Ey, Schäfer, was geht ab?“, tönt es laut durch den Schulflur, woraufhin Schäfer seinen Kumpel Fritz im Vorbeigehen kurz mit der „Gettofaust“ begrüßt
(für die Uncoolen unter uns: Dabei formen die Grüßenden jeweils eine Hand zur Faust und stoßen sie aneinander). Fußballergebnisse werden ausgetauscht, dann geht es weiter Richtung Klassenraum. Ein normales Morgenritual unter Teenagern – nur ist Schäfer in diesem Fall der Lehrer von Fritz. Und unsere Schule kein Sportplatz, sondern ein Gebäude, in dem man wunderbar eine Neuverfilmung der „Feuerzangenbowle“ drehen könnte.
Muss ich meinen Schülern Details aus meinem Privatleben erzählen, um eine gute Lehrerin zu sein?
Nun erwarte ich deshalb von meinen Schülern zwar weder Knicks noch Diener, wenn sie mir über den Weg laufen. Doch möchte ich auch nicht wie eine Mitschülerin oder gar Freundin begrüßt werden. Mir reicht ein schlichtes „Guten Morgen“ oder von mir aus auch ein norddeutsches „Moin“. Dem Kollegen Schäfer, der mittlerweile im Klassenzimmer angekommen ist und lässig an ein Schülerpult gelehnt aus seinem privaten Nähkästchen plaudert, mögen meine Ansichten altmodisch erscheinen. Ich plaudere jedoch mit meinen Schülern lieber über mathematische und biologische Inhalte. Das liegt mir einfach mehr. Jedenfalls in Gruppen mit Minderjährigen, die bei mir etwas lernen wollen/sollen und die ich am Ende benote. Ich muss meinen Schülern nicht Details aus meinem Privatleben erzählen, um eine gute Lehrerin zu sein. Und ich muss auch nicht so tun, als ob ich den Musikgeschmack meiner Schüler teile, obwohl ich auf Konzerten eher den Eltern anstatt meinen Schützlingen begegne. Dachte ich jedenfalls lange Zeit.
Wenn ich jetzt den neuen Kollegen Schäfer so beobachte, wie lässig-cool er mit den Schülern umgeht, werde ich doch ein wenig nachdenklich: Biedert er sich zu sehr an? Schleimt sich regelrecht bei den Schülern ein? Oder bin ich zu spießig? Zu distanziert? Zu unlocker?
Um das zu klären, wage ich einen Selbstversuch, quasi das Hagemann-Experiment. Weil ich nicht die Mutigste bin, wähle ich dazu eine Zielgruppe kurz vorm Abitur (wenn es schiefläuft, sind die Probanden zumindest bald weg) und als Ort nicht die Schule mit viel Publikum, sondern ein kleines Dörfchen an der Nordsee. Das Ganze nenne ich nicht Sozialstudie, sondern mehrtägige biologische Exkursion. 18 Schüler und ich, für drei Tage vereint in einer Selbstversorgerunterkunft. Gewohnheitsmäßig duze ich die Gruppe, lasse mich aber selbstverständlich siezen. Schluss damit! Ich biete den Schülern während des gemeinsamen Kochens das Du an und ziehe mich auch abends nicht wie sonst gern in mein Reich zurück, sondern mische mich im Gruppenraum unter die Schülerschar.
Bei der Rückkehr erkenne ich, dass mein Projekt gescheitert ist
Die Stimmung ist heiter, wir spielen Gesellschaftsspiele, und die Schüler üben den neuen Umgangston: „Martina, gibst du mir bitte mal den Würfel?“ Ich zucke kurz zusammen: Ach ja, die meinen mich. Üben muss scheinbar auch ich: Lockersein. Eine-von-ihnen-sein. Coolsein. Aber über mehr als ein schlechtes Rollenspiel kommen meine Schüler und ich nicht hinaus. Die Schüler geben sich Mühe, mich zu integrieren. Ich gebe mir Mühe, jugendlicher zu sein, als ich bin. Spiele alberne Spiele (Warum sind „Wahrheit oder Pflicht“ und „Werwolf“ nur so beliebt in Schülerkreisen?) und versuche, nicht auszustrahlen, wie blöd ich diese Partyspiele im Grunde genommen finde. Am Tag der Rückkehr erkenne ich, dass mein „Ich bin eine coole Lehrerin“-Projekt gescheitert ist: „Auf Wiedersehen, Frau Hagemann!“, ruft mir eine Schülerin fröhlich zum Abschied zu, bevor sie sich mit Umarmung und Küsschen von ihren Freundinnen verabschiedet.
Ich begleite meine Schüler gern. Aber nicht als Möchtegern-Jugendliche
Bin ich jetzt auch als Lehrerin gescheitert? Nein! Stattdessen habe ich die Erkenntnis gewonnen oder wohl besser gefestigt, dass ich einfach eher der distanziertere Lehrertyp bin und nicht die kumpelhafte Pädagogin, die am Wochenende zusammen mit ihren Schülern in der Disco tanzt. Das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass ich vollkommen unnahbar, empathielos oder gar schülerfeindlich bin. Im Gegenteil, ich mag meine Schüler. Als meine Schüler. Ich vermittle mit Freude Wissen. Und ich finde es spannend zu sehen, wie aus Kindern junge Erwachsene werden, und begleite sie gern dabei. Als Erwachsene. Nicht als Möchtegern-Jugendliche.
Aber was, mögen sich besorgte Eltern nun fragen, macht Frau Hagemann, wenn ein Kind einmal Zuspruch, Trost und Nähe benötigt? Eben eine „erwachsene Freundin“ zum Reden? Dann hole ich Hilfe. Ich versorge den Beinbruch nach dem Unfall auf dem Pausenhof ja auch nicht selbst, sondern rufe einen Arzt. Merke ich, dass ein Schüler von mir größere Probleme hat, die nicht mit mathematischem oder biologischem Sachverstand zu lösen sind, bespreche ich die Situation mit unserer Schulsozialarbeiterin und dem Vertrauenslehrer oder schicke den Schüler direkt zu ihnen. Bei kleineren Sorgen wie einem aufgeschlagenen Knie oder einer Fünf in einer Mathearbeit trösten dagegen Mitschüler viel besser als ich.
Ich fände es auch paradox, die Schüler in den Arm zu nehmen, an deren Leid ich mit der Vergabe der schlechten Note nicht ganz unbeteiligt bin. Andere Kollegen haben damit kein Problem. Grundschullehrer zum Beispiel sind da bestimmt geschulter. Unter anderem deshalb unterrichte ich an einem Gymnasium. Und ich bin sicher, auch Herr Schäfer bekommt das In-den-Arm-Nehmen und Trösten locker hin. Nur eins wird weder mir noch Herrn Schäfer gelingen: zu versuchen, ein Lehrerbild zu erfüllen, das nicht zu einem passt. In einem Beruf mit Menschen währt authentisch eben doch am längsten …
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