Herr Professor Frances, Sie gelten als scharfer Kritiker des Diagnosehandbuchs DSM. Zweifeln Sie heute, im Ruhestand, etwa an Ihrer eigenen Zunft?
Ganz im Gegenteil. Ich bin ein leidenschaftlicher Verfechter der Psychiatrie. Was ich aber kritisiere, sind die neuen Leitlinien. Wir erleben derzeit eine Inflation angeblicher seelischer Leiden. Das neue DSM-5 enthält absurde Diagnosen, die ganz normale Probleme, die das Leben nun mal mit sich bringt, zu behandlungsbedürftigen Krankheiten erklärt.
Zum Beispiel?
Wer länger als zwei Wochen nach dem Tod seines Partners noch trauert, könnte demnächst als depressiv eingestuft werden. Besonders schlimm finde ich, dass man kindliche Tobsuchtsanfälle künftig als „Dysruption Mood Dysregulation Disorder“ einstufen könnte. Wir reden hier nämlich über Kinder, die schlicht und einfach Wutanfälle haben.
Heranwachsen steckt nun mal voller ProblemeAllen Frances
Sie beklagen die Entwicklung in der Kinderpsychiatrie, wo sich angeblich Pseudo-„Epidemien“ häufen …
… woran natürlich die Pharmaindustrie ein Interesse hat, weil diese Kinder Dauerkunden bleiben. Binnen zweier Jahrzehnte ist die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung ADHS in Amerika um das Dreifache gestiegen. Bipolare Störungen, also manisch-depressive Erkrankungen, werden sogar 40-mal häufiger diagnostiziert und oft mit Antipsychotika behandelt, die große Risiken bergen. Demnächst also noch Wutanfälle als Krankheitsbild. Ein Irrsinn. Dabei ist nichts so schwierig, wie psychiatrische Diagnosen bei Kindern zu stellen: Sie sind in der Entwicklung, und es gibt keine Krankheitsgeschichte. Erhalten sie eine Überdiagnose, wird sie das ihr Leben lang als Stigma begleiten.
Auch in Deutschland gelten 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen als psychisch auffällig. Allein die Zahl der ADHS-Fälle ist in den vergangenen Jahren um 42 Prozent gestiegen. Viele Eltern tröstet es, dass die Auffälligkeit ihres Kindes endlich als Krankheit anerkannt wird – und nun sagen Sie: alles übertrieben?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Wer krank ist, muss behandelt werden, auch mit Medikamenten, auch Kinder. Aber wir müssen genau hinsehen. Handelt es sich wirklich um eine Störung? Oder erklären wir allmählich Kindheit selbst zur Krankheit? Das Heranwachsen steckt nun mal voller Probleme, und Kinder können weiß Gott anstrengend und nervig sein. Ich bin selbst Großvater von fünf Enkeln, darunter achtjährige Zwillingsbuben, um die ich mich täglich kümmere. Ich weiß, wovon ich spreche. Es gibt eine US-Studie, nach der 83 Prozent aller Kinder und Jugendlichen eine Störung entwickeln, ehe sie 21 Jahre alt sind. Das ist doch lächerlich. Die Jugend ist nicht so viel auffälliger als früher. Wir kleben ihr nur neue Etiketten auf.
VITA und LESE-TIPP
Allen Frances, 70, ist emeritierter Professor für Psychiatrie an der Duke University in Durham, North Carolina. Er leitete die vierte Revision der Diagnose-Bibel DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Psychiatric Disorders), eine der wichtigsten Instanzen darüber, was als psychisch krank gilt. Die neueste Auflage, DSM-5, kritisiert er jedoch. Sein Vorwurf: zu viele
Diagnosen, zu viele Psychopillen. Frances hat zwei Kinder und fünf Enkel.Vor einer Inflation der Diagnosen in der Psychiatrie warnt Allen Frances‘ aktuelles Buch „Normal“ (Dumont Verlag, 22 Euro) – ein leidenschaftlicher Aufruf, normale Seelenzustände wie Sorgen, Trauer und Wut nicht zu geistigen Krankheiten zu erklären
Woran liegt das?
Wir wollen Dinge benennen können, dann fühlen wir uns sicherer. Experten fürchten, einen Patienten zu übersehen, aber das darf nicht in Hysterie umschlagen. Wenn Kinder schwierig werden, liegt das oft am modernen Stress: in der Schule, in der Familie. Gerade das heutige Schulsystem lässt zu wenig Raum, Dampf abzulassen bei Sport oder Freizeit. Wenn Kinder dann zappelig werden, geraten Eltern unter Druck. Sie sind perfektionistisch, sie haben wenig Zeit, und sie empfinden Schuld, wenn das Kind nicht funktioniert.
Ist Erziehung heute schwieriger?
Ich denke schon. Familien sind geschrumpft, es herrscht mehr Belastung und weniger Unterstützung. Trotzdem sollten Väter und Mütter ihren Instinkten vertrauen.
Welchen Rat geben Sie besorgten Eltern?
Wenn Sie ein forderndes Kind haben, denken Sie nicht als Erstes an eine psychische Störung. Atmen Sie tief durch, bemitleiden Sie sich ein bisschen, und vertrauen Sie darauf, dass aus den meisten Problemkindern ganz vernünftige Leute werden. Völlig normal, dass ein pubertierendes Mädchen mal unter Angstzuständen leidet oder Jungs ruppig sind. Kinder ändern sich, und die Zeit ist eine große Heilerin. Schließen Sie aus, dass Drogen im Spiel sind. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind genug Muße hat. Wenn Sie doch zum Arzt gehen, stellen Sie Fragen! Akzeptieren Sie keine übereilte Diagnose, womöglich von nur einem Doktor nach kurzem Gespräch! Das wäre eine reine Momentaufnahme in einer problematischen Phase, die sich vielleicht ganz von allein verwächst.