Eine Schultheateraufführung. Einige Eltern kommen zu spät, wischen am Platz auf dem Handy herum, unterhalten sich lautstark, nehmen die Cap nicht ab und verlassen die Aula, sobald der Auftritt des eigenen Kindes vorüber ist. Die Reaktion vieler Lehrkräfte: Empörung. Die haben überhaupt keinen Benimm, es macht keinen Spaß, für solche Eltern Theaterstücke einzustudieren!
Ja, einige Eltern haben diesen Benimm tatsächlich nicht. Es gehört nicht zu ihrem Verhaltenskodex, sich in einer Theatervorstellung gut zu benehmen – weil sie dies nie kennengelernt haben. Theater, das bedeutet ihnen nichts, dieses Thema hat buchstäblich keinen Wert für sie. Wieso sollten sie sich hier respektvoll benehmen? Was soll das Ganze überhaupt? Meine Güte, da vorne spielen halt ein paar Leute.
Was ist wertvoll? Auf diese Frage gibt es viele Antworten
Dass man im Theater ruhig, konzentriert und mit einem gewissen Ernst an seinem Platz sitzt, dass man im Bus nicht lauthals debattiert, dass man nicht kaugummikauend mit der Direktorin der Schule spricht, dies alles und vieles mehr ist einigen Eltern nicht bewusst – gerade auch unter den Menschen, die aus anderen Kulturkreisen und mit wenig formaler Bildung nach Deutschland gekommen sind. Ihr Verhaltenskodex ist ein anderer. Sie benehmen sich nicht aus Geringschätzung so, sondern aus Unkenntnis, mangelnder Erfahrung und weil gewisse Dinge, denen man in Deutschland üblicherweise mit Respekt begegnet, für sie eben nicht wertvoll sind.
Dafür ist anderes für sie wertvoll, zum Beispiel die Gastfreundschaft: Mit ihren Gästen gehen gerade Menschen mit Wurzeln in arabischen Ländern sehr respektvoll um. Dies kann mit der Religion zusammenhängen: Egal, welcher Religion die Menschen in den arabischen Ländern angehörten – Gäste wurden und werden bis heute als „von Gott geschickt“ betrachtet. Die Familie, die den Gast beherbergt, ist deshalb für sein Wohlergehen verantwortlich. Was man dem Gast an Gutem tut, tut man für Gott.
Absolute Gastfreundschaft hat eine Schattenseite
Dem Gast bietet man nur das Beste an: Und das klingt ja zunächst einmal wunderbar. Ist doch schön, wenn sich der Gast willkommen und gut aufgehoben fühlt! Doch auch dies kann in Deutschland zu Kollisionen mit der Schule führen.
Beispiel: Eine Mutter hat mit der Lehrkraft einen Nachmittagstermin vereinbart. Die Lehrerin hat sich extra Zeit genommen. Sie wartet und wartet und muss irgendwann der Tatsache ins Auge sehen, dass die Mutter sie versetzt hat. Ihre Stimmung ist schlecht. Am nächsten Tag fragt sie tadelnd das Kind, was denn los gewesen sei. Dessen Antwort: „Wir hatten Gäste. Meine Mutter konnte nicht kommen.“ Die Lehrkraft empört sich: einen so wichtigen Termin einfach nicht einzuhalten, nur weil spontan Besuch gekommen ist? Das ist unhöflich, das ist respektlos! Schule geht doch vor!
Ja, der hohe Wert der Gastfreundschaft – er hat auch eine Schattenseite! Tatsache ist, dass es in vielen Kulturkreisen einen Gesichtsverlust für den Gast bedeuten würde, wenn er – selbst bei unangekündigtem Besuch – zu hören bekäme: „Ich hab gerade keine Zeit. Ich habe einen Termin in der Schule. Du musst leider gehen.“ Es würde sich anfühlen, als würde der Gast aus dem Haus gejagt. Dies wiederum würde sich schnell in der – oft großen – Familie und im Bekanntenkreis herumsprechen: „Die vertreibt die Gäste. Der ist die Lehrerin wichtiger!“
Viele Mütter können diesen großen Druck nicht tragen. Sie fühlen sich zerrissen, denn sie wissen, dass sie den schulischen Termin wahrnehmen müssten, aber sie bringen es nicht fertig, dies dem Gast ins Gesicht zu sagen. Also wird der Gast bewirtet, und der Termin verstreicht. Dass die Begründung „Ich hatte Gäste“ bei Lehrkräften auf rein gar kein Verständnis stößt, muss man einfach aushalten.
Die Gäste stehen über allem – auch über den eigenen Kindern
Und dann kann das mit der Gastfreundschaft auch so aussehen: Auf den Besuch angekündigter Gäste bereitet sich die Mutter so gründlich vor, dass für nichts anderes Zeit und Nerven bleiben. Die Wohnung wird geputzt und aufgeräumt, Massen von Essen werden zubereitet. Kinder, die in dieser Phase Aufmerksamkeit oder Zuspruch von ihrer Mutter erwarten, werden als Störung wahrgenommen. Erzeugen sie gar durch Basteln oder kreatives Spielen Unordnung, erhalten sie keine Wertschätzung für ihr Schaffen, sondern erheblichen Tadel wegen der zerstörten Ordnung. Sitzen die Kinder hingegen ruhig vor dem Fernsehgerät, am Smartphone oder an der Spielekonsole, gilt dies als brav. Denn Gastfreundschaft zählt in diesem Moment mehr als die Entfaltung des Kindes.
Die Kinder werden abgewimmelt – weil Gäste kommen
Gastfreundschaft kann so weit gehen, dass den Kindern der Gäste Verhaltensweisen zugestanden werden, die für die eigenen Kinder ein No-Go sind. Über derartige Ungerechtigkeiten wird nicht diskutiert, sie müssen hingenommen werden. Da der Wert der Gastfreundschaft ein so hoher ist, kommen derartige Situationen nicht selten vor. Und so ergibt es sich immer wieder, dass Kinder abgewimmelt werden – weil Gäste kommen.
Besserwisserei und Geringschätzung helfen nicht weiter
Nun könnte man diesen Eltern entgegenrufen: „Ihr solltet euch lieber um eure Kinder als um eine blitzende Wohnung und Berge von Essen kümmern!“ Aber was die Sache so schwierig macht: Gastfreundschaft ist nicht nur ein Wert, sondern eine innere Einstellung. Damit sich so etwas ändern kann, muss viel passieren. Die betreffende Person muss bereit zur Änderung sein, und sie braucht jemanden, der sie dabei unterstützt. Am besten funktioniert das mit neu gewonnenen, positiven Erfahrungen. Aber der Prozess ist schwer, denn die alte Einstellung sitzt tief. Mit Besserwisserei und Geringschätzung ist nichts gewonnen.
Erzieherin Eylem Emir berichtet: „Wenn ich mit den Müttern meiner Stadtteilmütter-Gruppe über das Thema rede, versuche ich, bei ihnen Verständnis dafür zu wecken, dass die eigenen Kinder wichtiger sind als Gäste. Kleine Kinder wollen nun mal spielen und basteln. Sie schulen so ihre Feinmotorik, sie entwickeln Kreativität, sie befriedigen ihren Forschungsdrang. Wenn Mütter zu ihrem Kind sagen ‚Hau ab, du siehst, dass ich kochen muss!‘ oder ‚Schau dir was im Fernsehen an und stör mich nicht!‘ oder wenn sie gar laut werden und schimpfen, dann entgeht den Kindern die so wichtige Wertschätzung, dann wird die Bindung zwischen Kind und Mutter nicht gepflegt. Das Kind nimmt als Botschaft mit: ‚Ich bin schlecht. Das, was ich mache, ist nicht gut.‘ Deshalb sage ich den Müttern auch ganz klar: ‚In Deutschland erwartet man, dass die Kinder zu Hause etwas lernen und dass sie nicht nur vor dem Fernseher sitzen. Fördert ihr eure Kinder nicht, müsst ihr euch nicht wundern, dass sie in der Schule Schwierigkeiten beim Schneiden und Schreiben haben und irgendwann die Schule überhaupt nicht mehr mögen.‘“
Die Mütter seien dann oft völlig verunsichert. Emir: „Dann ermuntere ich sie zum Umdenken. Ich sage: ‚Ja, wir haben es so gelernt. Aber ist es wirklich richtig, dass wir uns für Gäste so viel Zeit und für unsere Kinder so wenig Zeit nehmen? Kommen die Gäste, für die wir so viel Zeit geopfert haben, zu uns und helfen uns, wenn wir mit dem Kind in der Schule Probleme haben?‘ So kommen die Mütter ins Nachdenken. Sie wägen ab. Ich spüre dann, dass sie das sehr beschäftigt. Sie sitzen in der Zwickmühle. Weiter machen, wie sie es gelernt haben, oder den Mut haben, es anders zu machen?“ Manchmal, so Emir, dauere es ein halbes Jahr. Aber irgendwann ändere sich bei den meisten ihrer Mütter etwas.
Impulse von Lehrkraft zu Lehrkraft
Verhalten, das für uns respektlos wirkt, muss nicht so gemeint sein. Es kann damit zu tun haben, dass andere Dinge als wertvoll angesehen werden als bei uns, oder dass andere Menschen ein anderes Verhalten gewohnt sind, oder dass manche Dinge einfach nicht bekannt sind. Für Menschen, die das Reflektieren eigenen Verhaltens nicht gewohnt sind und die ihr Verhalten oft kritiklos an der Tradition orientieren, ist es schwer, sich davon zu lösen.
Wenn Lehrkräfte über die Zwickmühle Bescheid wissen, in der sich viele Eltern befinden, müssen sie deren Verhalten nicht mehr rein negativ gegen sich selbst gerichtet interpretieren, sondern können – dank Verständnis für die Hintergründe – angemessener damit umgehen. Man kann nicht erwarten, dass Menschen innerhalb kurzer Zeit ihr gewohntes Verhalten über Bord werfen. Veränderung ist ein Prozess, der seine Zeit braucht. Ungeduld und Vorwurfshaltung sind hier nicht zielführend.
Über die Autorinnen
Dieser Artikel ist Teil der Serie „Bildungsfern? Bildungs-anders! Eine Übersicht aller weiteren Artikel finden Sie hier. Illustration: Ariane Dick Bellosillo/Magazin SCHULE