Ein Elterngespräch zwischen Eylem Emir und den Eltern eines schwierigen Schülers. Erst sitzen diese verschlossen da, dann geben sie zu, dass auch die Lehrerin sich über das Kind beschwert hat. Langsam öffnet sich der Vater: „Ich verstehe das nicht …: „Ich verstehe das nicht. Ich verstehe nicht, dass die Lehrerin sagt: ‚Dein Kind muss … Dein Kind tut nicht …‘ Warum sagt sie mir das? Sie ist doch die Lehrerin!“ Seine Mimik und Gestik spricht Bände: Wenn die Lehrerin das nicht schafft, was soll ich denn da tun?
Auch in ihrer Stadtteilmütter-Gruppe hat Emir Ähnliches erlebt. „Als ich in der Gruppe erklärte, dass wir Eltern hier in Deutschland unsere Kinder unterstützen müssen, wenn wir wollen, dass sie in der Schule gute Noten haben, waren erst einmal alle ganz leise. Eine Mutter, die aus Kroatien kam, fasste es schließlich in Worte: ‚Entschuldigung, aber warum schicke ich mein Kind überhaupt in die Schule, wenn ich das alles selber machen muss?‘“
Migration und Lehrerrolle: Viele Eltern sind ein familienersetzendes Schulsystem gewohnt
Es ist offensichtlich: Da stoßen Welten aufeinander. Viele Eltern mit Migrationshintergrund kennen aus ihrer Heimat ein so genanntes familienersetzendes Bildungssystem. Für sie ist es normal, in dem Moment, wenn sie ihre Kinder der Schule geben, auch die Macht über diese an die Lehrkräfte zu übertragen. Die Lehrkraft kann im Prinzip dann mit dem Kind machen, was sie notwendig und richtig findet. Andererseits ist sie damit auch für den Lernerfolg und die Erziehung verantwortlich: Die Eltern erwarten, dass die Lehrkraft das hinbekommt.
Eylem Emir kennt die Probleme von Migration und Lehrerrolle aus ihrem persönlichen Hintergrund: „Die Lehrkräfte sind in solchen Ländern seit Generationen absolute Respektspersonen. Und die Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten, sind komplett anders als in Deutschland: Manche müssen sich unter 40, 50, 60 Kindern in einer Klasse Respekt verschaffen. So können sie gar nicht anders, als autoritär zu sein. Und wenn ein Kind dann einen Tadel bekommt, setzen die Eltern noch einen oben drauf. Denn ein Kind darf keine Schande über die Familie bringen, niemand soll sagen können: Diese Familie kann ihr Kind nicht erziehen.“
Geteilte Verantwortung ist vielen fremd
Gerade Familien, die wenig formale Bildung haben, halten oft an dem fest, was sie aus dem Heimatland kennen, was dort seit Generationen üblich ist. So bleibt in ihren Augen sehr vieles Aufgabe der Institution Schule. In Deutschland treffen sie jedoch auf ein komplett anderes Konzept, nämlich auf ein familienergänzendes und -unterstützendes Schulsystem. Hier ist die Lehrrerolle eine ganz andere: Schule und Elternhaus teilen sich die Verantwortung für das Kind und seinen Schulerfolg im Idealfall partnerschaftlich – und übertragen sie mit der Zeit sogar auf das Kind selbst.
Das Bild, das viele Familien mit Migrationsgeschichte von der Rolle einer Lehrkraft haben, passt also überhaupt nicht zur Realität hierzulande. Und noch mehr: Auch das Bild, das wir von mündigen Schülerinnen und Schülern haben, ist diesen Familien fremd. Kinder werden bei uns im Allgemeinen sogar ermutigt, kritisch ihre Meinung zu äußern – undenkbar in einem autoritären Konzept, wie es diese Eltern aus ihrer eigenen Schulzeit kennen und wie sie es meist auch in der Erziehung ihrer eigenen Kinder fortführen.
Auf ungewohnte Freiheiten reagieren manche Schüler respektlos
Es ist daher genau betrachtet kein Wunder, dass viele Schülerinnen und Schüler aus solchen Familien Verhaltensweisen zeigen, die respektlos wirken. Meist wollen sie damit nicht einmal etwas austesten, sie sind einfach orientierungslos. Die Kinder oder Jugendlichen wissen, dass es in deutschen Schulen gewaltfrei und demokratisch zugeht, dass sie ihre Meinung äußern dürfen, dass die Lehrkraft sie nicht schlagen und klein machen darf. In ihrer Familie hingegen herrscht ein großes Autoritätsgefälle, und es ist nicht erwünscht, dass sie eine eigene Meinung oder gar Kritik äußern. So haben viele junge Menschen zu Hause keine Kommunikation auf Augenhöhe kennengelernt, und sie können daher mit den (Rede-)Freiheiten in der Schule nicht gut umgehen.
Nicht besser ist es, wenn in Familien ein verwöhnender Erziehungsstil praktiziert wird. Auch in diesem Fall lernen die Kinder keine guten Kommunikationsregeln kennen. Die Folge ist vor allem bei Jugendlichen in der Schule ein Verhalten, das viele Lehrkräfte als respektlos oder unpassend beklagen. Eylem Emir: „Selbstverständlich wünschen sich autoritär aufgewachsene Jugendliche nicht auch in der Schule einen autoritären Erziehungsstil, aber sie kennen es eben nicht anders und geraten hier in unglaubliche Gegensätze. Oder aber es wird ihnen zu Hause so gut wie jeder Wunsch erfüllt und sie lernen nicht, Rücksicht zu nehmen. Auch dann passt es nicht.“
„Ich rede mit meinem Kind“ bedeutet oft nichts Gutes
Die Folge sind Elterngespräche wie das eingangs geschilderte. Häufig versprechen die Eltern darin der Lehrkraft, mit ihrem Kind über die Probleme zu reden. Doch das läuft oft ganz anders ab, als die Lehrkräfte es sich vorstellen. Wenn in den Familien eine starke Hierarchie herrscht, ist keine Gegenseitigkeit da. Die Menschen haben dann meist von Kommunikationsregeln oder gewaltfreier Kommunikation noch nie gehört; in Ich-Botschaften zu reden, zuzuhören, Argumente auszutauschen – all das haben viele Eltern selbst nicht gelernt.
Wenn Kinder oder Jugendliche dann mit Argumenten kommen, wird dies als Respektlosigkeit angesehen. Es herrscht die Devise: „Wenn der Ältere spricht, hat der Jüngere zu schweigen!“ An eine Diskussion auf Augenhöhe ist nicht zu denken. Manche Eltern gehen dann in eine verwöhnende Haltung und nehmen ihr Kind immer wieder in Schutz. Andere merken, dass sie ihr Ziel mit dem nicht erreichen, was ihnen an Gesprächsmöglichkeiten zur Verfügung steht, und wenden Gewalt an. Eylem Emir: „‘Ich rede mit dem Kind.‘ – Wenn ich das höre, weiß ich, wie vermutlich geredet wird: traditionell eben, mit lautem Tadel und auch mal mit Ohrfeigen. Viele Eltern kennen es nicht anders.“
Unser System verlangt den Eltern viel ab
Diese Reaktion ist umso wahrscheinlicher, je mehr die Eltern selbst unter Stress stehen. Tatsächlich verlangt unser Schul- und Erziehungssystem Menschen mit einem ganz anderen kulturellen und Bildungshintergrund vieles ab. Sie stehen vor der Herausforderung, die für sie ungewohnten Ansprüche der Lehrkraft bzw. der Schule zu erfüllen. Gleichzeitig möchte sich niemand dem eigenen Kind gegenüber als inkompetent oder hilflos präsentieren. Stress und Scham lasten auf den Eltern. Einige lösen das Problem so autoritär, wie sie es selbst früher erfahren haben; andere nehmen ihr Kind bedingungslos in Schutz und verdrängen das Problem.
Dessen sollten sich die Lehrkräfte bewusst sein: In Gesprächen ist es wichtig im Auge zu behalten, dass die Menschen oft nicht zugeben möchten, dass sie etwas immer noch nicht verstanden haben oder ihnen etwas schwer fällt, weil sie sich dafür schämen. Das gilt für alle Eltern, aber besonders auch für solche, die mit einem anderen kulturellen Hintergrund aufgewachsen sind. Eylem Emir betont: „Doch auch wenn sich Eltern, die aus anderen Kulturkreisen zu uns gekommen sind, teils ganz anders verhalten, als es hier erwartet wird, so lieben sie ihre Kinder doch und wollen nur das Beste für sie. Ihre Kinder sollen es besser haben als sie selbst.“ Je öfter es dann aber Ärger mit der Schule gibt, umso negativer werden ihre Gefühle gegenüber dem deutschen Schulsystem. Denn dieses erscheint ihnen als Grund für die Misere.
„Wer hier etwas zum Guten ändern möchte“ empfiehlt Eylem Emir, „sollte von Anfang an und immer wieder geduldig das deutsche Bildungssystem erklären und die Eltern mit einfachen Sätzen dazu motivieren, Änderungen zu wagen. Ich zum Beispiel verwende in der Elternarbeit Sätze wie diese: ‚Es ist mir bewusst, dass es bei uns, wo wir herkommen, ganz anders ist, aber hier in Deutschland ist das System eben so. Wenn Sie möchten, dass es mit Ihrem Kind besser läuft, müssen Sie selbst dazu beitragen. Das schaffen Sie ganz sicher.‘“
Über die Autorinnen
Dieser Artikel ist Teil der Serie „Bildungsfern? Bildungs-anders! Eine Übersicht aller weiteren Artikel finden Sie hier. Illustration: Ariane Dick Bellosillo/Magazin SCHULE