Schafft die 8. Klasse ab!
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Schafft die 8. Klasse ab!

Wenn in der Pubertät das Hirn Jugendlicher wegen Umbaus geschlossen wird, ergibt Schule wenig Sinn. Vielleicht sollten Eltern und Lehrer einfach kapitulieren und auf bessere Zeiten hoffen – und die 8. Klasse am besten gleich abschaffen?


Abendessen im Bekanntenkreis. Antonia, 16, Tochter der Gastgeber, erzählt von Schulpartys. Da war zum Beispiel jene vor zwei Jahren, als Antonia in die achte Klasse ging: Erst gab es ein spektakuläres Indoor-Feuerwerk, dann kräftig Ärger für ein paar Mitschüler aus ihrer Stufe. „Feuerwerk? Da hat wohl jemand zu gut in Chemie aufgepasst“, kommentiert einer der Erwachsenen, „oder hattet ihr in der Achten noch keine Chemie?“ Antonia guckt wie ein Fleisch gewordenes Fragezeichen. „Puh!“, meint sie und verdreht die Augen. „Keine Ahnung, weiß nicht mehr. Ist doch egal, oder?“

Ist es das? Die Durchfallquoten für die 8. Klasse legen zumindest nahe, dass der Unterrichtsstoff vielen wurst ist: Sie liegen oft doppelt so hoch wie nach der sechsten. Meine eigene Tochter ist gerade in der siebten, zum Glück scheint alles noch wie immer. Doch in einem Jahr wird wohl ihr „Lernzuwachs“ sinken – zumindest, wenn eine Langzeitstudie der Hamburger Schulbehörde (LAU 9) Recht behält. Vor fünf Jahren konstatierten die Forscher: Sogar gute Schüler kommen in der achten Klasse kaum voran. Sie lernen einfach nur wenig dazu. Und die Schwächeren? Die holen nur mit Mühe ein bisschen auf, heißt es. Also, falls sie Mühe investieren. Ansonsten: siehe oben, Stichwort Durchfallquote.

Grund ist selbstredend die Pubertät, jener Daseinszustand, der immer wieder neue Sinnsprüche hervorbringt. Kostprobe: „Das ist die Zeit, in der man grübelt und nicht weiß, worüber.“ Über eines jedenfalls sicher nicht: die Schule. Wozu braucht man die jetzt eigentlich, wenn sowieso nichts hängen bleibt? Könnte man nicht einfach die 8. Klasse abschaffen?

„Wie bitte?“, fragt der Erdinger Schulpsychologe und Gymnasiallehrer Alexander Geist mit gespielter Überraschung. „Klar denkt man sich manchmal: Warum schickt man den Jahrgang nicht ins Überlebenscamp in den Urwald?“, räumt der Deutsch- und Ethiklehrer am Anne-Frank-Gymnasium ein. Aber tatsächlich seien die Entwicklungsunterschiede gerade jetzt riesig. „Eine Methode für alle gibt es darum nicht“, meint Geist. Und außerdem: „Ein Bildungsjahrgang, egal welcher Schulart, lebt davon, dass ein Faden verfolgt wird. Dass Bildung stufenweise aufgebaut wird. Lässt man eine Stufe aus, fällt man durch die Treppe.“ Natürlich! Was soll ein Lehrer auch sonst sagen?

Eigentlich begännen die Probleme bereits früher, meint Geist: „Die Pubertät geht heute oft schon in der sechsten Klasse los. Leider ist unser Schulsystem so gestaltet, als beginne sie erst in der neunten oder zehnten Klasse. Das gehört korrigiert!“

Die Neurobiologie weiß: Pubertierende sind unfähig, theoretische Inhalte zu speichern

Meine Zweifel am Sinn der achten Klasse bleiben. Das hat auch mit persönlichen Erfahrungen zu tun. Der Sohn einer Freundin nahm in dieser Zeit nicht mal Schreibzeug in die Schule mit. Im Unterricht schlief er – und zwar wortwörtlich. Diese Geschichte hat bezüglich des Schulabschlusses übrigens kein Happy End. Im Gegensatz dazu hatte mein Sohn, heute 19, immerhin meist einen Kuli dabei. Dennoch notierte er keine Prüfungstermine. Und so kam es zu einer dramatischen Verschlechterung in Mathe, weil er nie wusste, wann Tests anstanden. Es erwischte ihn immer eiskalt.

Ob er besser abgeschnitten hätte, wenn er vorbereitet gewesen wäre? Wer weiß. Vor vier Jahren wurden neurobiologische Forschungsergebnisse veröffentlicht, laut derer Pubertierende fast unfähig erscheinen, theoretische Inhalte aufzunehmen und zu speichern. Die Nervenverbindungen nämlich, die sich bis zur Geschlechtsreife en masse aufbauen, werden nun regelrecht gekappt. Schlimmer noch, die jungen Leute verlernen, was sie bereits beherrschten. Umgangssprachlich müsste man sagen: Sie verblöden. Insgeheim haben sich das manche Eltern auch ohne Neurobiologie schon gedacht.

Beispiele für den Abbauprozess: Längst trainierte soziale Kompetenzen wie Empathie, das immerhin gelegentliche Aufblicken von „WhatsApp“ sowie die sozialverträgliche Handhabung der Lautsprecheranlage gehen verloren. Zu allem Überfluss schwillt dass Gefühlszentrum im Gehirn, die Amygdala, tüchtig an. Die Folge: unbeherrschbare Gefühlsexplosionen.

„Mir fällt dazu ein braves Mädchen ein, das mit der Pubertät zum impulsiven Wesen mutierte und in Beratungsgesprächen mit den Eltern unberechenbar explodierte“, erzählt Schulpsychologe Geist. In der Oberstufe gab es ein Wiedersehen mit ihr, und siehe da: Sie war „ausgeglichen, freundlich und auch wieder leistungsorientiert“. Für den Sinn der achten Klasse spricht auch das nicht.

Die Pubertät bleibt, was sie immer war: eine Zeit der Wachstumsschübe, der Reifeprozesse, der hormonellen Veränderungen – und schlicht und einfach schwierig. „Besonders angesichts der Omnipräsenz von Supermodels und einem Körperkult, dem sich auch die Jungs unterwerfen, fällt es schwer, ein positives Körpergefühl zu entwickeln“, sagt Alexander Geist. Die achte Klasse zu streichen hält zumindest Brigitte Hoffmann, Psychologin vom Freiburger Zentrum für pädagogische Beratung, für „keine schlechte Idee!“, wie sie lachend sagt. „Aber das gilt nur für traditionelle Schulen. Und im G8!“ In den Gemeinschafts- oder Gesamtschulen funktioniere das Lernen in der achten Jahrgangsstufe nämlich ganz gut, denn dort fände mehr Projektarbeit statt. „Die Kinder sind ja motivierbar. Erlebnisbezogene, anschauliche Dinge, also Theater, Musik, Arbeitsgruppen und alles, was sie hinsichtlich einer Zukunftsperspektive nach vorn bringt, wird gut angenommen.“ Wahrscheinlich deswegen, weil Jugendliche in früheren Zeiten schon bei der Jagd oder in der Landwirtschaft mit anpackten – so der entwicklungstheoretische Ansatz.

Auch Geist stimmt für Projektarbeit, warnt aber auch vor Übertreibung: „Wir hatten schon Lehrer, die in Mathematik so viel Lernzirkel und Projekte machten, dass die Schüler flehten: bitte keine Freiarbeit mehr! Wir wollen Mathe wieder kapieren!“

Einig sind sich beide Experten, dass es optimal wäre, in den Klassen sechs bis neun den Druck rauszunehmen. Wichtig wäre auch, dass Jugendliche nachmittags „viel Zeit für sich und ihre Kumpel und Kumpelinnen hätten“, so Geist. Und noch etwas: Die Jugendlichen mögen sich selbstständig geben, doch brauchen sie Unterstützung, Rat, Hilfsangebote. Psychologin Hoffmann empfiehlt etwa, einen Kalender aufzuhängen und zu notieren, wann Prüfungen anstehen. (Darauf hätte ich auch kommen können! Zum Glück notierte mein Sohn ab der Zehnten seine Termine wieder selbst und schaffte so sein Abitur.)

Es ist sinnlos, Jugendliche dauernd vollzutexten

Und wenn ein Schüler doch mal eine Ehrenrunde dreht? Dann befindet er sich jedenfalls in guter Gesellschaft, etwa in der von Winston Churchill, Thomas Mann, Albert Einstein und, nun ja, Edmund Stoiber.

Gelassenheit ist ohnehin die einzige Rettung für Eltern (und Lehrer). Vielleicht klappt’s ja mit Konfliktökonomie. „Regeln sind wichtig, aber beschränken Sie sich auf essenzielle Bereiche, und erkennen Sie, was Erwachsene nun wirklich nichts mehr angeht, zum Beispiel die Frisur“, rät Alexander Geist allen Eltern. „Es ist sinnlos, Jugendliche dauernd vollzutexten“, bestätigt auch Brigitte Hoffmann. Sie empfiehlt mehr „Wellness zwischen Eltern und Kindern: Wenn eine schlechte Note kommt, sagen die Erwachsenen erst mal nichts und entspannen sich abends bei einem schönen Glas Wein. Am nächsten Tag setzt man sich zusammen und bespricht, was man besser machen kann.“



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