Lesen & Leben

Tschüss Gymnasium, hallo Glück

Mut zum Wechsel: Der Abschied vom Gymnasium ist kein Drama. Oft bedeutet eine andere Schulform mehr Erfolgserlebnisse, mehr Zeit und mehr Lebensqualität für Schüler und ihre Familien.


Henriette hat es sich auf der Wiese bequem gemacht und liest ihr aktuelles Lieblingsbuch: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster sprang und verschwand“. Mauersegler kreisen um das Einfamilienhaus am östlichen Rand Berlins. Die 15-Jährige blinzelt in die Sonne und lächelt: „Toll, wieder Zeit zu haben.“ In den letzten zwei Jahren dominierte die Schule ihr Leben. In Englisch kriselte es, in Mathe hatte sie längst den Anschluss verloren. Und dann der lange Schulweg zum renommierten Privatgymnasium in Berlin Weißensee. Bus, U-Bahn, Tram. Siebzig Minuten Minimum. „Zu Hause war ich platt.“ Trotzdem hieß es, ran an den Schreibtisch. „Henriette wurde aggressiv, häufig war ihr übel“, erinnern sich ihre Eltern Corinna und Sandro. „Das Gymnasium wurde für uns alle zum Horror.“

Egal, wie viel ich lernte, die anderen waren schneller Henriette Lipok, 15

Dabei hatte die Tochter eine Gymnasialempfehlung. Sie war gern zur Grundschule gegangen. Vor allem der Freunde wegen, aber auch Kunst, Sport und Deutsch mochte sie. Nur Mathe war ihr „Feind von Anfang an“. In der dritten Klasse schickten sie die Eltern in eine private Nachhilfeschule, in der sechsten – in Berlin noch Teil der Grundschule – kam sie auch in Naturwissenschaften und Englisch ins Schlingern. Doch die Lehrkräfte blieben optimistisch, und Henriette wollte so gern auf das schöne alte Gymnasium, das auch ihre große Schwester besuchte. „Wir hatten Zweifel, denn wir wussten, wie schwer es werden würde“, erinnert sich ihre Mutter. „Andererseits war uns klar, wie hart es sein kann, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg zu machen“, ergänzt ihr Vater. Und Abitur braucht Henriette, wenn sie wirklich Kunstlehrerin werden will. Bis Ende der achten Klasse hangelte sich das Mädchen durch. Feilschte mit Lehrerinnen und Lehrern in ihren Problemfächern um jede Vier minus, gab vor einem Test noch mal extra Gas: „Aber die anderen waren einfach schneller.“ Corinna Lipok: „Irgendwann mussten wir eine Entscheidung fällen.“

Heute besucht Henriette die neunte Klasse der Montessori-Schule Berlin Köpenick, die Hausaufgaben werden in der Ganztagsschule erledigt, für den Heimweg braucht sie 45 Minuten. Der freie Unterricht mit Wochen- und Jahresplänen, ohne Frontalunterricht und mit viel selbstständigem Arbeiten entspricht ihr. Heute hat sie Physik und Chemie gelernt, morgen knöpft sie sich Deutsch vor. Anfangs waren sich die Eltern unsicher, was ihre Tochter „in dieser lockeren Umgebung wirklich lernt“. Seit sie sich regelmäßig in „Leistungsgesprächen“ mit den Pädagogen austauschen, sind sie aber überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war.

Zehntausende Schüler wechseln jedes Jahr vom Gymnasium auf eine Realschule

Zehntausende Schülerinnen und Schüler verlassen jedes Jahr zwischen Klasse 5 und 10 das Gymnasium, um auf einer Realschule weiterzulernen. Hinzu kommen Wechsel von einem Gymnasium auf eine Gesamt- oder Sekundarschule, Montessori-, Waldorf-Schule oder Internat. Das sei immer „ein einschneidendes Lebensereignis“, so der Bamberger Schulpsychologe Uwe Schuckert. Vor allem für die Kinder. Zuversichtlich wechseln sie von der Grundschule ans Gymnasium. Fügen sich in die neue Klassengemeinschaft ein, finden Freunde, wissen, wo die Bibliothek ist und der Mehrzweckraum. Doch dann hagelt es plötzlich schlechte Noten. Meistens wenn die zweite Fremdsprache dazukommt, erzählt Schuckert, oder dann, „wenn mit 13, 14 die Pubertät zu viel Energie zieht“.

Bitte umsteigen! So gelingt der Wechsel:

  • Vor der Entscheidung

    Das Kind beobachten, zuhören, nachfragen. Was macht den Druck wirklich aus? Ist der Wechsel unvermeidbar? oder liegen die Probleme an anderer Stelle?

  • Wenn die Entscheidung feststeht

    Gemeinsam die neue Schule besuchen. Ängste nehmen, Vertrauen haben. „Klar, die Klientel auf einer Real- oder Sekundarschule ist nicht mehr so elitär“, so Schulpsychologe Brandt, „doch auf der Grundschule haben die Kinder gelernt, mit sozialen Unterschieden klarzukommen.“ Nicht zu lange warten! Je früher, desto leichter.

  • Nach dem Wechsel

    Geduld! Jedes Kind verdaut den Wechsel unterschiedlich schnell. Kontakte zu den neuen Lehrern erleichtern dem Kind den Einstieg in die Klassengemeinschaft. Sprüche wie „Gymnasialversager“ kommen vor, können aber von Lehrern abgeblockt werden.

Gemeinsam mit den Eltern versucht er herauszufinden: Ist das Kind überfordert, oder steckt hinter den schlechten Noten etwas anderes? Sind die Lücken noch durch Nachhilfe zu schließen? Welche anderen Schulen kommen infrage? Ist mein Kind bereit, den Wechsel als Chance zu sehen und Gas zu geben? Oder hat es generell keine Lust und wird sich auch auf der neuen Schule verweigern? Kein leichter Entscheidungsprozess, so Schuckert. Sein Tipp: „Sich Zeit nehmen, das Kind beobachten, zuhören: Wie hoch ist der Leidensdruck?“ Sind „nur“ die Noten schlecht oder leidet auch das Selbstwertgefühl?

Jonas Rösner aus dem nordrheinwestfälischen Minden jedenfalls hat es auf dem Gymnasium nicht mehr ausgehalten. Der Stoff wuchs ihm über den Kopf. Mit weichen Knien ging er in die Klassenarbeiten. Die Nachhilfe, das Lernen mit der Mutter am Wochenende, der ständige Druck, „es war nur noch nervig“, sagt Jonas. Die Lehrkräfte am Ganztagsgymnasium ermutigten ihn zwar: Kopf hoch, du schaffst das. Trotzdem lag Mitte der siebten Klasse ein blauer Brief im Kasten. Im Nachhinein sagt Marianne Rösner: „Wir haben uns nicht gut genug informiert.“ Hauptsache war der Platz an einem guten Gymnasium. Ob es tatsächlich das Richtige für ihren Sohn wäre, hatten sie nicht weiter hinterfragt. Nach der Siebten gab es für die Eltern keinen Zweifel mehr: Jonas muss runter. Eltern und Sohn klapperten die Schulen der Region ab. Die Entscheidung fiel auf die Realschule im Schulzentrum Bad Oeynhausen. Strukturierter Schulalltag, schöner Schulhof, kein Ganztagsunterricht. Das passte. Seit Sommer vergangenen Jahres geht der 14-Jährige dort in die achte Klasse.

„Es war der richtige Schritt“, sagt Marianne Rösner. Jonas ist gut integriert, kommt endlich wieder mit. „Die Lehrer erklären mit viel mehr Beispielen und wiederholen häufiger“, sagt der Junge. Gerade hat er das Delf-Zertifikat in Französisch gemacht – freiwillig. Und weil die Halbtagsschule ihm mehr Luft lässt, bleibt auch wieder Zeit für Tischtennis und das Geigenspiel im Symphonieorchester. Am Tag der offenen Tür steht das Ehepaar Rösner jetzt am Beratungsstand – um anderen Eltern mit Wechselambition Mut zu machen.

Der Schulwechsel kann eine Erleichterung sein

Das ist auch der Job von Stefan Brandt. Der Berliner Schulpsychologe erlebt immer wieder: Ein Schulwechsel kann für ein Kind eine Niederlage sein, aber auch eine große Erleichterung. Das hängt nicht zuletzt von den Eltern ab. Ihre Ängste, ihre Vorbehalte übertragen sich leicht auf das Kind. Genauso wie ihre Gelassenheit und ihre Zuversicht. Brandt: „Die Kinder sind hier wie ein Spiegel – das Schlimmste für sie ist das Gefühl, ihre Eltern enttäuscht zu haben.“ Seine Faustregel: Zwei Fünfen lassen sich mit Nachhilfe und einer Extraportion Fleiß in den Griff bekommen. Wer jedoch in mehr Fächern schlingert, täte sich auf einer Schulform mit weniger Tempo sicher leichter. Vorausgesetzt, die Leistungsmotivation stimmt. Denn mit „null Bock“ klappt es auch auf einer Realschule nicht. Brandt, Schuckert – beide können Geschichten über Kinder erzählen, die vom Gymnasium durchgerutscht sind auf die Hauptschule und irgendwann ohne Abschluss auf der Straße standen.

Genau davor hatte Michaela Weiss* Angst. Nach der Grundschule wechselte ihr Sohn Dennis* mit einem Zweier-Zeugnis aufs bayrische Gymnasium. „Doch dann war plötzlich die Luft raus.“ Am Ende der sechsten Klasse stand Dennis in Mathe auf einer Fünf, in fast allen anderen Fächern auf einer wackligen Vier. Die Eltern überlegten: Sollte Dennis sich weiter durchwurschteln, die Klasse freiwillig wiederholen, auf die Realschule wechseln? Nach einem Test, der Dennis bescheinigte, dass er den Anforderungen auf einem Gymnasium durchaus gewachsen wäre, fiel die Wahl auf ein Internat, knapp 80 Kilometer entfernt. Michaela: „Ich hatte Angst, dass es sonst so weitergehen würde.“ Statt zu lernen, starrte ihr Sohn demonstrativ aus dem Fenster. „Manchmal kam ich extra spät nach Hause vom Fußballtraining, damit ich nichts mehr machen musste“, erzählt Dennis. Zuerst war er natürlich schockiert: Internat? Das hörte sich an wie Knast. Doch als er die neue Schule besucht hatte, wollte auch er einen „Neustart“.

TIPP

  • Schulpsychologen beraten Schulwechsler und helfen ihnen, Probleme zu verorten und den Wechsel zu verdauen. Infos und eine Liste von Beratungsstellen unter:
    www.schulpsychologie.de

Seit letzten September kommt der 13-Jährige nur noch am Wochenende nach Hause. Seine Noten sind stabil. Er hat echte Freunde gefunden. Die Lehrkräfte nehmen sich Zeit, selbst die strengen Regeln findet Dennis „okay“. Jeden Nachmittag von halb vier bis sechs Uhr erledigen die Kinder ihre Hausaufgaben und bereiten sich auf den nächsten Tag vor. Die erste Stunde herrscht Silentium, absolutes Redeverbot. Wer sich nicht daran hält oder nicht fertig wird, muss nach dem Abendessen noch mal eine Stunde sitzen. Ein bisschen ärgert er sich über sich: Hätte er es nicht auch zu Hause packen können? Dennis zuckt mit den Schultern. Wohl nicht. „Ich hatte einfach keine Lust.“ Ein, zwei Jahre will er auf alle Fälle im Internat bleiben. Und dann, wer weiß, vielleicht zurück und den Lehrern an seiner alten Schule zeigen, dass er es drauf hat.

* Name von der Redaktion geändert

Tschüss Gymnasium, hallo Glück – Wechsel der Schulform als Chance – Dieser Artikel wurde am 29.10.2014 erstellt und wird seitdem fortlaufend aktualisiert. Das Datum oben bezieht sich auf die jüngste Aktualisierung.



Unsere Themen im Überblick

  1. von Ludwig Haag

    Acht Jahre arbeitete ich als Schulpsychologe, in den 80er Jahren in Bayern damals noch für ca. 10 Gymnasien zuständig. Mein größtes „Erfolgserlebnis“? Wenn Jahre später noch so manche Eltern auf mich zukamen: „Kennen Sie mich noch? Wir sind Ihnen noch heute dankbar, dass Sie für unser Kind den Wechsel auf die Realschule vorgeschlagen haben.“ Tatsächlich erstmals eine Entlastung von einer zweiten Fremdsprache (meist Latein) ließ die Schulkinder wieder aufblühen. Und es war für sie von der Schullaufbahn nichts verloren. Sie konnten ihr Fachabitur absolvieren und auch studieren.

  2. von Engl Ulrike

    Meine Tochter Hanna geht in die 7.KL.Gym.in Bayern. Ihre schlechtesten Noten sind Deutsch 3, Englisch 3 und Latain 3. Trotzdem wird sie zunehmend unglücklicher. Sie kratzt sich die Stirn auf, hat wenig Appetit, lacht kaum noch. Hat Schulangst. Wird aber auch nicht gemobbt. Aber der Druck ist groß und wird nicht leichter. Jetzt möchte sie auf die Realschule wechseln. Wir würden sie gerne dabei unterstützen, sind aber nicht sicher ob wir hier dann auch das richtige tun. Hat vielleicht jemand schon mal ähnliche Erfahrungen gemacht, d.h. trotz guter Noten den Schulwechsel anstreben?.

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