Vor den Ferien haben meine Kinder wieder Zeugnisse erhalten. Neben Noten stehen darin Beurteilungen zum Lern- und Sozialverhalten. Da geht es um planvolles, effektives und zielgerichtetes Arbeiten, um Selbstständigkeit, auch um soziales Verhalten und natürlich um den Zustand des Arbeitsmaterials. Auf eine spezielle Eigenschaft und Fähigkeit wird jedoch offensichtlich wenig Wert gelegt: Ist das Kind neugierig? Stellt es gute Fragen?
An den Schulen herrscht die Diktatur der Abfrage
Das ist nicht überraschend. Schulen sind nicht der Ort, an dem von Kindern erwartet wird, dass sie Fragen stellen. Die Rollen sind klar verteilt: Die Lehrkräfte fragen, von den Kindern werden passgenaue Antworten erwartet – welche ihnen vorher beigebracht wurden. An Schulen herrscht die Diktatur der Abfrage.
Amerikanische Forscher haben festgestellt, dass Kinder im Kindergartenalter im Schnitt 100 Fragen pro Tag stellen. Erreichen sie die weiterführende Schule, haben sie das Fragenstellen weitgehend eingestellt oder verlernt. Ich habe zwei Kinder, und es stört mich gewaltig, mit anzusehen, wie ihnen Neugier und Interesse von der Gesellschaft fast systematisch abtrainiert werden.
Fragen stellen bedeutet, neue Erkenntnisse gewinnen und Probleme besser verstehen zu wollen
„Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm!“ So heißt es am Anfang jeder Folge der „Sesamstraße“. Damit wir nicht vergessen, worauf es beim Lernen ankommt. Aber Lehrer und Bildungspolitiker schauen offensichtlich nicht mehr die „Sesamstraße“. Ihnen geht es um Wissen und Antworten, nicht um Fragen. Und das ist nicht nur in der Schule so. Wann hat Ihnen gegenüber ein Bekannter das letzte Mal anerkennend zum Ausdruck gebracht, dass Sie gute Fragen stellen? Haben Sie einen Vorgesetzten, der durch Fragen führt statt durch Vorgaben?
Der Zweck von Fragen ist es, zu neuen Erkenntnissen zu kommen, Probleme besser zu verstehen, Denkimpulse zu geben, neue Perspektiven zu öffnen. Das in hierarchischen Strukturen geläufige inquisitorische Abfragen ist dagegen ein destruktives Machtinstrument. Auch die Schule ist in diesem Sinne eine hierarchische Institution.
Im Mittelpunkt steht das Wissen, nicht das Verstehen. Es wird gepaukt. Informationen werden gelernt, um in Arbeiten abgefragt zu werden – faktisch die Allgegenwart des Vokabeltests. Tiefes Verständnis, die Fähigkeit zur Übertragung von Wissen in andere Sinnzusammenhänge entsteht dadurch nicht. Reine Informationen haben zudem eine kurze Halbwertzeit. Ihnen fehlen in gewisser Hinsicht die Haken, mit denen sie sich im Gehirn festsetzen könnten.
Ganz anders, wenn man sich mit einem Thema auseinandergesetzt hat, Probleme identifiziert, Fragen gestellt und selbst nach Lösungen gesucht hat. Dann kann Information wirksam werden und landet nicht nur auf der zerebralen Abraumhalde.
Die meisten Organisationen sind auf Fragen nicht eingestellt. Genauso wie die Menschen, die in ihnen arbeiten. Jeder kennt die unangenehmen Momente am Ende einer Präsentation oder eines Vortrags. Die Aufforderung danach, Fragen zu stellen, ist mittlerweile meistens reine rhetorische Konvention, die nicht mehr mit der Erwartung verbunden ist, dass es ein breites Bedürfnis nach Nachfragen gibt. In den Zeitplänen von Konferenzen spielt die Zeit für Zuschauerfragen keine Rolle mehr. Es herrscht Schweigen, wo doch eigentlich kontroverse Diskussion stattfinden sollte.
Schüler sind es gewohnt, das zu glauben, was ihnen gesagt wird
Nicht viel anders ist es im Schulunterricht. Schüler sind es gewohnt, das zu glauben, was ihnen gesagt wird. Wie häufig passiert es, dass sie nachfragen? Infrage stellen? Wieso? Weshalb? Warum? Immer wieder. Bis die Neugier gestillt ist. Die Neugier? Ist das noch ein Geisteszustand, der in Schulen gezielt kultiviert wird? Auch dieser Begriff fehlt in Schülerbewertungsbögen. Jemand, der interessiert ist, der erkennt, dass er etwas noch nicht ganz verstanden hat, nachhakt und hartnäckig nach Antworten auf seine Fragen sucht, sich mit einfachen Antworten nicht sofort zufriedengibt: Ist damit nicht das Idealprofil eines Schülers beschrieben? Geradezu schutz- und in hohem Maße förderwürdig?
Wir haben es schlicht verlernt. Fragen ist keine Tugend, sondern für viele eine Mutprobe
Es kommt immer wieder vor, dass unsere Kinder von einem Problem berichten, das durch einfaches Fragen Stellen hätte gelöst werden können oder gar nicht entstanden wäre. Im Geschäft fragen, ob die Jacke auch noch in einer anderen Größe vorhanden ist. In der Eisdiele um eine Portion Streusel bitten. Sich bei einem Passanten nach dem richtigen Weg erkundigen. Sich beim Lehrer noch einmal rückversichern, ob man es richtig verstanden hat. Aber viele dieser Fragen werden nicht gestellt. Auch Kanzlerin Merkels Verteidigungsrhetorik mit der Beschwörung von Alternativlosigkeit ist nichts anderes als das Verbot
von Fragen.
Erstens gibt es keine dummen Fragen, zweitens oft nicht nur eine Antwort
Es wäre sinnvoll, wenn Kinder in der Schule Fragen und Techniken des Fragenstellens erlernen würden, das Fragen also endlich wieder den Status einer wichtigen intellektuellen Kompetenz erhielte. (Ein sehr lesenswertes Buch zum Thema: „Die Kunst des klugen Fragens“ von Warren Berger, Berlin Verlag, 19,99 Euro.) Die Schulstunde würde zur Fragestunde. Hausaufgaben bestünden aus offenen Fragen. Schülern würde vermittelt, dass es erstens keine dummen Fragen und dass es zweitens auf komplexe Fragen nicht nur eine Antwort gibt.
In Zeiten des kontinuierlichen Wandels ist es fatal zu meinen, man habe alle Antworten schon. Fragen sind der Schlüssel zu Innovationen. Fragen sind der Prüfstein, ob Annahmen richtig sind und das Bestehende eine Chance auf Bestand hat. Ohne die Fähigkeit und die Bereitschaft zum kritischen Fragen Stellen sind wir auf die Zukunft nicht gut vorbereitet.
Drei bis Maximal fünf Warum-Fragen hintereinander führen zuverlässig zum Kern einer Aussage
Die wichtigste und zugleich penetranteste dieser Fragen heißt: Warum? Leider wird sie von Erwachsenen zu wenig genutzt. Wir neigen dazu, sofort das Naheliegende zu glauben, die einfachste Lösung zu wählen, unseren Vorurteilen zu folgen – statt noch einmal nachzuhaken. Der beste Schutz dagegen: die Fünf-Warum-Technik. Spätestens beim fünften Warum sind wir beim Kern einer Aussage oder Frage angelangt. Meistens reichen schon drei Nachfragen. Entwickelt hat diese Technik die japanische Autofirma Toyota, um zuverlässig die wahren Ursachen für Produktprobleme zu finden. Wobei, was heißt hier „entwickelt“? Einer der innovativsten Autokonzerne der Welt erklärt etwas zur Methode, was jedes Kind naturgegeben macht: sich nicht mit der erstbesten Antwort abspeisen zu lassen.
Wenn das Warum-Pulver verschossen ist, Problem und Gründe offengelegt wurden, dann kommt die Zeit der Was-wäre-wenn-Fragen. Diese Fragen können komplett neue Perspektiven öffnen und Lösungen hervorbringen. In ihnen können Ideen wild kombiniert und mutige Gegenentwürfe zum Status quo formuliert werden. Das ist oft genug eine Provokation: Das Bestehende grundsätzlich infrage zu stellen und bewusst nach Alternativen zu suchen, damit sind die meisten Organisationskulturen überfordert. Schon der chinesische Philosoph Konfuzius wusste: „Wer fragt, ist ein Narr für eine Minute. Wer nicht fragt, ist ein Narr sein Leben lang.“
Die Frage gehört zu den wirkungsvollsten rhetorischen Waffen
Fragen Stellen macht klug. Machen Sie sich also nicht länger zum Narren in der Antwortgesellschaft. Die Frage gehört nicht nur zu den wirkungsvollsten rhetorischen Waffen. Darum geht es hier aber nicht. In einer sich immer schneller ändernden, immer komplexer und undurchsichtiger werdenden Welt, in der die Informationsflut immer neue Pegelstände erreicht, wird reines Faktenwissen zunehmend obsolet, während die Fähigkeit zu fragen, Informationen infrage zu stellen und von unterschiedlichen Positionen kritisch zu hinterfragen, eine immer bedeutendere Rolle einnimmt.
Verkneifen Sie sich also häufiger mal die schnelle Antwort. Seien Sie dem gegenüber, was Sie zu wissen glauben, vorsichtiger, stehen Sie zu Ihrem Nichtwissen und bleiben Sie neugierig. Unterdrücken Sie Ihren Kindern gegenüber den Antwortreflex. Fragen ist Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Wer fragt, ist selbstbestimmt und in der Lage zu reflektieren. Er übernimmt Verantwortung, weil er mehr wissen will und verstehen möchte. Das zu vermitteln ist wesentlicher Teil des elterlichen wie schulischen Erziehungsauftrags.
Konsultatives Lernen – eine neue Unterrichtsform der Zukunft?
Wie kann man erreichen, dass Kinder in der Schule häufiger „Wieso? Weshalb? Warum?“ sagen? Kleine Schülergruppen stellen sich selbst eine Frage – zu einem Thema, das sie interessiert – und suchen dann gemeinsam nach Antworten. Dabei dürfen auch große, grundsätzliche Fragen gestellt werden. Die Lehrkräfte müssen sich zurückhalten, einmal nicht urteilen, bewerten und ausrichten. Die Zeit dafür könnte man der unproduktiven, reinen Wissensvermittlung wegnehmen.
Mit Fragen antworten – das ist keine leichte Aufgabe, aber eine, die man trainieren kann. Dabei erlernen Schüler eine Kernkompetenz, die Schulfach werden sollte.
Kommentare sind geschlossen.