Herr Wiltschko, wie kommt es, dass Eltern oft den Eindruck haben, nicht genügend Zeit mit ihren Kindern zu verbringen?
Mittelschichteltern haben oft das Gefühl, „zu wenig“ zu tun. Viele sind defizitorientiert sozialisiert mit einer Haltung, nicht zu genügen. Eltern fühlen sich manchmal als Rabeneltern. Tatsächlich haben sich unsere Eltern nicht ständig um uns gekümmert: In den Jahren des Wirtschaftswachstums haben Eltern oft noch mehr gearbeitet, als wir das jetzt tun – auch wenn wir heute wirklich eng getaktete Termine haben und unter Zeitdruck stehen.
Sind vielleicht auch nur die Ansprüche der Eltern an sich selbst gestiegen?
Heute entscheiden sich viele Eltern sehr bewusst für ein Kind. Das Verhältnis zu Kindern ist deshalb ein anderes als früher. Wenn wir Schwellenländer wie Brasilien oder Indien anschauen, da ist die Entwicklung des Kindes etwas Selbstverständliches, und die Aufmerksamkeit für Kinder geht über ein Satt-, Sauber- und Bravsein nicht hinaus. Kinder beschäftigen sich dort selbstständig. In den 50er- und 60er-Jahren war das bei uns ähnlich.
Wie viel Aufmerksamkeit brauchen Kinder denn?
Kinder sollten auch Zeit haben zu sagen: Mir ist langweiligUlrich Wiltschko, Familientherapeut
Die meisten Eltern finden einen guten Weg, den Spagat zwischen Verwahrlosung und Überbehütung zu meistern. Klar ist: Die Entwicklung von Kindern braucht viel Aufmerksamkeit – wie viel, da muss jede Familie selbst ihren Weg finden. Ich finde es aber wichtig, dass Kinder auch mal Zeit haben, in der sie nicht bespielt, bespaßt oder beschult werden, sondern auch sagen können: „Mir ist langweilig.“ Aus dieser Langeweile kann eine große Kreativität entstehen. Viele Eltern denken ja, sie tun ihren Kindern etwas Gutes, wenn sie sie täglich in viele Kurse schicken.
Und was brauchen Kinder?
Ich rate Eltern, ihr Kind achtsam und unvoreingenommen zu beobachten und dann zu überlegen, was gut sein könnte. In der Stadt ist es oft Bewegung, die fehlt. Vor 50 Jahren konnten Kinder einfach raus oder auch auf der Straße spielen, das ist heute oft nur schwer möglich. Kinder sind inzwischen ständig unter Beaufsichtigung. Für die Entwicklung ist es aber wichtig, Erfahrungen ohne die Aufsicht der Eltern zu machen: Kinder wollen manchmal einfach ohne Erwachsene rumrennen, auf Bäume klettern oder Fußball spielen – also selbstständig Erfolge haben und selbstständig Fehler machen dürfen.
Es heißt ja immer, dass Quality Time wichtiger sei als die Länge der Zeit, die man mit dem Kind verbringt. Sehen Sie das auch so?
Gut ist, wenn Eltern sich signifikante Zeit nehmenUlrich Wiltschko
Ja, die Qualität der gemeinsamen Zeit ist entscheidend. Oft ist ja der eine in einem Zimmer, der andere im anderen Zimmer, das ist okay. Gut ist es aber, wenn sich Eltern signifikante Zeit nehmen. Da reicht es, dem Kind eine halbe Stunde die ungeteilte und freundliche Aufmerksamkeit zu schenken.
Eine Studie aus Oxford ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Einkaufen Kleinkinder glücklicher macht als manch andere schöne Aktivität. Wie passt das zusammen?
Kleine Kinder freuen sich, wenn sie im Einkaufswagen sitzen und durch einen Supermarkt gefahren werden. Es macht ihnen auch Freude, wenn sie sehen, dass die Erwachsenen etwas zu tun haben, und sie dürfen dabei sein. Und dann bekommen sie von der Verkäuferin noch ein Bonbon! Das ist eine Fülle von Verstärkern, die Kindern Spaß macht.
„Die Qualität ist das Wichtigste“ – Quality Time – Foto: Fotolia