Schulkinder sind entweder in Mathe gut oder in Sprachen – so lautet ein gängiges Klischee. Tatsächlich beherrschen Schülerinnen und Schüler jedoch meist beide Bereiche oder haben in beiden Schwierigkeiten. Und noch mehr: Kinder und Jugendliche profitieren in Mathe sogar gezielt davon, wenn sie über gemischte Brüche und Termunformungen diskutieren, zeigen aktuelle Forschungsergebnisse. Diese Erkenntnis über Sprache und Mathematik können Lernende sich zunutze machen – in der Schule genauso wie zu Hause.
Schon länger ist bekannt, dass Kinder mit hoher Sprachkompetenz auch besonders gute Leistungen in Mathematik zeigen. Die Mathematikdidaktikerin Susanne Prediger von der Technischen Universität Dortmund konnte zeigen, dass sich die Sprache sogar stärker auswirkt als die Herkunft oder die finanzielle Lage der Eltern – beides Faktoren, die in Deutschland (leider) großen Einfluss auf den Schulerfolg haben.
Daher liegt der Gedanke nahe, dass Lehrkräfte durch gezielte Sprachförderung auch die mathematischen Fähigkeiten von Lernenden verbessern können. Ob das funktioniert, hat Kirstin Erath von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gemeinsam mit ihrer Kollegin Susanne Prediger untersucht. Dafür erhielten knapp 600 Schülerinnen und Schüler in 5. bis 7. Klassen entweder normalen Mathematikunterricht, oder sie wurden in Kleingruppen zu Gesprächen über den Unterrichtsstoff angeregt.
Kirstin Erath, welchen Kindern haben die Gespräche über Mathematik wirklich etwas gebracht?
Das Tolle ist: allen. Unser Ansatz war ja eigentlich, sprachlich schwache Schülerinnen und Schüler beim Mathematiklernen zu unterstützen. Aber am Ende konnten nicht nur diese Kinder ihre Leistungen in Mathematik verbessern, sondern auch alle anderen, auch die, die eigentlich keine sprachlichen Schwierigkeiten hatten. Das ist natürlich eine großartige Nachricht für die Inklusion, wenn ein Unterrichtsprinzip, mit dem wir die Schwächeren fördern wollen, auch den Stärkeren zugutekommt.
Was genau haben die Teilnehmenden in den Kleingruppen gemacht? Hat da immer eine Lehrkraft mit den Lernenden gesprochen, oder haben die Schülerinnen und Schüler untereinander diskutiert?
Das war sehr unterschiedlich. Die Gespräche gingen zunächst von der Lehrkraft aus. Zum einen mit ganz klassischen Unterrichtsimpulsen: Wie bist du auf dein Ergebnis gekommen? Bist du dir sicher, dass das gilt? Aber wir haben auch Argumentationen angeregt durch Aufgaben, die man unterschiedlich interpretieren konnte. Dann haben sich die Kinder gegenseitig erklärt, warum für sie das eine oder das andere Ergebnis sinnvoller ist. In vielen Gruppen konnten sich die Lehrkräfte dann bald zurückziehen, weil die Kinder untereinander diskutiert haben.
Können auch Eltern auch zu Hause Sprache und Mathematik verbinden?
Ja, sicher! Aber Eltern müssen nicht unbedingt über Mathematik reden, um ihre Kinder beim Mathematiklernen zu unterstützen. Wichtig ist, dass die Kinder eine allgemeine Bildungssprachkompetenz erwerben. Und da hilft auch viel die alltägliche Kommunikation in der Familie.
Was muss ich mir unter dieser „Bildungssprachkompetenz“ vorstellen?
Wir sprechen in der Schule ja ein bisschen anders, als wir das im Alltag tun. Und dabei geht es gar nicht so sehr um Fachvokabular. Sondern ich muss mich als Schülerin erklären, ich muss meine Gedanken strukturieren, Argumente vorbringen. Und ich muss alleine schon erkennen, was überhaupt von mir gefordert ist: Soll ich gerade nur ein Ergebnis nennen, oder soll ich sagen, wie ich darauf gekommen bin, oder warum das allgemein gilt? In solchen Momenten stoßen einige Kinder und Jugendliche, die im Alltag sprachlich völlig unauffällig sind, an ihre Grenzen – und zwar nicht nur in Mathematik, sondern auch in vielen anderen Fächern.
Und diese Kompetenzen erwerben Kinder zu Hause?
Ja, beziehungsweise ganz wichtige Vorläuferkompetenzen. Abendbrotgespräche etwa oder ganz allgemein die Kommunikation zu Hause haben einen großen Stellenwert – das wissen wir aus vielen sprachwissenschaftlichen Studien. Wenn ich zu Hause beim Abendbrot diskutieren und Argumente vorbringen muss, um meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich ins Kino darf, dann kenne ich diese Diskurspraktik schon. In Mathe muss ich dann „nur noch“ lernen, wie eine mathematische Argumentation funktioniert.
Wir diskutieren ein bisschen beim Abendbrot, und dann klappt das schon mit Mathe? Sonst heißt es doch immer, in Mathe müsse man üben, üben, üben …
Na ja, ganz so einfach ist es natürlich nicht. Aber das mit dem Üben würde ich gern einschränken: Wenn ich etwas nicht verstanden habe und trotzdem übe, übe, übe, wird es meistens nicht oder höchstens kurzfristig besser. Erst wenn ich etwas zumindest größtenteils verstanden habe, kann ich es trainieren, dann hilft das Üben. Und gerade in diesem Verstehensprozess hilft das Sprechen ungemein, da haben wir auch in unserer Studie angesetzt.
Wie können Eltern dabei sinnvoll unterstützen?
Für viele Eltern geht es wahrscheinlich erstmal darum, die Scheu davor zu verlieren, überhaupt über Mathematik zu sprechen. Und dann ist es wichtig, sich darauf einzulassen, was die Kinder sagen, erklären und begründen. Man muss nur darauf gefasst sein, dass die Kinder manchmal ganz anders denken und rechnen als man es vielleicht selbst gelernt hat.
Könnten dann Lerngruppen mit anderen Jugendlichen helfen?
Definitiv! Aus meiner Erfahrung als Forscherin bin ich insgesamt ein Fan von Interaktion, Kommunikation und Austausch. Und das muss nicht immer mit einem in der Sache „wissenderen“ Erwachsenen sein. Gerade wenn solche Dinge innerhalb der Peergroup stattfinden, passieren noch viele andere Dinge: Da lernt man, gemeinsam zu lernen und zu arbeiten. Und da stellt man auch mal Fragen, die man einer Lehrkraft oder der Mutter niemals stellen würde.
„Sprache und Mathematik: Wie Reden beim Rechnen hilft.“ Fotos: tonodiaz auf Freepik; privat