Herr Hurrelmann, Sie nennen die aktuellen Schülerinnen und Studierenden „Generation Greta“, nach der „FridaysForFuture“-Initiatorin Greta Thunberg. Sind die Klima-Proteste tatsächlich so außergewöhnlich, dass man danach eine ganze Generation ausrufen müsste?
Ja, auf jeden Fall. So viele junge Leute wie heute waren wirklich schon lange nicht mehr politisch interessiert und vor allem auch engagiert. Und zentrale Themen sind dabei eben Umwelt und Klima.
Wie groß ist denn dieser politisch engagierte Teil der jungen Generation?
Auf schätzungsweise 40 Prozent passt dieses Etikett wirklich sehr gut. Für sie gehören politisches Interesse, Engagement und das Thema Umwelt beziehungsweise Klima so eng zusammen, dass sie sich mit Initiativen wie „FridaysForFuture“ absolut identifizieren.
Stammen diese 40 Prozent aus allen gesellschaftlichen Bereichen, oder sind die Klimaproteste – etwas boshaft gesagt – eher ein Hobby der Reichen?
Das hat mit Reichtum tatsächlich ein bisschen zu tun, viel mehr aber mit Bildung. Zur „Generation Greta“ gehören vor allem Schülerinnen und Schüler aus gut situierten Elternhäusern, in denen viel Wert auf Bildung gelegt wird. Entsprechend protestieren vor allem Kinder und Jugendliche aus Schulen mit gymnasialer Oberstufe. Auch Greta Thunberg stammt ja aus einem solchen Milieu.
Streiken muss man sich leisten könnenKlaus Hurrelmann, Bildungsforscher
Woran liegt das?
Nun, muss man sich das Protestieren auch leisten können. Wer freitags regelmäßig die Schule schwänzt, muss damit rechnen, in den Noten abzusacken oder einen Schulverweis oder andere Strafen zu bekommen. Da hilft es, wenn man weiß, dass einen die Eltern notfalls retten.
Was ist dann mit den restlichen 60 Prozent?
Weitere 30, 35 Prozent sind schon noch politisch interessiert, aber weniger als ihre aktiven Altersgenossen. Das sind meistens Kinder und Jugendliche, die ganz gut durch die Schule kommen, sich keine großen Sorgen machen, aber eher ihren Alltag im Blick haben. Die verfolgen die Diskussionen um unser Klima durchaus, würden aber nicht bei FridaysForFuture mitmarschieren. Und dann sind da noch etwa 25 Prozent, die schon von ihrer Familie eher schlecht abgesichert sind, dort wenig Bildung erfahren haben und die oft große Probleme in der Schule haben. Diese jungen Leute – weit überwiegend sind das Jungs oder junge Männer – fühlen sich oft gesellschaftlich vernachlässigt und neigen eher nationalistischen, autoritären Ideen zu als der Umweltbewegung.
Bei FridaysForFuture scheinen dagegen die Frauen tonangebend.
Das ist auffällig, ja. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass Schülerinnen heute generell besser in der Schule sind und sich daher das Streiken eher leisten können. Aber es muss auch am Thema selbst liegen, mit dem sich Mädchen offenbar besonders gut identifizieren können. Jedenfalls ist es neu, dass sich junge Frauen so stark politisch engagieren – und unsere Daten reichen ziemlich weit zurück, bei der Shell-Jugendstudie bis ins Jahr 1953.
Wie hat sich das Engagement der Schülerinnen und Schüler generell seitdem verändert?
Das politische Interesse von Jugendlichen schwankt über die Jahrzehnte hinweg stark. Mal ist es niedriger, dann wieder höher wie jetzt. Das hängt eng mit der wirtschaftlichen Lage zusammen: Wenn die jungen Leute gute Perspektiven sehen, werden sie politischer, und wenn sie zittern müssen, werden sie unpolitischer. Letzteres könnte uns jetzt mit der Corona-Krise wieder passieren, wenn daraus auch eine Wirtschaftskrise mit hoher Jugendarbeitslosigkeit wird.
Für wie wahrscheinlich halten Sie das?
Nach den derzeitigen Daten wird die wirtschaftliche Lage nach der Pandemie vor allem für diejenigen schwierig, die es vor Corona schon schwer hatten. Die Leidtragenden sind dann vor allem Jugendliche aus unterprivilegierten Elternhäusern, die tatsächlich so etwas wie eine „Generation Corona“ bilden könnten. Auf der anderen Seite sind die gut Situierten und Gebildeten davon nach den bisherigen Prognosen kaum betroffen. Die „Generation Greta“ dürfte aller Voraussicht nach also bleiben.
Schulstreiks waren das stärkste und raffinierteste Instrument der Bewegung
Die Corona-Pandemie hat die Klima-Proteste allerdings zumindest unterbrochen. Glauben Sie, dass die Bewegung noch einmal so groß wird wie vorher?
Die ganz aktiven jungen Menschen, das sind ungefähr fünf Prozent, sind sehr stark ausgebremst worden. Wenn die Schule geschlossen ist, ergeben Schulstreiks natürlich keinen Sinn mehr. Dabei waren die das stärkste und raffinierteste Instrument der Bewegung: Jeder musste sich damit befassen, die Eltern, die Lehrkräfte, die Politik, das war ungeheuer nervig – und ungeheuer wirksam. Denn das hat wirklich alle aufmerksam gemacht auf das Thema Klimawandel. Wahrscheinlich hätten wir heute keine Klimaschutzgesetze in dieser Form, wenn nicht am 20. September 2019 beim weltweiten Klimastreik praktisch die ganze gebildete Republik auf die Straße gegangen wäre. Diese Erfolge halten die Bewegung weiterhin zusammen.
Wie lange noch?
Das ist schwer zu sagen. Die politischen Parteien haben schon ein Auge auf die politischen Köpfe der Bewegung geworfen. Vor allem die Grünen sind da sehr aktiv, und die Partei ist für die jungen Leute auch sehr interessant. Aber vielen Anhängern von FridaysForFuture sind die Grünen derzeit nicht radikal genug. Und die Stärke der Bewegung liegt auch darin, dass sie sich bisher von jedweder Partei ferngehalten hat. Dadurch ist sie viel intensiver und schlagfertiger, und das wissen die jungen Leute. Es bleibt also spannend.
Sie haben als Forscher viele Schülergenerationen begleitet. Glauben Sie, dass der Einsatz fürs Klima die „Generation Greta“ so prägt, wie die 1968er-Proteste eine Generation geprägt haben?
Ich denke, das ist mit der 68er-Bewegung durchaus vergleichbar. Der Protest der Schülerinnen und Schüler sitzt enorm tief, er wird mit unglaublich viel Leidenschaft vorgetragen. Das sind feste Überzeugungen, die ja auch mit grundlegenden Veränderungen im Alltag verbunden werden. Man zwingt sogar seine Familie zu einem anderen Lebensstil! Das geht so schnell nicht verloren. Natürlich wird auch diese Generation ein paar Lebenskompromisse eingehen. Aber ihre Ernsthaftigkeit erscheint mir nachhaltig: Diese jungen Menschen wissen, dass für unsere Weiterleben wirklich etwas auf dem Spiel steht. Darin hat sie die Corona-Krise sogar noch bestätigt. Meine Prognose ist: Das bleibt.