Leseförderung besser machen – Magazin SCHULE
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Was in der Leseförderung schiefläuft – und wie es besser geht

Buchgeschenke, Lesenächte, Eltern in die Verantwortung nehmen: Viele Maßnahmen zur Leseförderung klingen sinnvoll, nutzen aber leseschwachen Kindern nicht. Wer ihnen wirklich helfen möchte, muss sich in ihre Perspektive hineinversetzen – und braucht dann Geduld, die richtigen Methoden und passenden Lesestoff


Mit dem Lesen ist es so eine Sache: Die einen lernen es ganz selbstverständlich und leicht – sogar noch vor Schuleintritt. Die anderen lernen es in der Schule, ebenfalls leicht und so, wie es der Lehrplan vorsieht. Und dann sind da noch die Kinder, für die sich das Lesen-Lernen nach Plage und Qual anfühlt. Für sie ist eine angemessene Leseförderung besonders wichtig.

Zur Autorin

  • "Ich rate zur Gelassenheit": Heidemarie Brosche

    Heidemarie Brosche ist Pädagogin und Autorin. Sie hat seit 1977 an Grund- und Hauptschulen gerade auch in Brennpunkten unterrichtet sowie zahlreiche Sach- und Kinder- und Jugendbücher verfasst. Für ihr Engagement für Leseförderung und Bildungsgerechtigkeit wurde sie 2020 mit dem „Volkacher Taler“ der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur geehrt. Mehr Info unter www.h-brosche.de

  • Heidemarie Brosches Buchreihe „Lesen mit Ella & Tim“ richtet sich an Erstleserinnen und -leser, die sich besonders schwertun mit dem Lesen. Sie erscheint im Verlag Edition Helden. Die Bücher sind in Comicform gehalten und orientieren sich am Bremer Erstleseindex BRELIX.

  • Für den Verlag Hase und Igel hat Heidemarie Brosche mehrere Kinder- und Jugendbücher in unterschiedlichen Lesestufen geschrieben. Darunter „Die blödeste Superkraft aller Zeiten“ und „Lucky Loser“, zu dem Brosche auch das Hörbuch eingesprochen hat.

Schwierigkeiten mit dem Lesen können Kinder aus den unterschiedlichsten Familien haben, denn es gibt unterschiedlichste Gründe, warum es nicht so recht klappen will. Manche Kinder finden das mit dem Lesen einfach nicht so prickelnd wie andere Tätigkeiten und tun sich gleichzeitig auch nicht so leicht damit. Weil das so ist, finden sie das Lesen-Üben besonders unschön. Und drücken sich davor. Mit dem Ergebnis, dass sie nicht schnell fließend lesen können. Wodurch das Lesen auch keinen Spaß macht. Und sie nur sehr langsam besser lesen lernen. Ein Teufelskreis, den viele Eltern und manche Lehrkräfte durch Druck beenden möchten. Aber Druck ist selten gut für einen nachhaltigen Lernzuwachs.

Neben „wenig Bock“ oder „nicht so begabt“ ist oft die Diagnose Legasthenie (Lese- und Rechtschreibschwäche bzw. –störung) eine Erklärung. Übrigens gibt es außer ihr noch eine Reihe anderer Beeinträchtigungen, die sich auf das Lesevermögen auswirken können, z. B. Aufmerksamkeitsdefizitstörungen (ADS/ADHS), Störungen beim Hören oder Verarbeiten von Gehörtem, nicht erkannte Sehschwächen, Wahrnehmungsstörungen oder Sprachentwicklungsstörungen. Hier hilft Expertenrat und -diagnostik, aber es ist wichtig, auch als Lehrkraft oder Elternteil diese Möglichkeiten im Hinterkopf zu haben, um den Rat überhaupt einzuholen.

Von lesefernen und lesefreundlichen Familien

Was neben diesen Erklärungen der Grund dafür sein kann, dass es mit dem Lesen-Lernen nur sehr schlecht klappt: wenn Kinder fernab von Lesen und Büchern aufwachsen. Solche Kinder und Jugendlichen leben in einer gänzlich anderen Welt als die, die selbstverständlich mit lesenden Erwachsenen und mit Büchern groß werden und dennoch keine Lust auf Lesen haben.

Die unterschiedliche Entwicklung beginnt schon kurz nach der Geburt. Bei den einen gibt es sehr bald Buchgeschenke: Knisterbücher aus Stoff, später Pappbilderbücher, dann Bilderbücher und irgendwann Kinder- und Jugendromane. Die Kinder beobachten von Anfang an, wie ihre Eltern lesen; sie hören gerne zu, wenn Mama oder Papa in angenehmer Atmosphäre vorliest; jederzeit liegt Lesestoff herum und bereit, für die Eltern wie für Kinder.

In lesefernen Familien schenkt man sich keine Bücher

In lesefernen Familien hingegen bekommen Kinder keine Buchgeschenke. Die Kinder beobachten ihre Eltern nicht beim Lesen. Die Eltern lesen nicht vor, und Lesestoff liegt auch nicht herum und bereit.

Kindern aus lesefernen Familien fehlt vieles, was man zum besseren Lesen braucht

Dies alles hat gravierende Folgen: Im Gegensatz zu Kindern aus lesefreundlichen Familien ist diesen Kindern das Vorlesen und Lesen nicht vertraut, sie haben keine positive Erwartungshaltung ans Lesen. Sie haben auch nicht gelernt, dass ihnen über das Vorlesen eine Geschichte „geschenkt“ wird, dass man sich auf diese Geschichte konzentrieren muss, dass es sich lohnt zuzuhören und dass man es schaffen kann, sich von anderen Reizen nicht ablenken zu lassen. Und natürlich haben sie auch die schöne Bindungssituation des Vorlesens nicht erlebt, konnten sie also auch nicht genießen. Ohne diese positiven Lese-Erfahrungen fehlen die freudige Erwartung, das selbstverständliche Leise-Sein, die Konzentration, das interessierte Zuhören beim Vorlesen in der Kita.

Oft kommt bei vielen dieser Kinder ein großes Sprach- und Wissensproblem hinzu: Fehlender Wortschatz, fehlende Grammatik und fehlendes Weltwissen bewirken, dass die geschriebene Sprache zu anspruchsvoll ist. So fällt es ihnen noch schwerer, dem Inhalt des Vorgelesenen zu folgen, sie verlieren schnell die Motivation und die Konzentration.

Leider kommen alle, die mit Leseförderung zu tun haben, genau aus der anderen Welt

Leider können sich erstaunlich viele Menschen, die mit Leseförderung zu tun haben, nicht so recht vorstellen, woran es bei lesefern aufwachsenden Kindern überhaupt hapert. Das hat den einfachen Grund, dass praktisch alle, die sich beruflich mit Leseförderung beschäftigen, genau in der anderen, der lesefreundlichen Welt leben. Das gilt für Lehrkräfte ebenso wie für Bibliothekare, für Lesepatinnen, Rezensenten und nicht zuletzt für Politikerinnen. Und dies treibt immer wieder Blüten, die gut gemeint, aber von ihrer Wirkung her ungünstig sind.

Buchgeschenke sind noch keine Leseförderung – und so manche Maßnahme schadet sogar

Da werden kostspielige Buchgeschenke gemacht – in der irrigen Annahme, dadurch würden diese Kinder zum Lesen motiviert. Dabei braucht es zum Geschenk auch noch eine angemessene Begleitung oder zumindest eine große positive Emotion. Ein geschenktes Buch alleine ist jedoch noch keine solche „große positive Emotion“: weil das Lesen in lesefernen Familien nun einmal kein besonderer Anlass zur Freude ist.

Oder man übt – wie auch immer gearteten – Druck auf die Eltern aus. Auf Eltern, die zum Teil selbst nicht gut oder gar nicht lesen können. Auf Eltern, die mit dem Thema „Lesen“ einfach nichts am Hut haben. Und die das auch nicht haben möchten, denn ist nicht genau das die Aufgabe der Schule, dass sie ihren Kindern das Lesen beibringt? Auf Augenhöhe, mit Beziehung, Wertschätzung und Hartnäckigkeit könnte man diese Eltern sicherlich ins Boot holen. Aber nicht mit einem „Sie müssen endlich …“!

Gut gemeint, schlecht gemacht: 3 beliebte Maßnahmen, die leseschwachen Kindern eher schaden

  • Vorlesewettbewerbe sind eine wundervolle Chance für gute Leserinnen und Leser, ihr Können zu zeigen. Wer nicht gut lesen kann, dem bleibt jedoch nur das Staunen – und die Scham, dass man selbst kaum einen Satz fehlerfrei vorlesen kann.

  • Lesenächte veranstalten viele Einrichtungen, um gemeinsam in gemütlicher Atmosphäre das Lesen zu feiern. Leseschwache Kinder bekommen dann hautnah vorgeführt, wie die anderen mit ihren Augen über die Seiten fliegen, während sie selbst noch in der zweiten Zeile stecken. Kein Wunder, dass ihnen bald die Lust vergeht und sie sich lieber anderen Aktivitäten zuwenden – woraufhin sie als Störer gemaßregelt werden. Was sie dabei lernen: Lesen ist etwas für die anderen, ich störe dabei nur.

  • Lesebingo, Blitzlesen und ähnliche Spiele sind wie Bundesjugendspiele fürs Lesen: Die guten Leser gewinnen, die langsamen bekommen vorgeführt, dass sie einfach schlechte Leser sind.

Tatsächlich haben viele Maßnahmen zur Leseförderung sogar einen gegensätzlichen Effekt auf schwache Leserinnen und Leser. Dazu gehören auch die beliebten Lesenächte oder Vorlese-Wettbewerbe (s. Liste). Solche Aktionen können natürlich durchaus einen Nutzen haben – aber eben nicht für leseferne Kinder. Deswegen ist es wichtig, sich zu überlegen, welche Kinder eine Maßnahme überhaupt fördern soll (auch Begabtenförderung ist ja wichtig, aber eben nicht gleichzusetzen mit der Förderung leseschwacher Kinder). Um Leseförderungsmaßnahmen zu vermeiden, die das Gegenteil des Erwünschten bewirken, sollten die Verantwortlichen daher jede einzelne Aktion auch aus der Perspektive der lesefernen Kinder betrachten. Falls denen nur wieder ihre „Lücken“, ihr Unvermögen vor Augen geführt werden, dann: Achtung!

Krippe und Kindergarten wären so wichtig für die Leseförderung. Aber leider: keine Zeit

Ohnehin werden die Grundlagen für besseres Lesen wie erwähnt weit vor dem ersten Schultag gelegt. Daher sollte in Sachen Leseförderung schon viel früher die große Stunde von Krippe und Kindergarten schlagen. Hier könnte am Füllen der Lücken gearbeitet, hier könnten die fehlenden Erfahrungen gemacht werden – durch einfaches Erzählen, z. B. auch mithilfe des Erzähltheaters Kamishibai, durch sanftes Hinführen zum Vorlesen, immer wieder und immer wieder, durch angemessene Erklärungen, durch Geduld.

Kamishibai – erzählen mit Bildern

  • So funktioniert’s: Beim Erzähltheater „Kamishibai“ werden bebilderte Karten in einen bühnenähnlichen Rahmen gesteckt und nacheinander herausgezogen. Dadurch wird immer das nächste Bild auf der Bühne sichtbar. Entlang dieser Bilder erzählt der oder die Vortragende eine Geschichte – ein bisschen wie bei einer PowerPoint-Präsentation, nur viel schöner und spannender. Vor allem jüngere Kinder bis in die Grundschule hinein folgen solchen Geschichten meist gerne – und können auch selbst welche gestalten.

  • Da kommt’s her: Kamishibai bedeutet wörtlich übersetzt „Papiertheater“. Es wurde vermutlich im 10. Jahrhundert n. Chr. von japanischen Mönchen entwickelt, um damit religiöse Inhalte zu verbreiten. In der Mitte des 20. Jahrhunderts waren Kamishibai eine populäre Kunstform. Noch heute sieht man dort mancherorts auf der Straße noch Papiergeschichten-Erzähler.

Leider stehen dem ein großer Personalmangel und manchmal auch wenig Einsicht in die besonderen Bedürfnisse von Kindern aus leseferner Umgebung entgegen. Und so sind Kinder aus lesefernen Familien allzu oft selbst nach jahrelangem Kita-Besuch beim  Schuleintritt immer noch lesefern. Spätestens von da an sind sie enorm im Nachteil.

Die Tücken des Leselernprozesses

Denn das Leseverstehen kann ja nur funktionieren, wenn zwei Dinge zusammentreffen: erstens die Fähigkeit, den Buchstaben und Buchstabenkombinationen Laute zuzuordnen und so Wörter entstehen zu lassen, und zweitens das Wissen, was die Wörter oder zum Beispiel auch Redensarten bedeuten. Selbst wer fließend lesen kann, muss einen Text also noch lange nicht verstehen. Und trotz großen Weltwissens und Sprachreichtums ist es möglich, dass ein Text nicht verstanden wird, wenn die einzelnen Wörter zu langsam entziffert werden. Trifft beides zusammen – schlechtes Entziffern von und wenig Wissen über Wörter –, dann sieht es besonders schlecht aus.

Leider geraten Kinder mit Problemen beim Lesen-Lernen in der Schule recht schnell ins Hintertreffen, denn oft sind die individuellen Fördermöglichkeiten – vor allem angesichts des herrschenden Personalmangels – begrenzt. So kommt es, dass ausgerechnet diejenigen, die sich besonders schwer mit dem Lesen tun, im Laufe der Grundschulzeit nicht selten „hinten runterfallen“ – schließlich müssen ja die leistungsstarken Kinder fit für den Übertritt an die weiterführende Schule gemacht werden.

Oft übersehener Einflussfaktor: das Leseselbstkonzept

Was bei der Leseförderung auf keinen Fall übersehen werden darf, ist das Leseselbstkonzept. Wenn ein Kind ein negatives Bild von sich selbst in Bezug auf das Lesen hat, kann das eine fatale Gedankenkette auslösen:

Ich bin nicht gut im Lesen.
Ich lese nicht gern.
Ich bin einfach kein Leser.
Lesen ist doof.
Ich lese freiwillig gar nichts mehr.

Diese Entwicklung sollte mit allen Mitteln verhindert werden. Eben dadurch, dass immer auch bedacht wird, wie sich diese oder jene Maßnahme auf das Leseselbstkonzept aller Kinder auswirken kann. Und auch dadurch, dass Lernfortschritte sichtbar gemacht werden. Das kann recht einfach über das Messen der richtig gelesenen Wörter pro Minute (WpM) erfolgen: Das Kind liest dabei einen altersgemäßen Textabschnitt eine Minute lang vor, die Lesefehler werden markiert, wobei als Lesefehler falsche Aussprache, Ersetzungen, Wortumstellungen, Wortauslassungen, fehlende Endungen und falsche grammatikalische Formen zählen. Bei Selbstkorrektur wird kein Lesefehler angestrichen. Am Ende werden die fehlerfrei gelesenen WpM gezählt.

Über einen längeren Zeitraum kann so wunderbar der Lesefortschritt sichtbar gemacht werden. Hier findet sich eine genauere Erklärung des Verfahrens. Wenn Kinder so feststellen können, dass es sich lohnt zu üben, ist das ein wirksamer Motivator.

Ohne Leseflüssigkeit kein Leseverständnis!

Wie groß die Bedeutung der Leseflüssigkeit fürs Leseverständnis und die Freude am Lesen ist, kann jeder feststellen, der notgedrungen einen Text nicht einfach – wie gewohnt – automatisiert lesen kann, sondern sozusagen entziffern muss. Kleiner Test gefällig? Dann bitte die folgenden Zeilen von rechts unten nach links oben lesen!

.reih eiw os – nessüm nreffiztne ebatshcuB rüf ebatshcuB txeT nenie lamnie riw nnew ,tsre riw nekremeb ,theg sad rellenhcs leiv eiW .seznaG sla retröW nennekre nrednos ,nebatshcuB enleznie rhem thcin riw nessafre leipsieB muZ .ba hcsitamotua egniD eleiv iebad nefual ,nesel txeT nenie reseL etbüeg nneW

Ganz ehrlich: Wer wusste nach dem Lesen gleich genau, was dort steht? Tatsächlich gilt: Ohne Leseflüssigkeit keine Leseverständnis! Und hier hapert es bei vielen Kindern. (Hier ist ein ausführliches Video dazu.)

Zu einer guten Leseförderung gehören zwei Seiten

Wie also kann es gelingen, auch leseschwache Kinder zu fördern, ohne dabei die lesestärkeren zu langweilen? Das gelingt mit Methoden, die auf die individuellen Fähigkeiten des einzelnen Kindes Rücksicht nehmen – und mit einer sinnvollen Auswahl des Lesestoffes.

Beim Lesen im Chor fallen Fehler nicht so auf

In der Grundschule sind vor allem Lautleseverfahren geeignet, Kinder mit unterschiedlichen Lesefähigkeiten innerhalb einer Klasse zu fördern. Zu den erprobten Verfahren gehört zum Beispiel das Tandemlesen, bei dem ein lesestärkeres Kind (der „Trainer“ oder die „Trainerin“) und ein leseschwächeres Kind („Sportler“ bzw. „Sportlerin“ genannt) gemeinsam einen Text halblaut vorlesen. Ähnlich funktioniert das chorische Lesen, bei dem dies im ganzen Klassenverbund passiert sowie das hörtextbegleitete Lesen, bei dem währenddessen ein Hörtext etwa aus einem Hörbuch mitläuft. Alle diese Methoden haben den Vorteil, dass sie sich auf die Fähigkeiten der Kinder hin anpassen lassen und dass leseschwächere Kinder nicht bloßgestellt werden. Sie können sich ein Stück weit im Chor mit den anderen verstecken, lernen aber gleichzeitig mitzuhalten.

Die zweite Seite ist für die Leseförderung jedoch mindestens genauso wichtig: Die Lehrkräfte müssen ihren Schülerinnen und Schülern auch Lesestoff zur Verfügung stellen, der buchstäblich angemessen ist, sprich: der zum jeweiligen Kind und seinem aktuellen Können passt.

Mehr als sechs Buchstaben pro Wort und sechs Wörter pro Satz können ziemlich lang sein

Der Lesedidaktiker Hans Brügelmann hat die Hürden, vor denen leseschwache Kinder stehen, so beschrieben: „… Andere dagegen drohen zu scheitern, weil sie zu selten erleben, dass sich das mühsame Erlesen lohnt. Sie scheitern an unbekannten oder mehrsilbigen Wörtern, an Konsonantenhäufungen, mehrgliedrigen Graphemen, seltenen Buchstaben oder an zu langen Sätzen und können deshalb dem Gelesenen auch keinen Sinn zuordnen.“

Tatsächlich kann ein Satz mit mehr als sechs Wörtern bzw. ein Wort mit mehr als sechs Buchstaben für Kinder, die sich mit dem Lesen schwer tun, schon ganz schön lang sein. Im Wissen um diese Hürden haben Brügelmann und seine Kollegin Erika Brinkmann den Bremer Erstleseindex BRELIX entwickelt, der folgende Aspekte berücksichtigt:

  • Schriftart und Schriftgröße
  • Anzahl der Seiten pro Buch
  • Anzahl und Schwierigkeitsgrad der Sätze pro Seite
  • Anzahl und Schwierigkeitsgrad der Wörter pro Satz
  • Seitengestaltung/ Layout
  • inhaltlicher Textbezug der Illustration

Wer diese Analyse für seinen Anwendungsfall zu komplex findet, kann andere, weniger differenzierte Programme nutzen, mit deren Hilfe sich der Schwierigkeitsgrad von Texten recht einfach bestimmen lässt. Das sind zum Beispiel der Lesbarkeitsindex LIX nach Carl-Hugo Björnsson, das Regensburger Analysetool für Texte RATTE und der von Rudolf Flesch entwickelte Flesch-Index.

Die Crux mit dem Lesealter

Wie schön wäre es, wenn man sich zu 100 Prozent an den Altersangaben der Verlage orientieren könnte, wenn es um die passende Lektüre geht! Doch leider sind diese Angaben meist wenig hilfreich – und sie können es auch gar nicht sein.

Die einen lesen schon dicke Schinken, die anderen noch Erstlesebücher

Das geht schon damit los, dass wie erwähnt manche Kinder schon vor dem Schuleintritt lesen können und andere kaum je ein Buch in den Händen hatten. Und selbst unter denen, die mit dem Schuleintritt gleichzeitig mit dem Lesenlernen beginnen, sind die einen noch Fünf und die anderen längst Sieben. So klafft bereits ab dem 2. Schuljahr eine Riesenlücke zwischen der einen Zweitklässlerin und dem anderen Zweitklässler. Die einen lesen bereits dicke Schinken, die anderen arbeiten sich immer noch an den allerersten Erstlesebüchern ab. Auch die Angabe „2. Schuljahr“ ist mit Vorsicht zu genießen. Ist hier Anfang oder Ende des 2. Schuljahres gemeint? Es wäre ja durchaus wünschenswert, dass sich da im Laufe eines Schuljahres etwas weiterentwickelt hat. Es hilft einfach nichts, man muss genau hinsehen – sonst ist es eben keine „angemessene“ Lektüre.

Das gilt übrigens nicht nur für die ersten Lesejahre: In einem lesenswerten Artikel weist die Übersetzerin Julia Süßbrich darauf hin, dass auch viele ältere Kinder und sogar Jugendliche noch Bücher „mit speziellem Layout, linearer Erzählweise, geringem Textumfang und eher einfacher Sprache“ brauchen. Das ist beim Übersetzen von Kinder- und Jugendbüchern ein Problem, denn zum Beispiel englische Wörter oder zusammengesetzte Begriffe sind oft viel kürzer und einfacher gebaut als die entsprechenden Wörter in deutscher Sprache. Aus der Warte eines jungen Lesers, der noch leicht aus dem Lesefluss gebracht wird von Wörtern mit mehr als fünf, sechs Buchstaben oder Konsonantenknubbeln am Wort- oder Silbenanfang, womöglich gar in Wörtern, die es noch nicht kennt, seien das schon mal Buchstabenmonster, sagt Süßbrich und liefert gleich eine Kostprobe: Soll sie das einfache „jam tart“ als „Törtchen mit Marmeladenfüllung“ oder als „Marmeladen-Törtchen“ korrekt übersetzen oder die Hauptfigur ersatzweise einen „Keks“ naschen lassen?

Wer nach angemessenen Kinder- und Jugendbüchern für junge Menschen sucht, die sich noch immer nicht ganz leicht mit dem Lesen tun, sollte in Frage kommende Lektüre daher nach Buchstabenmonstern durchsuchen und dann den Büchern den Vorzug geben, in denen nicht so viele „Bücherschränke“, sondern eher „Regale“ Erwähnung finden.

Was einen nicht interessiert, liest man nicht gern

Angemessen sollte eine Lektüre aber auch von der Thematik her sein. Jeder Erwachsene, der schon mal ein Buch geschenkt bekommen hat, das ihn so gar nicht interessiert, weiß um die Motivation, die von einem solchen Buch ausgeht. Man legt es in die Ecke und würde es am liebsten weiter verschenken. Deshalb sollte auch das Thema zum Kind passen, damit nicht ein Großteil an Motivation schon vor Lektürebeginn verloren geht. Das bedeutet übrigens auch, die eigenen Vorlieben zurückzunehmen: Der Versuch, ein leseschwaches Kind über ein Buch an ein Thema „heranzuführen“, geht fast immer schief.

Das Thema muss zum Kind passen – nicht zu den Eltern

Die Auswahl der angemessenen Lektüre ist nicht einfach, daran ist nicht zu rütteln. Aber wer die Kriterien Schwierigkeitsgrad und Thematik ernst nimmt und das angegebene Lesealter nur als grobe Orientierung zu nutzen weiß, ist auf einem guten Weg.

Auch bei Jugendlichen ist Vorlesen noch wertvoll

Und noch ein Tipp zum Schluss: Auch in höheren Klassen ist das Vorlesen noch wert- und sinnvoll. Und zwar gerade bei den Kindern und Jugendlichen, denen das Selber-Lesen (noch) nicht so leichtfällt. Zwar meinen Lehrkräfte gerne, für Leseförderung sei in höheren Klassen nun wirklich keine Zeit mehr. Aber das gemeinsame Vorleseerlebnis – egal ob zu Hause oder in der Schule – ist mehr als das: Es schafft zusätzlich Gemeinsamkeit und Bindung. Und es liefert denjenigen Zuhörenden, die aufgrund ihres Lesevermögens selbst nur einfache Texte bewältigen können, eine anspruchsvollere Sprache und Einblicke in Lesewelten, die sie sich alleine (noch) nicht verschaffen könnten.

Ich werde nie vergessen, wie angenehm die Atmosphäre im Klassenzimmer – auch in problembeladenen Klassen – immer wurde, wenn ich uns allen die Zeit fürs Vorlesen gönnte. Kein Wunder, denn das gemeinsame Lachen, das gemeinsame Mitfiebern, das gemeinsame Erleben tat uns allen gut. Und ich konnte mein schlechtes Gewissen, weil ich ja „nur“ vorgelesen hatte, auch damit beruhigen, dass das Vorlesen eine astreine sprachliche Förderung war.

 

Besser lesen lernen: Was in der Leseförderung schiefläuft – und wie es besser geht“ – Fotos: Freepik / Privat / Verlage



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