Eva Westermüller erinnert sich genau, wie es ihr damals ging. „Es war wie eine Schockstarre“, sagt sie. Sie war Anfang 30 und lag nur noch auf der Couch oder saß am Computer. „Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht mehr so, wie ich es wollte, um meinen Sohn kümmern konnte, weil ich total neben mir stand.“ Eva Westermüller, die in Wahrheit anders heißt, wurde immer gereizter, traf keine Freunde mehr, überschüttete sich mit Selbstvorwürfen. Denn wie sie lebte und sich ihrem Kind gegenüber verhielt, entsprach überhaupt nicht dem, wie sie sich ihr Muttersein eigentlich vorgestellt hatte. „Ich habe mich selbst irgendwann vermisst, wie ich einmal war“, sagt sie, „und gemerkt, dass der Weg so für mich und für uns alle ins Leere führt.“ Eva Westermüller konnte nicht mehr. Die Diagnose: Eltern-Burn-out.
Ein Begriff, der eher als Manager-Krankheit bekannt geworden ist, erreicht seit einigen Jahren immer mehr Eltern. Dabei wird der Burn-Out als eigene Krankheit im internationalen Diagnose-Katalog der Ärzte gar nicht geführt, sondern das Syndrom zählt dort zu den „Problemen mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“. Burn-out meint einen Zustand tiefer körperlicher und emotionaler Erschöpfung. Die Betroffenen fühlen sich leer und ausgebrannt, sind gleichgültig und antriebslos, leiden an Angst und depressiven Phasen. Unter den typischen Beschwerden, die mit den psychischen Problemen einhergehen, sind Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Essstörungen.
Die Zahl der Betroffenen mit Eltern-Burn-Out ist rasant gestiegen
Die Zahl der Mütter mit Erschöpfungszuständen bis hin zum Eltern-Burn-out ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. „2003 haben knapp 50 Prozent der Mütter, die an einer Kurmaßnahme in unseren Kliniken teilgenommen haben, daran gelitten, 2016 waren es schon mehr als 87 Prozent“, erklärt Anne Schilling, Geschäftsführerin der gemeinnützigen Stiftung Müttergenesungswerk. Etwa 47 000 Frauen und 2 100 Männer haben im Jahr 2019, dem letzten vor der Corona-Pandemie, an einer Kurmaßnahme der Stiftung teilgenommen. Seitdem sind die Belegungszahlen coronabedingt deutlich gesunken – obwohl der Bedarf aufgrund der zusätzlichen Belastung der Eltern sogar zugenommen haben dürfte. Das Müttergenesungswerk geht von mehr als zwei Millionen kurbedürftigen Müttern und rund einer Viertelmillion Vätern mit Kurbedarf in Deutschland aus.
Bei Eva Westermüller hatten extrem schwierige Rahmenbedingungen mit dazu geführt, dass sie körperlich und psychisch zusammenbrach: eine chronische Erkrankung. Eine Fehlgeburt. Dann eine zweite Schwangerschaft und wenige Tage nach der Geburt ihres Sohnes im Sommer 2015 eine lebensbedrohliche Hirnblutung. Das erste Jahr mit dem Kind war geprägt von Arztbesuchen und Therapieterminen. Je mehr sie darüber nachdachte, was alles hätte passieren können und noch passieren könnte, desto stärker wurden ihre Ängste. Hinzu kam eine angespannte finanzielle Situation. Ein Gespräch mit ihrer Hausärztin führte schließlich dazu, dass alles aus der jungen Mutter herausbrach. Und sie einsah: Es geht nicht mehr.
Untersuchungen zeigen: Es kann jeden treffen
Nicht immer sind es besondere Vorfälle oder ungünstige Rahmenbedingungen, die zu einem Burn-out führen. Untersuchungen zeigen: Es kann jeden treffen. Die Wahrscheinlichkeit, als Mutter oder Vater ein Eltern-Burn-out zu bekommen, hängt weder von der Familienkonstellation noch vom Einkommen ab. Auch Sondersituationen wie eine Krankheit von Eltern oder Kind, ein Todesfall, der Verlust des Arbeitsplatzes oder eine Trennung können ein Burn-out zwar begünstigen, der alleinige Grund sind sie aber nicht. Und umgekehrt gilt: Nicht jede auch noch so schwere Situation löst automatisch ein Burn-out aus. Dafür sind viele unterschiedliche Faktoren verantwortlich.
Frauen müssen jetzt noch mehr schaffen – und dabei noch toll aussehen
Die Hauptursache für die zunehmende Überforderung von Müttern sieht Anne Schilling darin, dass die Frauen heute mit einer enormen Fülle von Anforderungen konfrontiert sind. „Die Gesellschaft hat sich rasant gewandelt in den vergangenen Jahrzehnten, aber die Rollenbilder und die Rollenverteilung haben nicht ganz Schritt gehalten“, so Schilling. „Von Frauen wird erwartet, dass sie gut aussehen, einen tollen Beruf haben, wahnsinnig engagiert sind, sich um die Pflegebedürftigen in der Familie kümmern, um die Kinder, um die gesamte Organisation der Familie und dazu auch noch die Hausarbeit machen“, erklärt sie. „Sie wollen eine gute Mutter sein, es allen recht machen. Aber dabei verlieren sie sich manchmal.“ Vätern fiele es aufgrund des in der Gesellschaft verbreiteten Rollenbilds leichter, sich zu distanzieren. Aber auch sie litten unter Zeitdruck, hätten Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Trotzdem ist Eltern-Burn-Out bislang vor allem eine Mütter-Krankheit. Auch die Möglichkeit, eine Kur zu machen, nehmen allerdings bisher nur wenige Väter wahr.
Einer, der es getan hat, ist Volker Schulze. Mit Mitte 40 hat er eine Vater-Kind-Kur mit seinem zwölfjährigen Sohn unternommen. „Es war fantastisch!“, schwärmt er. „Drei Wochen Zeit, und wir mussten uns nur um uns kümmern.“ Das Haus sei eine richtige „Wohlfühloase“ gewesen. Die Mitarbeiter, das Essen, die Kinderbetreuung, die Therapieangebote. „Die ersten fünf Tage musste ich mich andauernd kneifen und fragen: Wie kann das sein?“, erzählt er.
Der gelernte Tischler aus dem sächsischen Bad Lausick hatte die Kur Anfang des Jahres beantragt, weil er gemerkt hatte, dass er dringend etwas ändern musste. „Ich bin schon ausgebrannt in die Arbeit gekommen, hatte immer den Kopf voll, konnte keinen Abstand mehr gewinnen“, erzählt er. Er habe schlecht geschlafen, sei nachts durchs Haus gelaufen. Mehrmals sei er mitten in der Nacht in die Firma gefahren, um etwas fertig zu machen. Auch seine Kinder – neben dem Sohn hat er noch eine damals 19 Jahre alte Tochter – und seine Frau hätten die Daueranspannung zu spüren bekommen. „Man kommt heim, man beschwert sich, man schimpft über alles“, sagt Schulze. Und gibt zu: „Ohne den Druck von meiner Frau hätte ich die Kur wahrscheinlich nicht gemacht.“ Ohnehin täten Männer sich schwerer mit solchen Angeboten. Den Gedanken, überfordert zu sein, ließen sie erst gar nicht zu.
Wenn du nicht glücklich bist, kann das auch keiner in deinem Umfeld seinVolker Schulze hat eine Papa-Kind-Kur gemacht
Künftig will Schulze sich mehr Ruhe gönnen, am Wochenende beispielsweise mal sitzen bleiben und nicht gleich nach dem Kaffee wieder aufspringen. Nach Dienstschluss wird er sein Handy ausschalten. Und auch bei seinen zahlreichen Ehrenämtern möchte er kürzertreten. Und weiterhin üben, auch mal Nein zu sagen, wenn jemand ihn um etwas bittet.
Eva Westermüller würde allen Müttern und Vätern, die sich überfordert fühlen, raten, um Hilfe zu bitten. Bei der Familie, bei Freunden, bei Beratungsstellen, bei Institutionen und Therapeuten. „Ich habe den Fehler gemacht, dass ich gedacht habe, ich schaff das schon“, sagt sie. „Aber der Schuss geht nach hinten los. Wenn du nicht glücklich bist, kann das auch keiner in deinem Umfeld sein. Ich würde das immer wieder machen. Aber ich würde es früher machen.“
„Raus aus dem Eltern-Burn-Out“ – Foto: freepic.diller/Freepik