Mein Kind fühlt sich gerade so schlapp! Wir haben uns schon die erste Erkältung eingefangen! Dies Sätze hören Apotheker von Kiel bis Garmisch ab sofort wieder häufiger. Die Sonne lässt sich immer weniger blicken, es „herbstelt“ merklich. Bald wird es morgens, wenn es zur Schule geht, noch dunkel sein. Und wenn nachmittags die Hausaufgaben endlich erledigt sind, bleibt nur wenig Zeit bis zur Dämmerung. Gerade in den Herbst- und Wintermonaten helfen besorgte Eltern gern nach: mit Vitamin C für die Abwehr. Vitamin E gegen Erschöpfung. Vitamin B für gute Nerven. Alles hübsch verpackt in Gummibärchen, Kautabletten, Trinkampullen oder Granulat, das auf der Zunge bitzelt. Nur: Ist es sinnvoll, Kindern und Jugendlichen regelmäßig einen Vitaminkick zu verpassen? Ist es wirklich so schwierig, sich ausgewogen zu ernähren? Und selbst wenn man das tut: Steckt in unserer Nahrung zu wenig drin?
Das besorgte Argument, unsere Lebensmittel seien nicht mehr so gesund wie früher, kennt auch Achim Bub, Mediziner am Bundesforschungsins-titut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe. In den übersäuerten Böden finden die Pflanzen weniger Mineralstoffe, die sie aufnehmen können. Dazu kommen Züchtung und Anbau, die nicht auf Nahrhaftigkeit setzen, sondern auf schnell, groß und süß. Ebenso die unreife Ernte, der Transport, die Lagerung. „Natürlich hat all das Einfluss auf die Nährstoffdichte“, so Bub. „Eine hellrote Tomate aus Spanien ist nicht so gehaltvoll wie eine tiefrote, die soeben vom Bauern nebenan gepflückt wurde.“ Dennoch besteht für ihn kein Grund zur Sorge. An seinem Institut wurden bereits Tonnen an Obst und Gemüse untersucht, „die wissenschaftliche Datenlage widerlegt das Märchen vom Vitaminschwund bei Obst und Gemüse“. Für den Mediziner lenkt die Diskussion über die Qualität vom eigentlichen Problem ab. Entscheidend sei nicht, ob die heutigen Obst- oder Gemüsesorten weniger Vitamin C, Calcium, Kupfer oder Thiamin enthielten: „Entscheidend ist, dass überhaupt genug Obst und Gemüse gegessen wird.“
Keine Pille kann eine ungesunde Lebensweise ausgleichen
Doch wie viel Obst ist genug? Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat vor 14 Jahren die Gesundheitskampagne „5 am Tag“ ins Leben gerufen – und damit auch für Missverständnisse gesorgt. „5 am Tag“ bedeutet nicht, sich fünfmal am Tag einen Berg Salat oder eine ganze Melone einverleiben zu müssen. Ausreichend sind fünf Portionen, wobei eine Portion so groß sein sollte wie die eigene Hand. Bei einer Frau passt eine mittelgroße Orange hinein, bei einem sechsjährigen Kind vielleicht zwei, drei Schnitze. Außerdem: Nicht nur Obst zählt, sondern auch die Gurken- und Tomatenscheiben im Sandwich. Saft ist auch okay. „Eigentlich ist das zu schaffen“, so Bub.
Sind Vitaminpillen also grundsätzlich überflüssig? Laut der internationalen Studie „Health Behaviour in School-Aged Children“ aus dem Jahr 2010 haben vor allem die Jungs mit zunehmendem Alter immer weniger Lust auf Gurke, Trauben und Co. Bei den Fünftklässlern greifen 20 Prozent mehrmals täglich zu, bei den Neuntklässlern sind es nur noch 12 Prozent. Dennoch gibt es laut Helmut Heseker, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, „keinen Hinweis darauf, dass unsere Kinder mangelernährt sind, sie brauchen keinen Zusatz“. Das Einzige, was Heseker gelten lässt: Wenn Kinder wirklich schlechte Esser sind, Obst und Gemüse grundsätzlich ablehnen oder mit Diäten angefangen haben, könne man ihnen täglich ein, zwei Gläser Multivitaminsaft und calciumreiches Mineralwasser geben. Ina Bockholt, Ernährungsexpertin bei Stiftung Warentest, sieht das ähnlich. 2008 und 2013 hat die Verbraucherorganisation handelsübliche Supplemente für Kinder untersucht. Das Fazit von beiden Testreihen: überflüssig. Es gab keinen Hinweis darauf, dass isolierte, künstliche Vitamine, Mineralstoffe oder Spurenelemente einen relevanten, gesundheitssteigernden Effekt hätten. Mitunter seien sie riskant, weil bestimmte Nährstoffe in einigen Präparaten auch überdosiert sein können. Kombiniert mit Kinderlebensmitteln wie Cerealien, Brotaufstrichen und Fruchtquark, die ebenfalls angereichert sind, „kann das dann viel zu viel sein“, so Bockholt. Der Verein für unabhängige Gesundheitsberatung in Wettenberg kommt zu dem Ergebnis, dass ein Kind allein durch den Verzehr von fünf angereicherten Kinderlebensmitteln bei den Vitaminen E, C, B1, B2, B12, Niacin, Pantothensäure und Folsäure auf das Zwei- bis Dreifache der empfohlenen Tagesdosis kommen könnte, bei Vitamin B6 und Biotin auf das Siebenfache. Die Experten sind sich einig: Nahrungsergänzungsmittel sind für gesunde Kinder unnötig.
Vitamin C Der Stoff für ein starkes Immunsystem. Doch laut Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) können Vitamin-C-Pillen Erkältungen weder verhindern noch signifikant verkürzen. Nur Menschen, die viel Sport treiben, scheinen von einem Extra zu profitieren. Natürliche Lieferanten: Kiwi, Zitrusfrüchte und Paprika. Calcium Das Münchner Osteoporose-Zentrum empfiehlt eine zusätzliche Dosis. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung nicht. Der Mineralstoff steckt nicht nur in Milchprodukten, sondern auch in Grünkohl, Brokkoli, Mandeln, Sesam, Petersilie, Datteln und calciumreichem Mineralwasser. Zu viel Calcium kann zu Nierensteinen führen, diskutiert werden auch Herzkrankheiten und Prostatakrebs. Der häufigste Grund für Calcium-Mangel ist Vitamin-D-Mangel. Omega-3-Fettsäuren Sollen gut fürs Gehirn sein. Doch das Netzwerk Cochrane Collaboration hat keinen Beleg dafür gefunden, dass auch Kapseln die Konzentration steigern. Eisen Mädchen sind oft schlechter versorgt als Jungs, weil sie durchschnittlich weniger Fleisch essen und mit der Periode eisenhaltiges Blut verlieren. Dennoch empfiehlt das BfR keine Selbstmedikation. Diskutiert werden Vergiftungserscheinungen in Leber, Bauchspeicheldrüse, Herz, Hirnanhangdrüse und den Gelenken. Natürliche Quellen: Fleisch, Geflügel, Fisch. Vegetarier sollten Eisenlieferanten wie Haferflocken oder Hülsenfrüchte mit Vitamin C kombinieren, es sorgt für eine bessere Verwertung. Jod Zu wenig ist schlecht, zu viel auch. Experten empfehlen deswegen keine Jodtabletten (außer vielleicht bei Kindern aus „Kropffamilien“), dafür zweimal pro Woche Seelachs, Scholle, Schellfisch oder Kabeljau, dazu Milchprodukte und jodiertes Speisesalz. Vorsicht bei Algen, laut Stiftung Warentest kommen sie mitunter auf „extrem hohe Werte“. Folsäure Wird derzeit explizit nur für Frauen empfohlen, die schwanger werden wollen. Alle anderen greifen lieber zu grünem Blattgemüse, Spinat, Tomaten, Paprika, Vollkornprodukten, Kartoffeln und Nüssen. Vitamin A und E Wenn schon Supplemente, dann nur Präparate, die hier die empfohlene Tagesdosis nicht übersteigen. Der Körper scheidet die fettlöslichen Vitamine nicht über den Urin aus, sondern lagert sie ein. Zu viel Vitamin A macht die Knochen brüchig, zu viel Vitamin E führt zu Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen.Der kleine Ernährungsberater
Seit dem 14. Dezember 2012 ist es verboten, mit solchen Aussagen zu werben. Satt Makrele, Lachs und Hering gehen auch Lein-, Raps- und Walnussöl.
Vielleicht mit Ausnahme von Vitamin D. Der Stoff ist vor allem für den Knochenaufbau wichtig, ein Mangel wird aber auch mit anderen Krankheiten in Verbindung gebracht. Menschen können Vitamin D über die Nahrung nicht ausreichend aufnehmen – wir brauchen dafür Sonnenlicht. In unseren Breiten schwierig, zumal zwischen Oktober bis März zu wenig UVB-Strahlung auf die Erde kommt. Oft raten Ärzte daher, im Frühling und Sommer oft genug rauszugehen, damit die Vitamin-D-Synthese über die Haut funktioniert und der Körper für die trüben Monate genügend speichert – zwei- bis fünfmal pro Woche, ohne Sonnencreme und je nach Hauttyp zwischen fünf und 30 Minuten mit unbedecktem Kopf, freien Armen und Beinen.
Clemens Kunz, Professor für Ernährung des Menschen an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, hält solche Empfehlungen für „nicht umsetzbar und wenig sinnvoll“. Er bezweifelt auch, dass der Aufbau von Speichern wirklich funktioniert. „Die schlechte Versorgung der Bevölkerung vor allem im Winter spricht für mich dagegen.“ Besonders niedrige Werte haben laut der Gesundheitsstudie „KiGGS“ bei den Jungen die 14- bis 17-Jährigen, bei den Mädchen die elf- bis 13-Jährigen. Ihre Vitamin-D-Werte liegen deutlich unter der Empfehlung. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin rät, die Rachitisprophylaxe aus dem ersten Lebensjahr zumindest für Kinder, die zu wenig an der Sonne sind, fortzusetzen und ihnen 400 Einheiten pro Tag zu verabreichen. Wer wirklich sichergehen möchte, macht einen Bluttest beim Kinderarzt.
Keine Pille aber kann eine ungesunde Lebensweise ausgleichen – ebenso wenig wie Vitaminzusätze falsche Ernährung. Obst und Gemüse enthalten neben den Vitaminen schätzungsweise 10 000 andere Stoffe, deren Wirkung noch nicht erforscht ist, die aber möglicherweise viel bedeutsamer sind. Und mindestens genauso wichtig: Bewegung. Licht tanken. Zeit für Ruhe und Erholung. Ausreichend Schlaf. Dafür bietet keine Pille Ersatz.