Denken & Diskutieren

Zu früh für Mathe

Rettet die Traumtänzer: Viele Argumente sprechen für einen späteren Unterrichtsbeginn. Aber nur die wenigsten Schulen wollen sich darauf einlassen. Dabei ist chronischer Schlafmangel eine echte Teenager-Krankheit


Manchmal reichen 45 Minuten, um ein ganzes Leben zu verändern. „Steh jetzt auf!“, „Zieh dich an!“, „Beeil dich!“ – die österreichische Schriftstellerin und Lyrikpreisträgerin Anna Baar hat die tägliche Morgenrallye mit ihren Schulkindern in stressvoller Erinnerung. „Ein guter Start in den Tag war für uns Glücksache“, sagt die zweifache Mutter. Oft endete es mit einem „morgendlichen Anfall“ der Mutter, der allgemeinen Hektik geschuldet.

Vor einem Jahr beschloss die Schulleitung der Klagenfurter Waldorfschule, die Baars Kinder besuchen, den Unterrichtsbeginn von 7.45 Uhr auf 8.30 Uhr zu verlegen. Lehrer und Eltern hatten diesen Beschluss nach Konsultation von Ärzten und Chronobiologen gemeinsam gefasst. Seither ist alles anders. „Die Kinder stehen von selbst auf, sie trödeln nicht halb bewusstlos im Badezimmer herum, sondern kommen ausgeruht zum Frühstück und haben sogar Appetit“, berichtet die Mutter. Danach bleibe meist noch ein bisschen Zeit zum Reden, Musikhören oder Lesen. „Für uns ist das ein Gewinn an Lebensqualität.“

Und wohl auch ein Plus an Lernqualität. Schon seit vielen Jahren weisen Schlafforscher und Chronobiologen darauf hin, dass gerade ältere Schüler am frühen Morgen noch nicht gut lernen können. „Eine Menge Studien belegen, dass Schüler ab einem Alter von etwa 13 Jahren von einem etwas späteren Schulbeginn profitieren“, sagt Jürgen Zulley, Schlafforscher an der Universität Regensburg. In der Pubertät verlagern sich die Wach- und Schlafzyklen hormonbedingt; viele vormalige Frühaufsteher werden dann zu Nachteulen. Pubertisten-Eltern können ein Lied davon singen – ihre Lütten werden abends nicht müde, kommen morgens nicht aus den Federn und hängen nachmittags durch. Pure Biologie, sagt Zulley. „Bis Anfang 20 ist der Biorhythmus verschoben“, erklärt der Wissenschaftler. „Morgens um acht ist die Konzentration eines Teenagers so hoch wie um Mitternacht.“

Studien beweisen, dass Schüler ab einem Alter von 13 Jahren von einem späteren Schulbeginn profitieren

Seit mehr als 20 Jahren setzt sich der renommierte Schlafforscher dafür ein, dass Unterricht später beginnt. Seine Argumente sind gewichtig. So ergab kürzlich eine US-Studie, dass Schüler, die statt um acht erst um halb neun zu lernen beginnen, motivierter lernten und seltener den Unterricht schwänzten. Jeder Zweite kam ausgeschlafener in die Schule – mit acht oder mehr Stunden Schlafpensum. Zuvor hatte nur jeder Sechste dieses Ideal erreicht. Viele internationale Studien belegten zudem den Zusammenhang von schlechteren Schulleistungen und früherem Aufstehen, so Zulley. „Schon eine halbe Stunde würde etwas bringen“, sagt er, „ideal wäre ein Unterrichtsbeginn um 9 Uhr.“

In Ländern wie England, Italien oder Spanien beginnt der Unterricht später, um halb neun oder neun. Die Londoner Oberschule UCL Academy hat den Unterrichtsbeginn sogar kürzlich auf zehn Uhr verschoben, weitere Schulen wollen folgen. In Deutschland käme so etwas einer Kulturrevolution gleich. Hierzulande startet der Pauktag gewöhnlich um acht, in Sachsen und Sachsen-Anhalt müssen Schüler oft schon um 7.30 Uhr im Klassenzimmer sitzen. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen überlassen es den Schulen, den Unterrichtsbeginn selbst festzulegen, aber auch dort ist der 8-Uhr-Gong die Regel.

Der frühe Unterrichtsbeginn, so scheint es, ist eine heilige Kuh des deutschen Bildungswesens – irgendwie unschlachtbar. Friedrich-Karl Jostes, Direktor der Bremer Oberschule in den Sandwehen, kann das nicht verstehen. An seiner Ganztagsschule beginnt der Unterricht seit mehr als acht Jahren erst um halb neun – und alle sind begeistert. „In den Klassen ist die Atmosphäre ruhiger und ausgeschlafener“, sagt Jostes, der den Spät-start damals gegen großen Widerstand im Kollegium durchsetzte – und nur mit dem Versprechen, den Pionierversuch auf sechs Monate zu begrenzen. „Nach einem halben Jahr wollte bis auf einen kein Lehrer zurück zu dem alten Modell“, sagt Jostes und ergänzt: „Es ist eine Frage von Mut.“

Und schon auch eine Frage der Organisation. „Für einen Unterrichtsbeginn um neun muss man eine richtige Ganztagsschule mit Mittagessen und Nachmittagsunterricht anbieten“, sagt Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Das koste ebenso Geld wie der Nahverkehr, der sich mit zusätzlichen Verbindungen auf die späteren Fahrschüler einzustellen habe. „Für die Kommunen ist das schwer hinzukriegen.“ Seit jeher bestimme der Berufsrhythmus der Eltern, die oft ebenfalls früh aus dem Haus müssen, den Unterrichtsrhythmus mit.

All diese logistischen Probleme seien zu lösen, glaubt Schlafforscher Zulley: „Die anderen Länder kriegen es ja auch hin.“ In der Bremer Langschläferschule versorgt man die Kinder von Frühschichtlern ab 7.45 Uhr mit einem kostenlosen Frühstück. 100 bis 150 der insgesamt 750 Schüler machen davon Gebrauch, die älteren finden auch ohne elterlichen Beistand am Morgen in den Tag.

Aber offenbar lang nicht so gut in die Nacht. Wenn er morgens in blasse Teenager-Gesichter schaue, so Gymnasiallehrer Meidinger, habe er den Eindruck, dass der „Anteil der Biorhythmustiefs vergleichsweise gering ist“. Oft sei die morgendliche Müdigkeit eher auf exzessives nächtliches Online-Spielen oder Ausgehen zurückzuführen. Auch Eltern seien hier in der erzieherischen Pflicht gegenzusteuern.

7-2015_Schlafmangel_GrafikKeine vertane Zeit: „Das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Schlaf muss in die Gesellschaft getragen werden“, sagt der Münchner Professor für Chronobiologie Till Roenneberg – und meint damit Schulen ebenso wie Eltern, Lehrer und Arbeitgeber. Bei keiner Bevölkerungsgruppe sei die Diskrepanz zwischen dem Schlafpensum unter der Woche und am Wochenende so hoch wie bei den Jugendlichen (siehe Grafik). Generell herrsche eine Unkultur des Schlafs: „Er gilt als verlorene Zeit, dabei ist er die Basis von Leistung, Lernen, Gesundheit und sozialer Kompetenz.“

Wie stark ein widernatürlicher Wach- und Schlafrhythmus die Leistung beeinträchtigt, sei wissenschaftlich vielfach belegt, so der Chronobiologe. „Je später jemand isst, umso schlechter ist nachweislich das Abitur“, bringt es Roenneberg auf einen Nenner. Wenn es nach ihm ginge, sollte die Schule in der Mittelstufe um 9 und in der Oberstufe erst um 10 Uhr beginnen. Und alle Wecker gehörten abgeschafft. „Der Wecker weckt Jugendliche mitten in ihrer internen Nacht“, sagt Roenneberg. „Das macht Schüler zu Dauernachtschichtarbeitern mit all den Folgen für Leistung und Gesundheit.“



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  1. von Christine

    Hier sollte die Regierung sich mal um die Sommerzeit kümmern! Weil unsere Sprösslinge, in der Sommerzeit eine Stunde früher aufstehen müssen! Und das geht nicht nur den Kindern/Jugendlichen so. Zweimal im Jahr müssen wir Menschen alt und jung sich an die Vorgabe der Zeitumstellung orientieren und ihren Biorhythmus umpolen! Warum sollen alle Schulen ihren Stundenplan verändern, Busverbindungen neu berechnet werden! Als nächstes kommen die Betriebe um ihre Dienstpläne zu verändern, da Mütter/Eltern ihre Kinder später zur Schule bringen und so wieder Probleme mit ihrer Aufsichtspflicht haben. Die Studie hat bestimmt recht und ich stimmen dem zu das die Kinder am Morgen auf dem Weg zur Schule müde sind. Aber die Schulanfangszeiten zu ändern ist aus meiner Sicht der falsche Weg!

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