Unterricht aus dem Homeoffice – Magazin SCHULE
Denken & Diskutieren

Lehren aus der Ferne

Seit Wochen unterrichtet unsere Autorin ihre Schüler in wackeligen Videokonferenzen. Das soll die digitale Zukunft unserer Schulen sein? Statt Online-Euphorie fordert sie: bessere Vorbereitung, eine ausgewogene Strategie – und mehr Respekt für regulären Unterricht


„Ich seh’ dich, ich seh’ dich!“ rufe ich begeistert in Richtung Bildschirm. Dort ist er tatsächlich zu sehen, etwas unscharf zwar, aber eindeutig mein Mann. Solch große Aufregung und Freude bei seinem Anblick verspürte ich das letzte Mal vor ca. 13 Jahren. Da war ich frisch verliebt und glücklich, eine persönliche Verbindung mit ihm aufbauen zu können.

Nun bin ich schon glücklich, endlich eine eher neutrale Verbindung über einen Anbieter von Videokonferenzen herstellen zu können, der mich zuvor zwei Stunden lang immer wieder hat abblitzen lassen. Dabei sitzt mein Mann lediglich zwei Räume weiter, ich könnte ihn also auch deutlich weniger pixelig sehen und in besserer Tonqualität hören.

Aber meine Schüler nicht. Die Corona-Pandemie hat Deutschland lahmgelegt, und deshalb ist die Schule, unser natürlicher Lebensraum, geschlossen. Meine 5. Klasse sitzt also nicht in ihrem Klassenzimmer, sondern ist auf 29 Wohnungen verteilt. Trotzdem sollen die Kinder weiterhin beschult werden. Aus der Ferne.

Digital arbeiten wir schon lange. Aber Unterricht gehörte in die Schule

Niemand hat uns darauf vorbereitet. Natürlich hat unsere Schule schon vorher digital gearbeitet, es gibt Laptops und interaktive Whiteboards, Plattformen und Routinen für den Austausch mit Eltern und Schülern. Aber das alles war doch nicht darauf ausgelegt, den Unterricht komplett ins Internet zu verlegen! Also müssen wir Lehrkräfte uns halt was einfallen lassen.

Vor ein paar Wochen wäre Zoom für uns tabu gewesen

Zum Beispiel Videokonferenzen. Noch vor ein paar Wochen wären Plattformen wie Zoom und Co. für uns Lehrer schon aus Datenschutzgründen tabu gewesen, jetzt sollen wir sie plötzlich professionell beherrschen. Laptop auf, Kamera an, Einladungen verschicken – so einfach geht das doch mit der Videokonferenz, oder? Beziehungsweise wenigstens mit der Audiokonferenz, also der Videokonferenzen ohne Video. Denn bei 29 Schülern, die zeitgleich in einem virtuellen Klassenzimmer sind, bricht das Videosystem schon mal zusammen.

Meine Privatsphäre ist jetzt ein Videohintergrund

Mein persönliches System im Übrigen auch. Ich möchte ungern, dass eine Kamera meinen Fünftklässlern visualisiert, wie ich parallel zum Konferenzgespräch den Frühstückstisch abdecke und versuche, meiner Tochter den Zahlenraum bis 20 nahezubringen. Das ist dann wiederum der Vorteil einer Audiokonferenz, da sieht wenigstens niemand, wie ich mal schnell die Butter in den Kühlschrank stelle und die 20 Stifte auf dem Tisch so zurecht schiebe, dass eine Subtraktionsaufgabe entsteht.

Die häufigste Frage: Wer spricht denn da?

Allerdings sieht auch niemand, wer gerade etwas zu sagen hat. Also reden alle gleichzeitig. Die häufigste Frage ist: „Wer spricht denn da?“ Wenn man auf eine Aussage reagieren möchte, hört man die Antwort oft so zeitverzögert, dass die anderen schon gar nicht mehr mit einer Rückmeldung rechnen. Wobei einige gar nichts hören, dafür aber gut zu hören sind: „Hä? Ich kann euch nicht hören! Wie? Hallo! Sagt mal was!“

Entnervt schlage ich daher bei meiner ersten Audiokonferenz vor, ergänzend zum Gespräch den Gruppenchat zu verwenden und tippe meine Frage ein: „Was macht ihr in eurer Freizeit?“ Ebenso entnervt kommen die mündlichen Rückmeldungen: „Wo finde ich denn den Gruppenchat?“ Nach zwanzig zähen Konferenzminuten dringt endlich wieder eine Schülerfrage klar und deutlich zu mir durch: „Wie lange geht die Konferenz eigentlich?“ Ein klares Abschlusssignal: Erstaunlich schnell haben meine Schüler dringende häusliche Tätigkeiten zu verrichten – und ich nichts dagegen.

Was technisch möglich ist, muss noch lange nicht sinnvoll sein

Die von vielen Seiten geäußerte Euphorie über die Digitalisierung, die dank Corona nun endlich einen starken Schub bekommen habe, erschließt sich mir noch nicht ganz. Nicht alles, was technisch möglich ist, muss im Fernunterricht sinnvoll sein. Und nicht alles Analoge sinnlos. Audiokonferenzen mit einer 5. Klasse sind zum Beispiel nach meinem Empfinden sinnfrei.

Mein Gruß an die Schüler: ein echter Brief – mit Schokolade

Trotzdem möchte ich gern mit meinen Schülern in Kontakt bleiben. Deshalb habe ich mich an einigen sonnigen Nachmittagen in den Garten gesetzt und jedem Schüler einen persönlichen Brief geschrieben. Mit Füller und Papier. Dazu habe ich in den Umschlag einen Schokoladengruß gesteckt, was weder per Mail noch bei einer Videokonferenz möglich gewesen wäre. Meine Schüler haben sich über den Brief im nicht-virtuellen Briefkasten sehr gefreut, und das Feedback war deutlich positiver als nach der Audiokonferenz.

Digitale Medien können Unterricht bereichern – aber nicht ersetzen

Was noch lange nicht bedeutet, dass ich alle „neuen“ Medien verabscheue. Oder dass Audio- und Videokonferenzen in höheren Klassenstufen oder mit kleineren Gruppen nicht durchaus gewinnbringend sein können. Das ist wie im echten Unterricht: pädagogisch sinnvoll eingesetzt, sind digitale Medien eine Bereicherung.

Erschließen, anwenden, testen – alles ohne Benotungsdruck

Nachdem sich meine Schüler vor einer Woche in Heimarbeit den Aufbau von Blütenpflanzen anhand ihres Biologiebuchs sowie einer selbst gepflückten Blume erschließen durften, mussten sie diese Woche ihre Erkenntnisse bei einem Online-Lernkurs anwenden und konnten sich Aspekte, bei denen sie Probleme hatten, erneut erklären lassen. Ein Abschlusstest bot zudem die Möglichkeit, das neue Wissen zu prüfen – ebenfalls online und ohne Benotungsstress.

Die Kombination aus Lehrbuch, eigenem Entdecken in der Natur und einem wiederholend-vertiefenden Selbstlernkurs hätte ich auch im Schulunterricht gewählt. Auf diese Weise können digitale Medien den Unterricht hervorragend ergänzen. Aber keine Audiokonferenz kann die Beziehung erzeugen und kein Video die individuelle Erklärung ersetzen, die im Unterricht vor Ort möglich ist.

Seit Jahren ringe ich mit meinen Kindern um medienfreie Zeit – und jetzt?

Weder als Lehrerin noch als Mutter zweier Schulkinder halte ich es für sinnvoll, plötzlich alle Aufgaben digital bearbeiten zu lassen und dies auch noch als erfolgreiche Digitalisierung zu bezeichnen. Schließlich ringe ich seit Jahren zu Hause um medienfreie Zeiten, damit sich die Kinder auch analog beschäftigen, treffen bewegen. Und jetzt sollen meine Kinder ab sofort stundenlang vor einem Bildschirm hocken, um Schulaufgaben zu erledigen?

Wer glaubt, das jedes Kind einen Laptop hat?

Was zudem auch noch ein sehr reales Ringen um die technischen Geräte in unserem Haushalt zur Folge hätte. Glauben die Digitalbegeisterten wirklich, dass in jedem Haushalt pro Kopf ein Laptop zur Verfügung steht? Mit gestochen scharfer Kamera, Profi-Mikro und Headset? Und dazu eine Internetverbindung mit Glasfaserqualität?

Schüler sollten die Werkzeuge beherrschen, ehe sie sie einsetzen

Digitale Medien sind ein Hilfsmittel, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Und an diese muss ich meine Schüler heranführen, bevor ich von ihnen eine sinnvolle Nutzung erwarten kann. Wenn eine solche Einführung nicht vor Corona in den Schulen erfolgt ist, kann ich nicht auf einmal erwarten, dass das alleinige Bereitstellen eines Laptops (was für viele Familien schwer genug ist) und eines virtuellen Klassenzimmers meine Schüler zu souveränen Anwendern macht. Oder dass ihre Eltern mal eben stellvertretend für mich daheim eine Einführung anbieten.

Stattdessen muss man einen Weg finden und beispielsweise ein neues Programm der Corona-Not gehorchend eher als im Schulcurriculum vorgesehen erklären. Das geht mit einem Lernvideo sicher ebenso gut wie mit einer schriftlichen Anleitung mit Bildern. Jedenfalls sollten meine Schüler erst das Werkzeug beherrschen dürfen, bevor sie es anwenden sollen.

Eines fehlt immer bei der Heimarbeit: der Lehrer

In meinem Fall hat das sogar ganz klassisch mit dem Mathebuch geklappt, das eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für eine kostenfreie dynamische Geometriesoftware inklusive vieler Aufgaben parat hält. So können die Schüler gleichzeitig analog mit dem Buch und digital mit dem Computer bzw. Handy arbeiten – und sie lernen dabei ein Werkzeug kennen, das sie auch in den nächsten Schuljahren immer wieder verwenden werden.

Dann ist eigentlich fast alles wie im normalen Unterricht. Wirklich alles? Ach nein, einer fehlt: der Lehrer. Denn Lernvideos, Selbstlernkurse im Netz und Lernapps können nur bereichern, aber nicht ersetzen, was ich am liebsten mache: meinen Schülern den Stoff erklären und ihnen bei Fragen ihm wahrsten Sinne des Wortes zur Seite stehen. Was hoffentlich bald wieder möglich sein wird.



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