ein Jahr vergangen, und langsam kehrt bei den Schneiders wieder etwas Ruhe ein. „Wir freuen uns über das, was wir erreicht haben, aber die Situation ist noch immer sehr belastend für uns und die Enttäuschung über das Verhalten der Schulleitung riesig – man könnte denken, die sind stolz darauf, was sie mit unserem Sohn gemacht haben“, sagt Pauls Mutter. Trotz der Erfolge warten die Schneiders deshalb immer noch auf eines: eine Entschuldigung für das Geschehen von Seiten der Schule.
*Name von der Redaktion geändert
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