Deutsche kommen in Gesprächen gern rasch zur Sache. In vielen Ländern der Welt gilt eine so direkte Kommunikation jedoch als unhöflich. Kein Wunder also, dass Elterngespräche in den Schulen oft in Missverständnissen enden. Eine Analyse von Heidemarie Brosche und Eylem Emir
magazinschule
Im Kindergarten war ein Lesefest geplant. Die Frauen aus Eylem Emirs „Stadtteilmütter“-Gruppe wurden von der deutschen Leiterin gebeten, Lesezeichen in Form von Lesewürmchen zu stricken. Sie zeigte genau, wie diese aussehen sollten. Am Tag darauf erschien eine türkische Mutter, die nicht so gut Deutsch konnte, mit mehreren gestrickten Lesezeichen: einem Lesewürmchen und verschiedenen Blumen in unterschiedlichen Farben, alle sehr schön gestrickt. Sie wollte der Leiterin diese Muster als weitere Ideen anbieten und bat Eylem Emir darum, als Übersetzerin zur Verfügung zu stehen. Die Leiterin sagte sachlich: „Nein, das mit den Blumen geht nicht. Die müssen alle gleich sein. Wir haben uns ja auf Lesewürmchen festgelegt.“ Dann begann sie in sehr wertschätzender Art, die anderen Modelle zu loben und sich zu erkundigen, wo die Mutter das gelernt und wie sie das so schnell hinbekommen habe.
Emir aber konnte beobachten: Ab dem Moment, wo die Leiterin ihr Nein klar ausgesprochen hatte, kam bei der Mutter nichts mehr an – kein Lob, kein Interesse. Sie hörte nicht mehr zu und weinte fast, als sie wenig später neben Emir den Kindergarten verließ. „Das macht man doch nicht!“, stieß sie hervor. „Wie unfreundlich diese Frau zu mir war! Sie hasst mich! Vielleicht weil ich ein Kopftuch trage.“ Emir verneinte vehement und erklärte ihr, dass die Menschen in Deutschland ganz anders miteinander reden als in der Türkei, und dass die Worte der Leiterin sehr freundlich gemeint gewesen waren. Über eine halbe Stunde bemühte sie sich, die Mutter zu beruhigen und zu überzeugen, bis diese ihr endlich glaubte: „Ah, dann hasst sie mich wirklich nicht?!“
Unser direkter Kommunikationsstil verstört viele Menschen aus anderen Kulturen
An dieser Stelle sind sie aufeinandergestoßen: der in Deutschland so übliche direkte Kommunikationsstil und der indirekte Kommunikationsstil, der für viele Migrantinnen der gewohnte ist. Für die Mutter wäre es in Ordnung und verständlich gewesen, wenn die Leiterin sich dem Nein langsam genähert und damit begonnen hätte, wie schön die Lesezeichen waren: „Oh, auch noch Blumen, und so schöne Farben! Wo haben Sie das gelernt? Wie haben Sie das so schnell geschafft? Die würde ich so gerne nehmen, aber hmmm, die müssen einheitlich sein. Wir brauchen leider lauter gleiche Lesezeichen, damit die Kinder nicht denken, es ist ungerecht.“ So hätte die Leiterin Vertrauen aufgebaut, und die Mutter hätte das Nein ohne Probleme akzeptieren können. Doch statt dessen hat die Mutter die erste, ablehnende Äußerung der Leiterin nicht sachlich, sondern persönlich genommen, und stieß auf der Suche nach einem Grund für die vermeintliche Ablehnung auf das Kopftuch.
Als Türkin arabischer Abstammung, die seit 20 Jahren in Deutschland lebt, kennt Eylem Emir das Problem. Inzwischen ist sie gewohnt, je nach Gegenüber unterschiedlich zu kommunizieren. Sie erzählt ein Beispiel: Sie hat ihren Kindern eine kleine Fahrradtour versprochen, bemerkt aber erst spät, dass ihr eigenes Fahrrad einen Platten hat, den sie nicht reparieren kann. Also möchte sie eine Freundin bitten, ihr ihr Fahrrad für den Tag zu leihen.
Erstes Beispiel: indirekte Kommunikation mit Hülya Emir ruft ihre Freundin Hülya an. Sie ist wie Emir Türkin mit arabischen Wurzeln, aber in Deutschland aufgewachsen. Emir: „Hülya Merhaba! Wie geht es dir? Mir geht’s auch gut, danke. Wie geht es deiner Mutter? Ist sie da oder schon unten? Wie geht’s deinen Kindern? Was machst du so? Was machst du heute? Ach, obwohl das Wetter so schön ist, geht ihr nicht raus? Meine Kinder wollen unbedingt rausgehen. Gerade hole ich die Räder raus und was seh ich da: Mein Fahrrad hat einen Platten. Bis Mehmet nach Hause kommt und das richtet, ist es zu spät. Deshalb wollte ich dich fragen, ob du mir dein Fahrrad ausleihen kannst.“
Zweites Beispiel: direkte Kommunikation mit Tanja Emir ruft ihre deutsche Freundin Tanja an. Sie sagt: „Hallo Tanja, grüß dich! Ich hätte eine Frage. Du, könntest du mir heute dein Fahrrad ausleihen? Ja, weißt du, die Kinder wollen unbedingt raus und mein Fahrrad hat einen Platten. …“
Warum redet Emir bei Hülya scheinbar erst einmal um den heißen Brei herum, aber bei Tanja nicht? Mit Hülya, die aus demselben Kulturkreis stammt wie sie, kommuniziert sie traditionell indirekt: Bevor sie ihr Anliegen vorbringt, wird viel gesprochen. Im anderen Fall macht sie dies nicht, weil sie weiß: Tanja braucht diesen Smalltalk nicht. Vermutlich würde der sie eher beunruhigen oder gar stören.
Indirekt kommunizieren heißt Vertrauen aufbauen
Beim indirekten Kommunikationsstil, der zum Beispiel in der Türkei und den arabischen Ländern verbreitet ist, geht es in erster Linie um Beziehungsaufbau und Vertrauen. Emir will ihre Freundin Hülya nicht in Verlegenheit bringen. Sie weiß, dass Hülya ihr keinen Gesichtsverlust in Form eines Neins zumuten würde. Würde sie ihr Rad also selbst brauchen, wäre es wahrscheinlich, dass sie ihre Pläne für Eylem sofort ändern würde, denn sie hat gelernt: Nein sagen ist schlecht, ja unsozial. Deshalb will Emir erst sicher sein, ob Hülya ihr Fahrrad selbst braucht oder nicht. Wer den direkten Kommuniktionsstil gewohnt ist, dem scheint es, als rede sie „um den heißen Brei herum“.
In Deutschland hingegen baut die Kommunikation auf einem ganz anderen Übereinkommen auf: Hier sagt man sich meist offen, was man meint und möchte. Dafür ist sich niemand böse. Im Gegenteil, Deutsche empfinden es als besondere Qualität einer Beziehung, dass sie sich gegenseitig jederzeit die Wahrheit offen sagen können. So wissen sie immer, woran sie bei der anderen sind.
Je kollektiver eine Gesellschaft geprägt ist, umso indirekter ist die Kommunikation, und die Menschen benutzen eine so genannte „High-Context-Sprache“. Je individualistischer eine Gesellschaft geprägt ist, umso direkter ist die Kommunikation, und eine „Low-Context-Sprache“ herrscht vor. Bei der High-Context-Sprache wird das Gemeinte oft nicht direkt angesprochen, sondern es wird „zwischen den Zeilen“ durch viel Kontext – rund um die persönliche Situation, die Beziehungen, die Atmosphäre – vermittelt. Bei der Low-Context-Sprache drückt man sich so klar wie möglich aus und bringt direkt zur Sprache, was einem wichtig ist.
Oft fehlt schlicht die gemeinsame Sprache
Unser Kommuniktionsstil hängt also eng mit vielen Aspekten unserer Kultur zusammen, die unseren Umgang mit anderen Menschen prägen. Deshalb ist es nicht einfach, sich davon zu lösen oder einen anderen Stil anzunehmen. So sind viele Menschen, die aus anderen Kulturen in den deutschsprachigen Raum kommen, zum Beispiel auch eine ganz andere nonverbale Kommunikation gewöhnt, als sie hier üblich ist. Sie gehen oft mit Blickkontakt anders um, und auch der in vielen Herkunftsländern weit verbreitete autoritäre Erziehungsstil hat großen Einfluss auf Kommunikationsgewohnheiten.
Ganz grundsätzlich gilt jedoch: Für eine gelingende Kommuniktion brauchen Menschen erst einmal eine gemeinsame Sprache. Und genau die fehlt gerade bei neu Angekommenen oft in mehrerlei Hinsicht:
Fehlende Deutschkenntnisse verursachen Missverständnisse und Reibungen.
Selbst wenn die deutsche Sprache beherrscht wird, reicht dies oft nur für Alltagskommunikation. Bildungssprache sprechen und verstehen viele Migranten nicht oder nur unzureichend.
Schriftliche Kommunikation sind viele Menschen aus ihren Herkunftsländern kaum gewohnt.
Viele sind Briefe kaum gewohnt
In arabischen und afrikanischen Ländern und auch in der Türkei hat die Schriftsprache als Kommunikationsmittel zum Austausch von Informationen eine viel geringere Bedeutung als in Mitteleuropa. Offizielle Briefe treffen sehr selten ein, z. B. dann, wenn man in eine Radarkontrolle geraten ist oder vor Gericht geladen wird. Bei allem anderen spielt die Schriftsprache kaum eine Rolle. Man sagt sich die Dinge mündlich.
Auch in der Kommunikation mit der Schule gibt es in den Heimatländern so gut wie keinen Briefwechsel. Die Eltern kennen es nicht, dass sie regelmäßig Elternbriefe bekommen. Wenn ein Elternabend stattfindet, wird dies den Kindern mündlich mitgeteilt, und diese wiederum müssen ihre Eltern informieren. Erscheinen die Eltern dennoch nicht, wird das Kind zur Rede gestellt oder sogar gestraft.
Hier in Deutschland werden diese Eltern nun auf einmal mit Briefen bombardiert. Sie haben große Schwierigkeiten, damit umzugehen und fragen sich: Was soll das sein? Was soll ich damit machen? Sie fühlen sich überfordert und ratlos. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Eltern wenig von dem verstehen, was da geschrieben steht, weil es in einem Deutsch verfasst ist, das kaum etwas mit der Alltagssprache zu tun hat.
Oft landen wichtige Briefe daher zerknittert in Hosen- und Jackentaschen und werden dann auch nicht mehr gefunden, wenn es nötig wäre. Oder sie schlummern ungelesen und nicht unterschrieben in den Schultaschen der Kinder. Das Ergebnis: Die Lehrkräfte kämpfen um Unterschriften, die Eltern fühlen sich gewaltig unter Stress. Lösen lässt sich dieser Konflikt nur mit Geduld und Improvisation: Wenn den Lehrkräften bewusst ist, wie wenig viele Schülereltern schriftliche Kommunikation gewohnt sind, müssen sie jedenfalls keine Energie mehr mit Empörung über nicht abgelieferte Unterschriften verschwenden.
Ein wenig Kommunikationstheorie gefällig?
Was alles schiefgehen kann, wenn Menschen miteinander kommunizieren, haben etliche Sozialwissenschaftler erforscht. Aufschlussreich ist zum Beispiel das legendäre „Kommunikationsquadrat“ von Friedemann Schulz von Thun, das auch „Vier-Ohren-Modell“ genannt wird. Wie ein solches Modell bei einem Elterngespräch aussehen kann und warum Lehrkraft und Elternteil oft aneinaner vorbeireden, zeigen wir auf der nächsten Seite.
Impulse von Lehrkraft zu Lehrkraft
Ob direkt oder indirekt, es geht hier nicht darum, die beiden Kommunikationsstile zu bewerten. Aber eines ist sicher: Wenn die beiden Gesprächstraditionen aufeinandertreffen, kommt es leicht zu Problemen – gerade auch in der Schule. Immer wieder sind Eltern mit Wurzeln in anderen Ländern dann irritiert von unserer Direktheit, sie fühlen sich unsicher und unwohl und nehmen Abstand. Möglicherweise nehmen sie uns Lehrkräfte sogar als unfreundlich wahr, denn für sie ist nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern vor allem wie es gesagt wird und wie etwas gemeint ist.
Doch auch umgekehrt entstehen Konflikte: Wenn Lehrkräfte einfach nicht verstehen, was die Eltern ihnen mitteilen wollen, weil diese nicht auf den Punkt, obwohl es doch um etwas Wichtiges für ihr Kind geht.
Wenn wir Lehrkräfte über die Unterschiedlichkeit der Kommunikationsstile Bescheid wissen, können wir Äußerungen im indirekten Kommunikationsstil besser einordnen.
Über die Autorinnen
Dieser Artikel ist Teil der Serie „Bildungsfern? Bildungs-anders! Eine Übersicht aller weiteren Artikel finden Sie hier. Illustration: Ariane Dick Bellosillo/Magazin SCHULE
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