Meinen & Sagen

„Unsere Kinder müssen wieder Spaß am Lernen finden“

Nachholkurse allein reichen nicht, sagt Lorenz Haase, Geschäftsführer des Nachhilfeinstituts Studienkreis und dreifacher Vater: Um die Corona-Lernlücken der Schülerinnen und Schüler zu füllen, müssen wir vor allem eigenständiges Lernen fördern, Motivation stärken und ein gutes Selbstwertgefühl vermitteln


Noch immer haben die Kinder und Jugendlichen in Deutschland mit den Corona-Folgen in der Schule zu kämpfen. Viele haben große Lernlücken angesammelt, die mit Nachholkursen oder Nachhilfe längst noch nicht geschlossen wurden. Werden Sie das jemals schaffen? Und welche Schülerinnen und Schüler haben es besonders schwer? Wir sprechen darüber mit jemandem, der sich mit dem Lernstand in unseren Schulen auskennen sollte: Lorenz Haase ist CEO des Nachhilfeanbieters Studienkreis und dreifacher Vater.

 

Herr Haase, das erste Schulhalbjahr ist vorbei. Sie haben drei Kinder und leiten einen der größten deutschen Nachhilfeanbieter. Wie ist das Schuljahr bisher so gelaufen?

Aus meiner Sicht als Vater: sehr unterschiedlich. Bei einem Kind läuft’s aktuell super, bei einem mittel, bei einem haben die Lehrkräfte für den Elternsprechtag Gesprächsbedarf angemeldet. Aber das wechselt auch immer wieder mal. Wir haben in der Vergangenheit bei allen Kindern in verschiedenen Phasen auch mal Sorgen gehabt, jedes hat irgendwann Nachhilfe bekommen oder nimmt sie noch. Für mich ist das völlig natürlich und üblich, so etwas macht einfach die sehr individuellen Entwicklungsgeschichten von Kindern aus.

Gerade Grundschüler tun sich ungeheuer schwer, den Anschluss zu findenLorenz Haase, CEO Studienkreis

Und aus der Sicht als oberster Chef von über 10.000 Nachhilfelehrkräften? Spüren Sie noch Corona-Nachwehen bei ihren Schülerinnen und Schülern?

Ja, und zwar umso stärker, je jünger die Kinder sind. Bei denen, die noch ganz grundlegende Fertigkeiten entwickeln müssen, das Schreiben, das Rechnen, das Zurechtfinden im Klassenverbund, dort tun sich im Moment noch große Schwierigkeiten auf. Insgesamt haben wir den Eindruck, dass sich viele der Grundschüler im Fernunterricht am schwersten motivieren konnten, dabei zu bleiben, ihre Aufgaben zu machen – und sie vor allem eigenständig zu machen. Diese Kinder tun sich jetzt ungeheuer schwer, den Anschluss zu finden an die Älteren, die vor der Pandemie schon ein bisschen eigenständiger waren.

Wie äußern sich diese Schwierigkeiten?

Das beginnt bei den ganz grundlegenden Dingen: beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Zum Beispiel haben viele selbst am Ende der Grundschulzeit noch kein vernünftiges Schriftbild entwickelt. Ich habe einen Sohn in dem Alter und kenne das aus beiden Perspektiven: Da genügt auch kein Üben, bis das „a“ sitzt, sondern da müssen wir erst einmal an der richtigen Grifftechnik arbeiten, an der Konzentration, auch am Verständnis, warum das überhaupt wichtig sein soll.

Wie sinnvoll ist es, dass Kinder in Schulen bleiben, deren Anforderungen sie nicht entsprechen können?

Berichten Ihre Nachhilfelehrkräfte das auch?

Ja, und nicht nur das. Wir sehen bei den Kindern in unseren Instituten massive Defizite im Rechnen, im Schreiben und in der Grammatik. Viele, die jetzt vor dem Wechsel in die fortführende Schule stehen, sind noch gar nicht auf dem Niveau, das sie dafür bräuchten. Und diejenigen, die dort schon angekommen sind, haben oft große Schwierigkeiten. Dabei sind die Leistungsanforderungen häufig noch längst nicht wieder dort, wo sie vor der Pandemie waren. Vielerorts werden immer noch Corona-Noten gegeben und Schüler durchgewunken. Aber mein Eindruck ist, dass die Erwartungen in den fortführenden Schulen gerade wieder anziehen. Und dann ist die Frage, wie sinnvoll es ist, dass Kinder dort bleiben, die diesen Anforderungen nicht entsprechen können. Viele Schulen stehen gerade vor der Entscheidung, entweder ihr Leistungsniveau dauerhaft zu senken oder manche Kinder an eine andere Schulform zu verweisen. Und diese Entscheidung hat dann große Bedeutung für das Bildungsniveau in ganz Deutschland.

Ganz ähnliche Beobachtungen wurden in der jüngsten IQB-Bildungsstudie beschrieben. Allerdings haben die Forschenden dort darauf hingewiesen, dass die Leistungen der Grundschulkinder schon seit längerem abnehmen. Sehen Sie diesen Trend auch?

Die langfristigen Zusammenhänge können wir nicht so nachvollziehen, wie Bildungsforscher das tun. Das ist ja auch nicht unsere Aufgabe. Aber in unserer täglichen Arbeit sehen wir, dass die Lücken bei den Kindern deutlich zugenommen haben in der Corona-Zeit. Aus der Praxis heraus würde ich sagen: 80 Prozent der aktuellen Probleme sind der Corona-Pandemie geschuldet.

  • Lorenz Haase - CEO Studienkreis - Corona-Folgen in der Schule

    Lorenz Haase, 49, ist seit 2013 Geschäftsführer des Nachhilfeanbieters Studienkreis. Mit rund 10.000 Lehrkräften ist das Unternehmen einer der größten privaten Bildungsanbieter Europas. Er lebt mit seiner Frau und drei schulpflichtigen Kindern in Essen.

Woran liegen diese Probleme Ihrer Ansicht nach genau?

An den Schulschließungen und dem Fernunterricht. Ein ganz wichtiger Punkt ist dabei die Selbstdisziplin. Da hat ein 16-Jähriger natürlich andere Voraussetzungen als eine Grundschülerin. Das haben wir im Nachhilfeunterricht gesehen, als wir selbst nur Online-Kurse anbieten konnten: Je jünger die Kinder waren, umso schwieriger war es, sie bei der Stange zu halten. Im Grundschulbereich haben wir deswegen die Eltern gebeten, sich dazu zu setzen und darauf zu achten, dass das Kind konzentriert bleibt und seine Aufgaben macht. Ansonsten driften die Kleinen früher oder später gedanklich ab. Bei uns in der Familie ging es ja genauso: Wenn meine Frau oder ich nicht im Raum waren, haben wir zum Beispiel bei einem unserer Söhne mitbekommen, wie er sich mit anderen Sachen beschäftigt hat, sogar auch mal angefangen hat, etwas zu spielen. Da fehlt einfach die soziale Interaktion mit der Lehrkraft, die für konzentriertes Arbeiten sorgt. Aber welche Eltern konnten schon während des Fernunterrichts ständig bei ihren Kindern sein?

Ihre Corona-Lücken werden die Kinder wohl nie ganz schließen können

Wann, glauben Sie, werden die Kinder diese Lücken aufgeholt haben?

Komplett wahrscheinlich nie. Corona hat ja nicht nur in den Grundschulen, sondern bei allen Schülerinnen und Schülern Lücken aufgerissen. Seitdem sind viele Anstrengungen unternommen worden, um diese Lücken zu füllen – sowohl von Seiten der Politik und den Schulen, als auch und vor allem von den Eltern. Aber zu 100 Prozent kann und wird das nicht gelingen. Die Corona-Pandemie hat es nun einmal gegeben, und keine Hilfe von außen wird die Schüler so aufstellen, als wäre das alles nie passiert.

Das klingt jetzt pessimistisch. Wir können doch nicht eine ganze Schülergeneration aufgeben.

Darum geht es gar nicht. Natürlich müssen wir unsere Kinder weiterhin bestmöglich unterstützen. Aber es ist nicht damit getan, sie jetzt noch in den x-ten Nachholkurs zu setzen. Diese mechanische Bildungsdenke funktioniert schlichtweg nicht. Wenn wir den Kindern weiterhelfen wollen, müssen wir vor allem ihre Eigenverantwortung stärken. Sie brauchen Eigenmotivation und müssen wieder Spaß am Lernen finden, um selbst die Initiative für ihren Bildungsweg zu ergreifen. Das lässt sich natürlich in manchen Schülergruppen leichter erreichen als in anderen. Aber es sollte unser oberstes Ziel sein, an dem die Lehrkräfte in der Schule arbeiten, die Eltern und auch wir als Nachhilfeanbieter.

Was tun Ihre Lehrkräfte, um das zu erreichen?

Nehmen wir als Beispiel eine Schülerin, die mit schlechten Noten zu uns kommt. Der helfen wir als erstes, dass ihre nächste Note besser wird – mindestens eine, möglichst zwei Notenstufen. Das allein löst noch kein Problem. Aber es löst etwas im Kopf des Mädchens aus, nämlich die Erkenntnis: Wenn ich mich anstrenge und mich mit dem Stoff auseinandersetze, dann kann ich damit etwas erreichen. Das ist der erste Schalter, den wir umlegen. Und von da an geht es uns vor allem darum, dem Kind den Spaß am Lernen und die Verantwortung für seinen Lernerfolg zurück zu geben. Deswegen machen wir auch grundsätzlich keine Hausaufgabenhilfe – ihre Hausaufgaben zu machen, ist die Sache der Schülerin. Unsere Übungen gehen darüber hinaus, damit das Kind sieht, dass es mehr erreichen kann.

Diesen Prozess unterstützt übrigens auch das Lernen in der Gruppe: Zu Beginn hilft mir die Gruppe, weil ich merke, dass ich mit meinem Problem nicht allein bin. Und später, wenn ich mich mit dem Lernstoff mehr und mehr auseinandersetze, bekomme ich dort zusätzliche Erfolgserlebnisse: Ich weiß etwas, das die anderen nicht wissen, kann vielleicht jemandem etwas erklären und stärke damit auch mein eigenes Selbstwertgefühl.

Mit Methodenkompetenz fällt das Lernen leichter – und das fühlt sich gut an

Genügen ein paar zusätzlichen Übungen und Erklärungen tatsächlich, damit Kinder wieder mehr Erfolg in der Schule haben?

Das hilft, ist aber natürlich nicht alles. Ganz wichtig für das eigenverantwortliche Lernen ist auch die Methodenkompetenz, also klassisches Lernen Lernen. Das heißt: Wir helfen unseren Schülerinnen und Schülern dabei, Techniken zu entwickeln, mit denen sie sich Stoff eigenständig aneignen können, und mit denen sie sich besser strukturieren und ihr Lernen planen. Sobald das gelingt, fällt ihnen das Lernen leichter – und das fühlt sich für die Kinder gut an. Auf diese Weise arbeiten sie dann nicht für den Lehrer oder weil die Eltern es wollen, sondern für sich selbst und weil es ihnen guttut.

Gibt es dafür dann eigene Methoden-Lerneinheiten?

Wir bieten sogar eigene Lernen-Lernen-Kurse an. Unsere Erfahrung ist aber, dass man Methodenkompetenz am besten über das Praktische lernt. Die Eltern und Schüler kommen ja zu uns in erster Linie, um den Druck aus der Familie zu nehmen und die Noten zu verbessern. Dabei helfen wir ihnen. Und damit unsere Hilfe auch nachhaltig ist, bringen wir den Kindern und Jugendlichen Kompetenzen bei. Das Schöne ist: Wenn jemand länger bei uns ist, verbessern sich meistens nicht nur die Noten in dem Fach, für das er oder sie zu uns gekommen ist, sondern auch in anderen Fächern.

Es gibt den Spruch: Gute Nachhilfe macht sich möglichst schnell überflüssig. Würden Sie das unterschreiben?

Die Frage ist, welches Ziel man mit der Nachhilfe verfolgt. Wenn es darum geht, eine bestimmte Zielnote zu erreichen oder schnell irgendwo den Anschluss zu schaffen, gilt das sicherlich. Ich selbst zum Beispiel habe als Schüler sowohl Nachhilfe bekommen als auch gegeben. Bekommen habe ich sie, als ich in der fünften Klasse nach wenigen Monaten die Schule wechselte und an ein humanistisches, ziemlich anspruchsvolles Gymnasium kam. Dort waren sie mit dem Stoff schon viel weiter als an meiner alten Schule, und prompt bekam ich in der ersten Deutscharbeit eine Fünf. So etwas ist immer noch ein typischer Fall, bei dem Nachhilfe sich schnell überflüssig machen sollte. Aber viele unserer Schülerinnen und Schüler haben ganz andere Ansprüche: Die wünschen sich begleitend zur Schule eine Art Coaching, das ihren Lernerfolg kontinuierlich verbessert. Da dürfen und sollten wir länger dranbleiben.

Sind solche unterschiedlichen Ansprüche nicht schwierig zu vereinbaren in den Lerngruppen?

Nein, Unterschiede sind wir in den Instituten gewöhnt. Allein schon beim Niveau. Von meinen eigenen Kindern nimmt zum Beispiel gerade eines Nachhilfe, um sein Einser- bis Zweier-Niveau zu halten, während uns bei einem anderen die Noten gerade ernsthaft Sorgen machen. Da spannt sich schon innerhalb einer Familie der ganze Bogen auf, und genauso sieht es in den Nachhilfegruppen aus. Das ist aber kein Problem, weil die Lehrkräfte ohnehin mit jedem Kind individuell arbeiten, jedes seinen eigenen Förderplan hat und eigene Aufgaben bekommt. Anders als die Schule machen wir eben keinen Frontalunterricht und müssen ihn auch nicht machen, sondern wir können uns gezielt um die Stärken und Schwächen jedes einzelnen Kindes kümmern. Genau dort liegt übrigens auch unsere Grenze: Wir ersetzen Schule nicht, sondern wir ergänzen sie. Wenn ein Kind vom Schulstoff noch gar nichts mitbekommen hat oder nicht einmal Deutsch spricht, müssen erst einmal andere ran.

Einmal habe ich versucht, meinem Kind bei Mathe zu helfen. Ein Drama!

Ist bei Ihnen zu Hause die Nachhilfe auch nur ergänzend, oder haben Sie das Lerncoaching Ihrer Kinder komplett an Ihre Firma delegiert?

Gute Frage! (lacht) Ich habe ja wie erwähnt früher selbst Nachhilfe gegeben, und natürlich wollte ich später auch meine Kinder unterstützen. Ich erinnere mich noch gut an eine Szene mit einem meiner Kinder, das war dritte Klasse Mathe, und ich habe versucht, ihm bei der Vorbereitung auf die Klassenarbeit zu helfen. Nach einer halben Stunde war ich total entnervt, und mein Kind hat mir weinend vorgeworfen, ich hätte keine Ahnung und würde alles falsch erklären, in der Schule hätten sie das anders gelernt. Ein Drama! Da bitte ich doch lieber die Kolleginnen und Kollegen im Institut darum, das zu übernehmen.

Diese Situation kennen viele Eltern …

Ja, und deswegen kommen sie dann zu uns in die Nachhilfeinstitute. Auch meine Frau und ich helfen unseren Kindern natürlich immer noch, aber eben nur noch in verträglicher Dosis, damit es die Eltern-Kind-Beziehung nicht belastet. Um den Rest kümmern sich die Nachhilfelehrkräfte. Anderen Familien geht es doch genauso: Meistens ist es ja nicht die erste Fünf, mit der ein Kind zur Nachhilfe kommt. Schlechte Noten bauen sich oft über eine ganze Zeit hinweg auf. Entsprechend angespannt ist dann die familiäre Situation. Da können wir mit unseren Instituten wahnsinnig viel Druck rausnehmen, das spüren wir oft schon im ersten Gespräch.

Haben Sie als Kunde in Ihrem Unternehmen eigentlich etwas für sich als Chef gelernt?

Vieles. Zum Beispiel habe ich mir als Vater ein besseres Feedback über den Lernfortschritt meiner Kinder gewünscht, und das machen wir jetzt viel intensiver und strukturierter. Auch als wir uns im Unternehmen Gedanken über digitale Zusatzangebote gemacht haben, konnte ich viel besser einschätzen, was wirklich nützlich wäre: zum Beispiel ein Hausaufgaben-Livechat, in dem sich Kinder auch außerhalb der Nachhilfestunden schnell mal etwas erklären lassen können, wenn es gerade bei den Hausaufgaben hakt. Oder die Videos von Sofatutor, die meine Kinder immer super fanden: Das ist jetzt ein befreundetes Unternehmen, und wir bieten die Videos unseren Kunden inklusive an. Das sind natürlich nicht alles meine Ideen gewesen, aber ich konnte sie besser einschätzen, weil ich nicht nur Manager, sondern auch Vater und Kunde bin.



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