Angelina* ist überzeugt, dass sie krank ist. Dyskalkulie lautet die Diagnose, mit der die Achtklässlerin zu Kinderpsychiaterin Elke Möller-Nehring in Erlangen geschickt wurde. Das Mädchen leidet an Ängsten, will nicht mehr in die Schule gehen, weil es glaubt, seine Defizite sowieso nicht mehr aufholen zu können. Vom Gymnasium wechselte sie auf die Realschule – doch das Grundproblem blieb. „Was Angelina fehlt, ist die kleinschrittige Anleitung, wie sie zu Lösungen kommt“ sagt Medizinerin Möller-Nehring. „Eigentlich lernt man das in der Grundschule.“
Ihre Beobachtung: Seit dem deutschen PISA-Schock findet das Einüben von Lerntechniken offenbar immer weniger statt. Freiarbeit ist angesagt und selbstständiges Lernen. Die Folgen erlebt Möller-Nehring in ihrer Praxis: „Es kommen immer mehr Kinder zur Abklärung von Legasthenie, Dyskalkulie oder ADHS zu mir. Dabei sind viele von ihnen gar nicht krank. Ihre Probleme werden meist ungewollt durch falsche Lehrmethoden verursacht. Die Abkehr vom geführten, gut strukturierten Klassenunterricht entzieht den Schülern die zentrale Instanz für das Lernen: den Lehrer.“
Die Lehrer-Autorität – sie scheint ein Auslaufmodell zu sein
Mitverantwortlich ist die erste PISA-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2000, aus der Finnland als Primus hervorging. Deutschland landete nur im Mittelfeld. Also pilgerten Experten und Politiker gen Norden, um das Bildungswunder zu ergründen. Was sie mitbrachten, war eine schöne neue Schulwelt, in welcher der Lehrer eher ein Organisator von Gruppenarbeiten war und die Schüler anregte, sich selbst zu managen und von anderen Schülern zu lernen.
Doch das Kopieren des Systems erwies sich als Fehler, wie Studien heute belegen. „Deutschland ist um ein Vielfaches größer als Finnland, da lassen sich Strukturen nicht einfach übertragen“, sagt Kristina Reiss, nationale PISA-Koordinatorin an der TU München. Diverse Reisen führten sie in das Spitzenland des PISA-Rankings, etwa nach Helsinki. „Was für den Erfolg dort sicherlich mitverantwortlich war, ist, dass Schulen in Finnland stimmig in ein gesellschaftliches System eingebettet sind. Hinzu kommen gute Arbeitsbedingungen, ein fundierter Förderunterricht und sehr gut ausgebildete Lehrer.“
Vorbild Finnland? Das ist schon wieder vorbei
Trotzdem hat auch Finnland seine Vorbildrolle in den folgenden PISA-Erhebungen verloren: Die finnischen Schüler liegen längst nicht mehr an der Spitze. Zwischen den Jahren 2003 und 2012 büßte das Land 25 Punkte ein, in Mathematik schafften es die Schüler nicht einmal mehr unter die ersten zehn Plätze. Alle fragten sich, wie das nur möglich war.
Die Noten werden genau da schlechter, wo die Reformen anfangen zu wirkenBildungsforscher Sahlgren über das angebliche Erfolgsgeheimnis Finnlands
Gabriel Heller Sahlgren von der London School of Economics glaubt den Grund zu kennen: In einer Studie führt er das Schwächeln auf jene Reformen zurück, die Finnland in den 1990er-Jahren weg vom straff reglementierten hin zum freien Unterricht geführt haben, einem Unterricht, in dem die starke autoritäre Stellung des Lehrers eben nicht mehr maßgebliches Prinzip war. Sahlgren deckt damit genau diejenigen Methoden als ineffektiv auf, die die Bildungswelt zum finnischen Erfolgsgeheimnis erklärt hatte. „Die Noten werden genau da schlechter, wo die Reformen anfangen zu wirken“, heißt es in Sahlgrens Studie. PISA-Koordinatorin Reiss bestätigt: „In der Bildungsforschung dauert es in der Regel zehn bis 15 Jahre, bis Veränderungen sichtbar werden.“
Was ist wichtig? Fachkompetenz jedenfalls nicht
Soll der Lehrer also wieder mehr in den Mittelpunkt rücken? Ja, lautet die eindeutige Antwort von John Hattie. Der neuseeländische Bildungsforscher hat in seinem viel beachteten Buch „Visible Learning“ versucht, die wichtigste Frage der Bildungsforschung zu beantworten: Was ist guter Unterricht? Dazu hat er sämtliche englischsprachigen Studien zum Lernerfolg zusammengeführt – sei es zu Hausaufgaben, Förderunterricht, richtigem Feedback oder Vokabellernen. Ganze 50 000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteiligten Schülern bezog er ein und kam zu dem Ergebnis: Auf die Lehrer kommt es an. Hattie vergleicht sie mit Regisseuren. „Damit meint er, dass ein Lehrer konkrete Vorstellungen und Pläne für seinen Unterricht und die Schüler haben muss. Das führt zu erfolgreicherem Lernen“, erläutert Bildungsforscher Wolfgang Beywl von der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz (FHNW). Gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer hat er Hatties Bücher ins Deutsche übersetzt und ergänzt (z. B. „Lernen sichtbar machen“, Schneider Verlag).
Hatties Rat an Lehrer: bloß nicht auf die Schüler allein vertrauen, nach dem Motto „Die können das schon, ich muss nur das Lernumfeld schaffen“. Bildungsforscher Beywl stimmt ihm zu: „Wenn ich offene Lernsettings habe, wo sich die Schüler die Probleme selbst suchen, kommen nur die Schüler gut voran, die ohnehin schon auf einem hohen Niveau sind. Schüler, denen Grundlagen fehlen, verlieren in solchen Lernsituationen. Das ist durch deutsche Forschungen gut belegt.“
Unterricht fehlt heute oft der systematische Aufbau
Auch Psychiaterin Möller-Nehring weiß, dass Kinder oft überfordert sind, wenn sie sich Probleme selbst erarbeiten sollen: Es fehlt der systematische Aufbau. Sie erzählt von der Mutter eines Zweitklässlers, dem im Mathematikunterricht gesagt wurde, er solle seinen eigenen Weg finden, um die Aufgaben zu lösen. Er probierte verzweifelt herum, wurde aber immer unsicherer. „Erst als die Mutter ihm klare Vorgaben machte, wie er diese und künftige Aufgaben derselben Art lösen sollte, gelang es ihm. Er wurde wieder sicherer, und in Mathe ging es bergauf.“
Die Ärztin aus Erlangen sieht sowohl Eltern als auch Lehrer in der Pflicht, ihre Führungsrolle wieder stärker wahrzunehmen: „Am Gegenüber von Erwachsenen entwickelt sich die Persönlichkeit der Kinder, ihre emotionale und soziale Psyche. Selbstständig werden gelingt nur auf der Grundlage von stabilen Beziehungen und einem soliden fachlichen Fundament, das sich durch Anleitung und adäquate Lern- und Übungsformen entwickeln kann.“
Zwei Drittel des Lernerfolgs können Schulen nicht beeinflussenHattie-Metastudie
Das sieht auch Bildungsforscher John Hattie so. Er schreibt den Eltern, der sozialen Herkunft eines Kindes sowie weiteren nicht oder kaum beeinflussbaren Faktoren zwei Drittel am Lernerfolg zu, dem Lehrer ein Drittel. Bei den Unterrichtsformen definiert er insbesondere zwei Arten als wirksam: Zum einen direkte Instruktion zum Aufbau von Basis- und Oberflächenwissen, zum anderen kooperative Lernverfahren zum Aufbau von Tiefenwissen – das gelingt, sofern diese Gruppenarbeiten sehr gut vorbereitet sind.
Funktioniert mein Unterricht eigentlich? Diese Frage ist für viele Lehrer neu
Mit direkter Instruktion meine Hattie keineswegs den in Verruf geratenenen Frontalunterricht, erläutert Bildungsexperte Beywl. Der Lehrer solle vielmehr gemeinsam mit der Klasse einen neuen Stoff im Plenum erarbeiten. „Haben es alle verstanden, kann eine sichernde Trainingsphase folgen“, so Beywl. Solch ein Unterricht aus gelenkten und individuellen Erprobungsphasen sei sehr erfolgreich. Und das solle jeder Lehrer regelmäßig für sich überprüfen, fordert Hattie, der die Pädagogen auch als Evaluatoren sieht. „Sie sollen sich auf Grundlage von Daten versichern: ‚Wo steht meine Klasse, wo die einzelnen Schüler, was löse ich mit meinen Unterrichtsmethoden aus, wie kommen wir voran?‘“, erklärt Beywl. Auch eine kleine Abfrage bei Schülern sei dabei hilfreich – eine ungewohnte Sichtweise für Lehrer, die sonst meist auf ihre Intuition vertrauten. Beywl: „Lehrer wissen, dass die eigene Reflektion ein wichtiger Bestandteil ihrer Professionalität ist. Hattie fordert sie nun zusätzlich zum Check an der Realität auf.“
Jeder Fünfte scheitert immer noch an einfachsten AufgabenPisa-Studie 2013
Den optimalen Weg zum erfolgreichen Lernen haben die Deutschen offenbar noch nicht gefunden – zumindest lassen das die PISA-Ergebnisse vermuten. Zwar haben sich die schulischen Leistungen hierzulande in den vergangenen 15 Jahren kontinuierlich verbessert, wie aus einer im Frühjahr veröffentlichten Sonderauswertung der 2013 erschienenen PISA-Studie hervorgeht. Demnach sank der Anteil leistungsschwacher Schüler zwischen den Erhebungen 2003 und 2012 in Mathematik um vier und im Lesen um acht Prozent. Aber in Deutschland scheitert noch immer fast jeder fünfte Schüler an einfachsten Aufgaben. 18 Prozent der 15-Jährigen haben ausgeprägte Schwächen in Mathematik, 14 Prozent beim Lesen, zwölf Prozent im naturwissenschaftlichen Bereich.
Also doch: Autorität hilft. Oder zumindest Klarheit
„Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder wieder eine stärkere Verankerung bei uns Erwachsenen bekommen – familiär und schulisch“, fordert Kinderpsychiaterin Möller-Nehring. „Sie sind von Natur aus darauf angewiesen, in einer personalen Struktur zu lernen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln.“ Hilfreich dabei: klare, ruhige erzieherische Vorgaben.
Ob ein „LehrplanPLUS“, wie es ihn in Bayern gibt, in die richtige Richtung weist? Er setzt auf Kompetenzorientierung – also darauf, dass Kinder Fähigkeiten aus sich selbst heraus entwickeln und weniger auf Wissen trainiert werden. Die Eigeninitiative zählt. Wird der Lehrer zum Coach und Lernbegleiter reduziert?
Das wäre problematisch, meint Ärztin Möller-Nehring: „Dabei fällt eine ganz wichtige Funktion der Schule weg – das Einüben von Demokratie.“ Schließlich treffen in der Schule Kinder aus unterschiedlichen Familien mit verschiedenen sozialen Hintergründen aufeinander. Sie sollen lernen, andere zu respektieren, ihnen zuzuhören und eine Diskussionskultur zu entwickeln. „Dazu braucht es den Lehrer als Person und nicht als Moderator.“ Möller-Nehring glaubt an die Bedeutung einer wahren Lehrerpersönlichkeit: „Ein Lehrer muss Vorbild sein, Werte und Normen vermitteln und mit pädagogischem Geschick wirken. Doch dieser zwischenmenschliche Bezug steht leider nicht mehr im Vordergrund.“
*Name von der Redaktion geändert
Hattie sagt in seiner Studie ausdrücklich, dass der Satz „auf den Lehrer kommt es an“ komplett missverstanden wurde. Auf das was der Lehrer tut (!) kommt es an. Und Frontalunterricht ist alles andere als das was Hattie als wirksam herausstellt: Direkte Instruktion ist der systematische Wechsel zweischen kurzer Instruktion und Üben, alleine, in Gruppen, mit formativem Feedback.
Vielem im Artikel kann ich ausdrücklich zustimmen. Danke! Auch ich meine, dass wir uns auf einem verhängnisvollen Irrweg befinden, wenn Lehrer zu „Begleitern“ und „Moderatoren“ gemacht werden sollen.
Allerdings gebe ich zu, dass ein Satz mich amüsiert hat:
„… keineswegs den in Verruf geratenenen Frontalunterricht, erläutert Bildungsexperte Beywl. Der Lehrer solle vielmehr gemeinsam mit der Klasse einen neuen Stoff im Plenum erarbeiten.“
Genau DAS ist Frontalunterricht – jedenfalls seit mindestens 40 Jahren:
„gemeinsam mit der Klasse einen neuen Stoff im Plenum erarbeiten“
– was denn sonst? Dieses Handwerkszeug, diese Technik erlernen Lehrer, ganz strukturiert.
Da nun einen völlig schrägen, unwahren Gegensatz herzustellen zu wollen, ist absurd. Hier soll wohl ein Begriff künstlich verteufelt und verbrannt werden.
Die Idee von Freiarbeit ist gut und hilft richtig eingesetzt auch schwächeren Schülern (dafür gibt es Beispielschulen), aber in den Regelschulen in Deutschland bei Klassengrößen mit bis zu 30 Schülern und einer Lehrkraft ist das Modell einfach nicht richtig umsetzbar.
Zitat: „Auf die Lehrer kommt es an. Hattie vergleicht sie mit Regisseuren. „Damit meint er, dass ein Lehrer konkrete Vorstellungen und Pläne für seinen Unterricht und die Schüler haben muss. Das führt zu erfolgreicherem Lernen““
Diese Aussage ist kein Argument gegen Freiarbeit…
Einen Plan haben sicher die meisten Lehrer, aber der ist auch in deren Augen nicht ihr eigener, sondern der veraltete und komplett überladene staatliche Lehrplan. Statt die Themen im Akkord durchzuackern würden viele Lehrer (vor allem in der Grundstufe) gerne bei wichtigen Themen verweilen und sich auf die Grundlagenfestigung konzentrieren.
Dies ist aber bei unseren Standards nicht möglich, denn die Leistungen müssen ja Vergleichbar sein um die Kinder auf Teufel komm raus bereits in der 4.Klasse zu selektieren… Was für ein Irrsinn!
Hattie: „Auf den Lehrer kommt es an!“ Ist das ein Widerspruch zu Finnland? Wohl kaum, eher zur deutsche Interpretation des finnischen Bildungssystems! Die suchte von Anfang an „Schuldige“ statt Lösungen. Am beliebtesten „die“ Eltern, die ihre Kinder nicht mehr erziehen. Dabei ist die Rolle des Lehrers/der Lehrerin seit Generationen im Volksmund bekannt: „Dein Lehrer, dein Schicksal!“. Dafür brauchte es keine PISA-Studie + Bildungsreisen nach Finnland. Dafür brauchte es nur ein Blick auf die Haus- und Klassenarbeiten der Kinder, z.B. in Mathe: „Herr Schröder fährt für 6 Tage in Urlaub. Er zahlt 45€ am Tag. Frage-Rechnung-Antwort“ Wenn dann ein einigermaßen intelligenter Schüler auf die Frage kommt: „Was haben Sie dafür bezahlt?“ und mit richtiger Berechnung auf die Antwort: „Es hat gekostet…“, sollte ein deutscher Lehrer damit doch wohl zufrieden sein. Falsch! Und Punktabzug! Denn so fragt man doch nicht, wörtliche Rede in einer Mathe-Arbeit! Und die passte nicht einmal zur Antwort „Es hat gekostet…“. Dafür passte die Antwort der Lehrerin auf die Frage der Mutter „wieso, weshlab, warum“?: „Dafür werden Sie mir noch die Hände küssen!“
Ein Zeichen von zu wenig Autorität von LehrerInnen in D? Wohl kaum! Eher ein Zeichen von zu viel Selektion im deutschen Schulsystem. Die hat nämlich nicht die Förderung von SchülerInnen im Blick, sondern deren Auslese. Da ist jedes Mittel recht, das Verwirrung stiftet, Unklarheit schafft und Privilegien für diejenigen, die mit der Muttermilch schon auf unser Bildungssystem eingenordet worden sind. Mit Demokratie hat das nix zu tun. Die ist im deutschen Bildungssystem ohnehin die Quadratur des Kreises. Dem fehlt es nämlich an allem, was Demokratie ausmacht, zunächst Gewaltenteilung und freie Presse. Schüler- wie Abizeitungen werden inzwischen von Schulleitern zensiert – aus Mangel an Autorität? Dabei hilft ein einfacher Trick: der Schulleiter ist der Herausgeber. Und diese Zeitungen werden sogar noch prämiert! Wer hat denn da wann und wo was von Demokratie gelernt?
Vorbild Finnland? Das ist schon wieder vorbei.
Eine verwegene Behauptung, die sich nur auf PISA-Ergebnisse abstützt.
Die finnische Gemeinschaftsschule stellt für die deutschsprachigen Schulen noch immer eine grosse Herausforderung dar. Ich beschränke mich auf drei Kriterien:
die finnische Gemeinschaftsschule ist europaweit die einzige Staatsschule, die ohne Selektion/Diskriminierung arbeitet, die ein ganzheitliches Bildungskonzept verfügt, ab Geburt bis ins hohe Alter. Ich bezweifle, dass Hattie solche Schulen berücksichtigt hat in seinen Erhebungen.
in Deutschland und der Schweiz besuchen 20-50% der Lernenden bezahlten Nachhilfeunterricht während ihrer Schullaufbahn. Bildungsabschluss hängt signifikant mit sozialer Herkunft der Eltern zusammen.
Finnland: Nachhilfeunterricht wäre Bankrotterklärung der öffentlichen Schule.
Lehrerinnenburnout: Auf hohem Niveau konstantes Phänomen im deutschsprachigen Raum.
Seit Jahrzehnten bekannt, jedoch ohne wirksame Gegenmassnahmen.
Finnland: Burnout-Erkrankungen von Lehrpersonen praktisch unbekannt.
Fazit: Die finnische Volksschule enthält noch immer pädagogische Stärken, die für uns nur schwer umsetzbar sind.