Zu schüchtern, zu vorlaut, zu unruhig, zu still: Wenn wir ehrlich sind, kann man es uns Eltern schwer recht machen. Die meisten von uns haben zumindest manchmal ein „schwieriges Kind“, irgendetwas haben wir an ihm regelmäßig auszusetzen. Natürlich meinen wir es dabei nur gut, weil wir zu sehen glauben, dass sich unser Kind mit seiner Art selbst im Weg steht. Aber können wir uns wirklich sicher sein? Was, wenn die vermeintlichen Schwächen dieses jungen Menschen in Wirklichkeit seine Stärken sind?
„Schwieriges Kind“: Was, wenn Schwächen eigentlich Stärken sind?
Die Autorin und ehemalige Lehrerin Heidemarie Brosche hatte da so einen Verdacht: Als ihre eigenen Kinder erwachsen wurden, konnte sie zusehen, wie sich einiges von dem, was sie selbst oder die Lehrkräfte regelmäßig bemängelt hatten, zu vorteilhaften Wesenszügen entwickelte. Und hatte sie nicht selbst früher immer als zu mitteilsam gegolten – eine Eigenschaft, die ihr später als Lehrerin sehr zugute kam? Schnell bemerkte sie, dass sich auch viele andere Menschen an solche „Zu“-Schreibungen erinnerten. Einige hatten darunter sogar lange gelitten – aber dann doch ihren Weg gemacht. Aus dieser Sammlung ist ein Buch geworden, das Mut macht.
Für Magazin SCHULE beschreiben hier drei sehr unterschiedliche Menschen, warum sie früher wie bei Erwachsenen als schwierige Kinder gesehen wurden – und warum sie doch genau so richtig waren:
Mich hat das erfolgreich gemacht, was mich in der Schule oft in Schwierigkeiten gebracht hatteWalter Trummer, Karriereberater
Sicher war ich als Schüler nicht einfach. Meine Noten waren schlecht, und ich hatte ganz offensichtlich das Bedürfnis, mich zu präsentieren. Zum einen ließ ich mich zum Klassensprecher wählen, zum anderen gab ich den Klassenclown, sooft sich die Möglichkeit bot. Letzteres sehr zum Leidwesen meiner Lehrer. Sie versuchten meine komödiantischen Einlagen nach Kräften zu unterbinden. Nach vielen Tiefs und zwei Klassenwiederholungen verließ ich die Schule – völlig lustlos und ausgebrannt. Ich hatte keinen Abschluss, noch nicht mal den der Hauptschule.
Genau die Eigenschaft als „schwieriges Kind“ hat mich aber später erfolgreich gemacht, die mich in der Schule so oft in Schwierigkeiten gebracht hatte. An meiner Akademie stehe ich als Dozent ja auch irgendwie auf der Bühne. Und wenn ich auf dieser Bühne Wissen vermitteln und dabei noch gut unterhalten kann, sind die Leute dankbar und kommen gerne zu mir. Für mich selbst ist es genau das, was mich mit Freude und Energie erfüllt.
Wenn ich heute reflektiere, wie es anders hätte laufen können, komme ich zu dem Schluss: Hätten meine Lehrer, anstatt mich immerzu zu kritisieren, meine Energien in andere Bahnen gelenkt, hätte ich ihren Unterricht nicht so oft gestört. Wir hatten damals zum Beispiel eine Theater-AG, aber keiner hat mich ermutigt, sie zu besuchen. Wäre es mir möglich gewesen, mich auf einer anderen Bühne als der des Unterrichts zu produzieren, hätten sie es bestimmt leichter mit mir gehabt. Beruflich wäre ich vermutlich denselben Weg gegangen, aber in der Schule wäre nicht so viel Energie in die falsche Richtung geflossen.
Nur mein Vater versicherte mir: Das wird schon! Und es wurde auch Susanne Schuler, Hauptschullehrerin
Ich war als Kind das, was man viel zu ruhig nannte. In meiner Grundschulzeit habe ich vielleicht zweimal den Mund aufgemacht. Meine Lehrerin ließ meine Mutter – selbst Lehrerin an der Grundschule, die ich besuchte – immer wieder wissen, ich sei … viel zu ruhig eben. Meine Mutter gab das an mich weiter und wurde nicht müde, mir zu versichern, wenn ich schon Lehrerin werden wolle, reiche es bei mir allenfalls für die Grundschule. Bei älteren Jugendlichen könne sich eine so ruhige Person wie ich niemals durchsetzen.
Geholfen hat mir das nicht. Unterstützend wirkte eher mein Vater, Leiter einer Förderschule, der Zuversicht verströmte und mir versicherte: „Das wird schon!“ Und es wurde auch. Je älter ich wurde, umso besser fühlte ich mich in meinem Freundeskreis, in der Peergroup also. Ich spürte, dass man mich respektierte und wertschätzte, ich stellte fest, dass man mir zuhörte.
Heute gelte ich als eloquent und unterrichte Halbwüchsige im Alter von 14 bis 18 Jahren an einer Großstadt-Brennpunktschule. Ich habe mittlerweile gelernt, meinen Mund aufzumachen und die Sorgen und Probleme meiner Schüler zu thematisieren. Meinen Beruf übe ich sehr gerne aus. Probleme mit Schülern gibt es immer, aber es gelingt mir – aus meiner Jugend heraus und im intensiven Austausch mit Kollegen –, diese Probleme in positive Bahnen zu kanalisieren. Vielleicht habe ich ein bisschen mehr Verständnis für die sehr ruhigen Schüler als andere.
Ein Spruch meiner Mutter war: Du kannst von allem ein bissl, aber zusammen nixJaromir Konecny, Autor
Meine Mutter hat immer zu mir gesagt: „Du wächst für den Galgen.“ Ich habe schon immer sehr viel gelesen, deswegen aber auch sehr viel angestellt. Lesen habe ich mit etwa vier gelernt. Als eine alte Frau unten am Anfang unserer Straße gestorben war, sind mein Freund und ich in ihrem leeren Haus eingebrochen, da waren wir fünf Jahre alt. Die Alte wurde in der Ortschaft für eine „Hexe“ gehalten. Das wollten wir untersuchen.
Mein Freund war von einer Nische in der Wand fasziniert. „Das ist sicher ein Kamin“, sagte ich. „Davon habe ich in einem Buch gelesen.“ Aus dem ganzen Haus trugen wir Papier zusammen, machten damit die Nische voll und zündeten das an. Es war kein Kamin, und wir wurden von der Feuerwehr gerettet. Klar glaubte uns niemand, dass uns der Forscherdrang zu dem Einbruch getrieben hatte.
Ständig wollte ich etwas ganz Großes machen und brachte meine Eltern zur Verzweiflung damit. Schon mit zwölf habe ich für meine Mutter einen Krimi geschrieben, der aber so unanständig war, dass mir meine Mutter dafür zwei Wochen Hausarrest verpasste.
Nach der samtenen Revolution – ich war zwischenzeitlich nach Deutschland geflüchtet – durfte ich meine Mutter endlich besuchen. Ich habe ihr mein Diplomzeugnis gezeigt, sie hat aber nur gelacht: „Du hast schon in der Schule Stempel aus einer rohen Kartoffel geschnitzt und damit Arztatteste gefälscht. Das Diplom hast du sicher selbst gemacht.“ Meinen Summa-cum-laude-Doktortitel hat sie mir auch nicht geglaubt. Ein anderer Spruch meiner Mutter zu mir war: „Du kannst von allem ein bissl, aber zusammen nix.“
Dass mir diese Bemängelungen geholfen haben, glaube ich nicht. Meine Eltern haben viel falsch gemacht bei meiner Erziehung, die alte Schule eben. Ich war auch kein pflegeleichtes Kind und ein braver Jugendlicher schon überhaupt nicht. Das Wichtigste aber ist: Meine Mutter hat mich geliebt, und das war auch das Beste, was sie mir geben konnte.
Insgesamt war dann ja doch vieles positiv: Da mich alle zwei Monate etwas anderes maßlos begeisterte, behielt ich kein Fach fürs Leben, lernte aber viel Verschiedenes. Das ist sehr gut für die Schriftstellerei. Außerdem musste ich mich gegen diese ganzen Komplexe wehren, indem ich verinnerlichte, dass jede tragische Sache auch ihre lustige Seite hat. Mit 16 war ich unglücklich, wenn Leute über mich lachten, heute freue ich mich darüber. Zu Beginn der 90er-Jahre haben mich deutsche Bekannte gefragt, was ich in Deutschland werden wolle. „Schriftsteller“, sagte ich. Einige glaubten, ich scherze, andere erklärten, das schaffe ich mit meinem Deutsch nie. Jetzt bin ich ein Summa-cum-laude-Doktor in Naturwissenschaften und ein relativ bekannter Jugendbuchautor.
Schwieriges Kind: „Bleib, wie du bist!“ – Magazin SCHULE – Fotos: standret/freepik; René Carstanjen; privat; Gisela Weinhändler