Mit 14 Jahren fängt es bei Janette an. Als sie nach den Sommerferien ihre Freundinnen wiedersieht, stellt sie fest, dass sich einiges verändert hat. Im letzten Schuljahr waren sie noch Kinder, jetzt beginnen sie langsam, wie Frauen auszusehen. Die Pullis werden zu eng, Jungs sehen sich nach ihnen um, sogar Passanten sprechen sie plötzlich mit „Sie“ an. Janette ist verwirrt: Sie will eigentlich nicht, dass sich etwas verändert, aber sie kann dem Erwachsenwerden nicht entfliehen.
Während ihre Freundinnen damit umgehen können, wird Janette bald alles zu viel. Jede kleine Bemerkung stürzt sie in einen inneren Tumult aus Selbstzweifeln, Wunsch nach Anerkennung und dem perfektionistischen Anspruch an sich selbst. Sie war immer eine gewissenhafte Schülerin. Als sie sich, angeregt durch Mode- und Diätzeitschriften, nun dazu entschließt, einige Kilo abzunehmen, setzt sie ihr Vorhaben mit eiserner Disziplin um: Sie zählt Kalorien, hungert sich durch schlaflose Nächte und treibt ständig Sport.
Der Teufelskreis beginnt mit Erfolgen
Was Janette anfangs Anerkennung sowie Erfolgserlebnisse beschert, mündet in einen Teufelskreis. Ob Ärger mit Freundinnen, Liebeskummer oder Stress in der Familie: Sie reagiert auf jedes auftauchende Problem mit dem zwanghaften Versuch, ein weiteres Kilo abzunehmen. Hungern wird zur Gewohnheit, ihr Körper wird dünner, und ihre Gedanken kreisen nur noch um Kalorien. Noch bevor der Winter um ist, bricht sie zusammen. Im Krankenhaus wird klar: Janette leidet an Anorexia nervosa, zu Deutsch: Sie ist eine Magersüchtige.
Bis zu 20 Prozent sterben entweder an den Folgen der chronischen Unterernährung oder durch Suizid
Janette ist die Hauptdarstellerin in dem interaktiven Comic „Ninette – Dünn ist nicht dünn genug“, der Jugendliche und Eltern über Magersucht und andere Essstörungen informiert. Auch wenn Janettes Geschichte erfunden ist, ist ihr Werdegang dennoch typisch für viele der Betroffenen. Insgesamt ist die Erkrankung selten, in westlichen Ländern liegt die Häufigkeit bei etwa einem halben Prozent, wobei gut zehnmal mehr Frauen als Männer betroffen sind, beginnend meist im jugendlichen Alter mit Einsetzen der Pubertät. Dass die Anorexia nervosa dennoch keine Lappalie ist, hat zwei Hauptgründe: Zum einen gelingt es nur etwa der Hälfte aller Erkrankten, je wieder vollständig davon loszukommen – wobei die Chancen umso besser sind, je eher Magersüchtige erkannt und behandelt werden. Zum anderen hat keine andere psychische Erkrankung eine so hohe Todesrate. Bis zu 20 Prozent sterben entweder an den Folgen der chronischen Unterernährung oder durch Suizid.
Das zeigt, wie wichtig es ist, eine Magersucht rechtzeitig zu erkennen. Doch selbst Angehörige und engste Freunde bemerken sie oft erst spät, weil die Betroffenen sehr geschickt Mahlzeiten umgehen und aus Scham alles daransetzen, weder ihren Körper noch ihr Essverhalten zu offenbaren. Hinzu kommt, dass die Betroffenen ihre Magersucht oft nicht als Problem wahrnehmen und dadurch auch kein Interesse daran haben, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken oder gar Hilfe zu suchen. Häufig wird der eigene Körper als wesentlich umfangreicher erlebt, als er ist. Stark abgemagerte Menschen empfinden sich immer noch als zu dick.
Ein Teil dieses veränderten Urteilsvermögens beruht auf den Auswirkungen längeren Fastens, das sowohl den Hormonhaushalt als auch Botenstoffe im Gehirn und damit Bewusstseinszustände beeinflusst. Doch ein Teil geht auch auf Veranlagung zurück: Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Magersüchtigen sowohl eine genetische Vorbelastung eine Rolle spielt als auch Besonderheiten in Gehirnstruktur und -funktion. Beispielsweise ist das Belohnungssystem im Gehirn derart verändert, dass überlebenswichtige Funktionen wie der Appetit sowie die Nahrungsaufnahme durch andere Reize wie etwa Angst vor Gewichtszunahme überlagert werden können. So gelingt es den Betroffenen, ihrem Drang zu essen, dauerhaft zu widerstehen.
Magersüchtige finden nicht mehr aus eigener Kraft heraus
Das führt auch dazu, dass Magersüchtige aus eigenem Antrieb nicht mehr aus der Krankheit herausfinden, da sie weder ihr starkes Untergewicht noch die damit verbundenen gesundheitlichen Probleme erkennen, etwa Kleinwüchsigkeit, Osteoporose, Haarausfall und im fortgeschrittenen Stadium auch lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen. Hilfe von außen ist daher unverzichtbar, allerdings sollte sie so behutsam wie möglich erfolgen, da die Bereitschaft der Betroffenen, etwas zu ändern, erst langsam gewonnen werden muss. Zuallererst kommt es darauf an, die Magersucht überhaupt zu erkennen. Angehörige und Freunde, aber auch Freizeitbetreuer und Lehrkräfte haben hier die besten Möglichkeiten, erste Anzeichen zu bemerken.
Hinweise, auf die man achten sollte, sind neben dem Gewichtsverlust auch das Meiden bestimmter, meist fettreicher Nahrungsmittel, intensive körperliche Aktivität, sozialer Rückzug und bei Mädchen das Aussetzen der Regelblutung. In manchen Fällen kommt chronisches Erbrechen hinzu, die Krankheit kann zeitweise auch in andere Essstörungen übergehen, etwa Bulimie mit Essanfällen und anschließendem Erbrechen. Besteht ein Verdacht, sollte man die Betroffenen möglichst nicht brüsk und direkt konfrontieren, schon gar nicht im Beisein anderer. Sinnvoller ist es, bei einer ruhigen Gelegenheit ein Gesprächsangebot zu signalisieren, ohne allerdings darauf zu bestehen. Möglicherweise wird das Angebot später wahrgenommen.
Eine Ausnahme ist ein akut lebensbedrohlicher Zustand, bei dem die Magersucht so weit fortgeschritten ist, dass die Patienten zu verhungern drohen. In solchen Fällen muss manchmal sogar eine Zwangseinweisung mit Notfallbehandlung stattfinden. Ist die Krise überwunden, sollte alles versucht werden, um den Kooperationswillen der Betroffenen zu gewinnen. Denn ohne ihr Einverständnis kann auch künstliche Ernährung nur vorübergehend Besserung bringen. Ebenfalls sehr wichtig ist es, dass Außenstehende sich über die Erkrankung gut informieren. Es gibt zahlreiche Internetangebote und Ratgeber in Buchform. Sie zeigen passende Schritte für Betroffene und ihre Angehörigen auf:
Den Körper wahrnehmen: Das gelingt Magersüchtigen nur verzerrt Anorexia nervosa Die Kriterien zur Diagnose der Krankheit wurden kürzlich überarbeitet. Demnach gilt als magersüchtig, wer: Das Ausmaß eines Untergewichts wird anhand des Body-Mass-Indexes (BMI) beurteilt. Er errechnet sich aus Körpergewicht geteilt durch Körpergröße zum Quadrat. Bei Erwachsenen sollte er zwischen 18,5 und 24 liegen, bei Kindern und Jugendlichen im Bereich der mittleren 80 Prozent der Referenzgruppe. Web- und Buchtipps Ninette – Dünn ist nicht dünn genug: Infoportal mit Mehr Infos: http://ninette.berlin Anorexie heute: Grimme-Preis-prämiertes Onlineprojekt mit zahlreichen Experten- und Betroffeneninterviews. Mehr Infos: www.anorexie-heute.de Hungrig online: Hier kann man anonym einer virtuellen Selbsthilfegruppe beitreten. Mehr Infos: www.hungrig-online.de Infos zu Essstörungen: Angebot der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Mehr Infos: www.bzga-essstoerungen.de Buchtipp: „Gemeinsam die Magersucht besiegen: Leitfaden für Betroffene, Freunde und Angehörige“, J. Treasure, Beltz, 15,95 EuroInfo zur Magersucht
• dauerhaft aufgrund mangelnder Energiezufuhr ein deutlich geringeres Körpergewicht aufweist als seine Vergleichsgruppe (nach Alter, Geschlecht usw.) und
• entweder starke Furcht vor Gewichtszunahme hat oder durch sein Verhalten dauerhaft eine Gewichtszunahme verhindert (z. B. durch hohe körperliche Aktivität) und
• ein gestörtes Körperbild zeigt, den Selbstwert übermäßig über Körperform und -gewicht definiert oder die Schädlichkeit des eigenen Untergewichts dauerhaft nicht anerkennt.
interaktivem Comic, das sehr anschaulich die Geschichte eines magersüchtigen Mädchens schildert.
Grundsätzlich gilt, dass Magersüchtige oft eine ganz individuelle Herangehensweise brauchen, die auf die persönliche Situation abgestimmt ist. Die erste Anlaufstelle kann der Hausarzt sein oder eine Beratungsstelle für Essstörungen, die helfen kann,
das passende Therapieangebot zu finden. Meist handelt es sich dabei um eine psychotherapeutische Behandlung, oft mit Anleitung zur Verhaltensmodifikation, die ambulant oder in einer spezialisierten Einrichtung für Essstörungen stattfinden kann.Bei Jugendlichen ist es üblich, die Familie so weit wie möglich einzubeziehen.
Magersucht wird nicht durch falsche Erziehung ausgelöst
Das hilft Angehörigen auch dabei, eigene Schuldgefühle zu überwinden. Denn im Gegensatz zu gängigen Vorurteilen ist es nicht so, dass die Krankheit von Fehlern im Umgang, in der Erziehung oder durch Traumatisierung in der frühen Kindheit verursacht wird. Vielmehr liegt der Magersucht ein komplexer Entstehungsprozess zugrunde, bei dem die individuelle genetische und körperliche Veranlagung ebenso eine Rolle spielen wie Temperament und Persönlichkeit und bei dem die unterschiedlichsten Auslöser zum Entstehen der Magersucht führen können, aber nicht müssen. Daher ist es auch nicht sinnvoll, die Ursachen allein im überschlanken Schönheitsideal und im retuschierten Frauenbild der Modezeitschriften zu vermuten. Die Orientierung an solchen Vorbildern kann zwar dazu beitragen, sich in seinem Körper unwohl zu fühlen, ist aber allein noch kein Grund dafür, eine Essstörung zu entwickeln.
Magersüchtige – Im Hungerwahn – Fotos: Fotos – Illustrationen: Interactive Media Foundation gGmbH