„Die Eltern üben das Lesen mit ihren Kindern nicht vernünftig!“ – „Sind die denn zu faul, ihren Kindern vorzulesen?“ – „Die sollten doch einfach mal zusammen in die Bücherei gehen!“ – „Gibt es bei denen denn kein einziges Buch zu Hause?“: Klagen wie diese schallen durch unzählige Schulhäuser in Deutschland. Lehrerinnen und Lehrer können sehr ungehalten werden, wenn ihre Schüler zu wenig Fortschritte beim Lesen machen – gerade weil sie wissen, wie wichtig diese Fähigkeit für den Schulerfolg ist.
Besonders häufig sind diese Konflikte dort, wo Schülerinnen und Schülern in ihren Familien wenig von dem erlebt haben, dass in Deutschland als klassische Bildung gilt. Noch mehr, wenn ihre Eltern einen Migrationshintergrund haben. Und erst recht, wenn diese Eltern selbst nur eine niedrige Schulbildung haben: Dann hat es das Thema Lesen wirklich in sich.
Vorlesen ist nicht überall fester Bestandteil der Eltern-Kind-Beziehung
So warb Eylem Emir einmal in ihrer Stadtteilmütter-Gruppe für das Vorlesen. Die Mütter zeigten sich befremdet. Eine syrische Mutter brachte es auf den Punkt: „Wieso soll ich vorlesen? Das ist Sache der Schule!“ Immer wieder versuchte Eylem, die Mütter fürs Vorlesen zu gewinnen, mit wenig Erfolg. Vor allem die besagte Mutter blieb lange ablehnend. Sie sagte: „Mir hat auch niemand vorgelesen. Kein einziges Mal wurde mir vorgelesen. Ich habe das Lesen auch in der Schule gelernt. Und wenn ich etwas lesen muss, lese ich es. So werden die Kinder auch in der Schule das Lesen lernen: Wenn sie etwas lesen müssen, dann lesen sie das.“
Eines Tages waren die Mütter gemeinsam in der Bücherei, sie liehen sich Bücher aus und jede bekam den Auftrag, zu Hause ein Buch vorzulesen. Beim nächsten Treffen sollten sie dann davon erzählen. Nach ein paar Wochen brach es aus der syrischen Mutter beim Stadtteilmütter-Treffen vor allen anderen Müttern heraus: „Ich habe es dann doch getan. Ich habe einmal vorgelesen, dann noch mal … und plötzlich waren meine Kinder ganz wild darauf, dass Mama vorliest. Und jetzt lese ich seit Wochen vor. Und es ist so schön. Unsere Bindung hat sich verbessert. Wir sind uns näher gekommen. Unsere Beziehung ist viel fester und schöner.“ Dann fing die Mutter zu weinen an und sagte: „Ich bin so traurig wegen der Jahre, in denen ich nicht vorgelesen habe. Wir haben so vieles verpasst.“
Leseabneigung hat verschiedene Gründe
In der deutschen Kultur ist das Lesen längst so fest und positiv verankert, dass wir uns kaum vorstellen können, wie jemand ohne Bücher aufwachsen könnte. Doch in anderen Gegenden der Welt ist das Lesen keine selbstverständliche Tugend – mancherorts ist es sogar verpönt, dass Kinder sich mit Büchern beschäftigen.
Was Lehrkräfte berücksichtigen sollten, wenn ihre Schülerinnen oder Schüler schlecht lesen:
- Viele Eltern mit geringer Schulbildung lesen selbst nicht gerne und/oder nicht gut. Sie es nicht richtig gelernt. Das betrifft zum Beispiel viele Geflüchtete, aber auch etliche deutschstämmige Familien, die mit geschrieben Wörtern wenig anfangen können.
- Manche Migrantinnen und Migranten sind sogar primäre Analphabeten, haben nie eine Schule besucht und demnach Schreiben und Lesen nicht gelernt. Andere können auf Arabisch schreiben und lesen, aber die lateinische Schrift beherrschen sie eben nicht.
- Das mit dem Lesen bedeutet für solche Eltern Stress. Wenn sie ihre Kinder dabei nicht unterstützen können, schämen sie sich und reagieren deshalb verärgert, weil die deutsche Schule sie vor ihren Kindern als inkompetent dastehen lässt.
- In den Heimatländern vieler unserer Schülerinnen und Schüler herrschen ganz andere Erwartungen an Bildung, Erziehung und Schule. Sehr vieles, was hierzulande als gemeinsame Aufgabe von Elternhaus und Lehrkräften gilt, wird dort als Aufgabe der Institution „Schule“ angesehen, in die sich die Eltern nicht einzumischen haben.
- In manchen Kulturen/Familien wird zwar nicht gelesen, aber erzählt. Dies ist keinerlei Grund zu Herablassung. Erzählen erfordert kognitive Kompetenzen wie „sich etwas merken“ und „das Gehörte weitergeben können“. Auch Erzählen schafft eine Beziehung zwischen Erzählendem und Zuhörer. Eylem Emir: „Meine Oma hat meiner Mutter nicht und meine Mutter hat mir nicht vorgelesen. Aber mir wurde viel erzählt. Es herrschte eine wunderbare Erzählkultur.“
- In sogenannten Kollektiv-Kulturen wird es nicht gerne gesehen, wenn ein Kind sich mit einem Buch aus der Gemeinschaft zurückzieht. Dies gilt als Affront und Respektlosigkeit gegenüber den anderen Anwesenden. Schnell haften an Kindern und Jugendlichen, die lesen, Stempel wie „desinteressiert an anderen“ und „schlechte Manieren“.
- Manche Eltern bekommen geradezu Panik, wenn ihr Kind viel liest. Denn das Kind begibt sich damit in eine Welt, die den Eltern fremd ist, und es entfernt es sich dadurch von ihnen. Eylem Emir: „Da nehmen die Erziehenden schon mal einem Kind das Buch weg, weil sie sich Sorgen machen. Denn wer viel liest, denkt, fühlt und verhält sich nun einmal anders. Und ein Verhalten, das von der Norm abweicht, wird vielerorts nicht gerne gesehen.“
Loslösen von der Leseskepsis
Für Familien mit einem solchen Hintergrund ist es enorm schwierig, unsere Wertschätzung gegenüber dem Lesen zu verstehen, zu akzeptieren und ihr sogar zu folgen. Noch einmal zurück zum Beispiel mit der syrischen Mutter und dem, was ihr Fall deutlich macht:
1. Es wird nicht gelingen, Menschen eine für sie völlig neue Haltung überzustülpen.
2. Menschen brauchen Zeit, um sich umzustellen.
3. Menschen brauchen die Beziehung zu anderen Menschen, denen sie vertrauen, um sich umstimmen, überzeugen und motivieren zu lassen.
Wenn wir leseskeptische Eltern überzeugen möchten, müssen wir mit ihnen auf Augenhöhe kommunizieren. Das bedeutet, ihre Erfahrungen und Bedenken anzuhören und ernst zu nehmen. Leseförderung kann in diesen Familien nur funktionieren, wenn sie begleitet statt zu fordern.
Impulse von Lehrkraft zu Lehrkraft
Für uns Lehrkräfte ist es wichtig, die Eltern ohne Überheblichkeit dort abzuholen, wo sie sind. Es hilft nichts, zu erwarten und zu beklagen, was sein sollte. Die Grundlage ist das, was ist. Wir müssen bei allem, was wir in Richtung „Lesen“ unternehmen, im Hinterkopf behalten, wie verheerend sich ein negatives Lese-Selbstkonzept für Kinder und Jugendliche auswirkt, wie schlimm es also ist, wenn sich das Selbstbild festsetzt: „Ich bin kein Leser. Ich mag nicht lesen.“ Zur negativen Grundhaltung mancher Eltern sollte auf keinen Fall auch noch ein negatives Selbstbild der Schülerinnen und Schüler kommen.
Darüber hinaus müssen wir Lehrkräfte uns leider eingestehen, dass viele der lesemotivierenden Aktionen, die wir lange Zeit mit Leseförderung gleichgesetzt haben, für schwache Leserinnen und Leser geradezu kontraproduktiv wirken können: Dann nämlich, wenn sie diesen Kindern nur wieder vor Augen führen, wie abgeschlagen sie sind. Bei Vorlesewettbewerben etwa bleiben die schwächeren Leserinnen und Leser in kürzester Zeit chancenlos zurück. Und auf den beliebten Lesenächten müssen sie mit ansehen, wie die Augen ihrer Mitschüler gebannt über die Seiten fliegen, während sie selbst sich mühsam von Zeile zu Zeile quälen. Solche Aktionen beschädigen Selbstkonzept leseschwacher Kinder eher weiter, als dass sie sie motivieren.
Wichtig ist es statt dessen, gezielt auf die unterschiedlichen Leistungsniveaus einzugehen, So kann es zum Beispiel helfen, wenn schwache Leser während des Stilllesens via Kopfhörer ein textidentisches Hörbuch anhören können. Oder wir stellen ihnen bewusst Bücher zur Verfügung, die ihrem Lesevermögen und ihrem Alter entsprechen.
Über die Autorinnen
Dieser Artikel ist Teil der Serie „Bildungsfern? Bildungs-anders! Eine Übersicht aller weiteren Artikel finden Sie hier. Illustrationen: Ariane Dick Bellosillo/Magazin SCHULE
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