Andreas rutscht. Zentimeter für Zentimeter gleiten seine Finger an dem blauen Griff hinab, obwohl er sie so fest hineinkrallt, dass die Knöchel weiß hervortreten. „Mist!“, schallt es durch die Kletterhalle, dann baumelt der 15-Jährige auch schon im Seil. Fünf Meter weiter unten schüttelt Übungsleiter Johannes lachend den Kopf und seilt seinen Schüler ab. Als dieser neben ihm auf der Matte zum Stehen kommt, geht es an die Fehleranalyse: „Wenn du die Hüfte näher zur Wand drehst, hast du mehr Reichweite und kommst besser an den Griff“, erklärt Johannes und demonstriert das Gesagte an der Kletterwand.
Jedes Wort, jede Bewegung sitzt – die Grundlagen des Kletterns hat Johannes schon vielen beigebracht. Seit vier Jahren ist der 22-Jährige Übungsleiter in einem Weinheimer Sportverein, noch zu Abizeiten hat er eine Ausbildung zum Kletterwandbetreuer gemacht. Einmal in der Woche erklärt er seitdem Kindern zwischen acht und 14 Jahren, wie man einen Achter knotet, sich richtig sichert und die Routen an Kletter- und Boulderwand möglichst Kraft sparend angeht.
Um Kraft geht es an diesem Abend auch ein paar Kilometer entfernt im hessischen Birkenau. Dort mischen sich in der Sporthalle des TSV aufgeregtes Stimmengewirr, das Quietschen von Gummisohlen auf dem Hallenboden und das satte Platschen aufprallender Bälle. Mittendrin: Jana, 17, Paula, 15, Katharina, 16, und Lea, 15. Die vier Handballerinnen trainieren mit einer Gruppe Grundschüler, wie man möglichst genau Pässe spielt und die Kraft beim Werfen richtig dosiert. Jeden Montagabend geben die Teenager ihr Wissen an die Jüngeren weiter, statt selbst an Pässen, Taktik und Ballgefühl zu feilen.
„Manchmal ist es stressig, neben der Schule nicht nur das eigene Training unterzubringen, sondern sich auch um die Kids zu kümmern“, sagt Katharina, „aber es macht auch wahnsinnig viel Spaß.“ Die anderen drei nicken zustimmend. Alle haben beim Verband einen Lehrgang besucht und dürfen sich nun „Schülermentoren“ nennen. Ihre Aufgaben nehmen sie ernst: Jede Trainingsstunde wird sorgfältig geplant, zur Motivation denken sich die Mädchen oft Spiele aus, bei denen die Kinder quasi nebenbei neue Techniken erlernen.
Menschen wie Johannes, Paula, Jana, Lea und Katharina gibt es in jedem Sportverein der Republik – und sie sind unersetzlich. Ohne ihr Engagement und ihre Leidenschaft wären die Vereine ein anderer Ort. Egal um welche Sportart es sich handelt, überall bringen sich Jugendliche mit ein und übernehmen vielfältige Aufgaben. Entweder direkt im Sport, zum Beispiel als Trainer, Übungsleiter oder Schiedsrichter. Oder im Hintergrund als Jugendwart, Web-Master oder Helfer bei der Organisation von Wettkämpfen und Veranstaltungen.
Einer Studie der Humboldt-Universität Berlin zufolge sind mehr als die Hälfte aller Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren im Sportbereich aktiv. Das ist bemerkenswert, denn die Bereitschaft, sich freiwillig zu engagieren, ist seit Jahren rückläufig. Professor Sebastian Braun, Verfasser der Studie und Leiter der Abteilung Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft, sieht die Gründe dafür vor allem in den Strukturveränderungen des Schul- und Hochschulsystems – Stichwort Bologna, G8 und die zunehmende Verbreitung der Ganztagsschule. „Diese Veränderungen beschränken die zeitlichen Handlungsspielräume für Jugendliche, die sich freiwillig engagieren wollen“, so Braun in einem Interview.
1,25 Millionen junge Menschen engagieren sich ehrenamtlich im Sport
Beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) sieht man diese Entwicklung relativ gelassen. Kein Wunder: Die dort angesiedelte Deutsche Sportjugend ist mit über 10 Millionen Mitgliedern in rund 91 000 Vereinen die größte Jugendorganisation des Landes. 1,25 Millionen Mitglieder engagieren sich ehrenamtlich, damit ist der Sportbereich mit großem Abstand das beliebteste Handlungsfeld junger Menschen. Natürlich macht der Trend zu weniger Engagement auch vor den Sportvereinen nicht Halt. Trotzdem ist die Bereitschaft, sich in diesem Bereich einzubringen, deutlich größer als bei anderen Organisationen.
„Das Vereinsleben aktiv mitzugestalten und sich im Sport zu engagieren ist für Kinder und Jugendliche einfach ein faszinierendes Arbeitsfeld“, sagt Christian Siegel vom DOSB. Außerdem wird die Entwicklung teilweise dadurch kompensiert, dass sich viele Jugendliche intensiver und dauerhafter als früher einbringen. Die Langzeituntersuchung der Humboldt-Universität zeigt beispielsweise, dass der Anteil von Jugendlichen gestiegen ist, die in ihrem Verein Leistungs- und Vorstandsfunktionen wahrnehmen. Tatsächlich sind viele Vereine auf die Mitarbeit des Nachwuchses angewiesen.
Ohne das Engagement der Jugendlichen würden viele Vereine gar nicht funktionieren
Ohne das Engagement der Jugendlichen würden viele Vereine gar nicht funktionieren. Der Sportentwicklungsbericht des DOSB offenbart: 70 Prozent der Vereine sind stark in der Jugendarbeit engagiert und versuchen, möglichst viele Beteiligungsmöglichkeiten zu bieten. Wovon aber hängt es ab, ob Jugendliche diese nutzen? „Ich hatte einfach Bock drauf“, sagt Kletterer und Übungsleiter Johannes. „Handball ist unser Leben“, sagt die Handball-Clique.
„Weil man selbst viel lernt“, sagt Ina. Die 21-Jährige trainiert Kinder im Bereich Leichtathletik. Früher war sie im Leistungssport aktiv, heute steht sie ausschließlich als Trainerin auf dem Sportplatz. Mit 16 Jahren machte sie ihren Kindertrainerschein, jetzt steht die C-Lizenz an. Obwohl die Studentin selbst nicht mehr an Wettkämpfen teilnimmt, ist sie ihrem Verein im hessischen Fürth treu geblieben. „Es macht mir einfach Spaß, Wissen zu vermitteln und junge Menschen zu motivieren“, sagt Ina und deutet auf ein Mädchen, das gerade eine Sprintübung absolviert. „Wenn die Kinder zu uns kommen, können sie kaum zehn Meter gerade gehen. Und ein paar Monate später sind sie richtige kleine Sportler.“
Ihr Engagement hat Ina und Johannes auch bei der Berufswahl geholfen, beide studieren heute auf Lehramt. Der eine Mathe und Physik an der Universität, die andere Grundschul-Lehramt an der Pädagogischen Hochschule. „Durch das Training wusste ich, dass ich gut mit Kindern umgehen und ihnen etwas vermitteln kann. Das hat mir nach dem Abitur geholfen, mich beruflich zu orientieren“, sagt Ina. Und Johannes ergänzt: „Klar hilft die Erfahrung aus der Sporthalle, wenn man später mal vor einer Klasse steht und etwas erklären will.“
Man wird selbstbewusster und bekommt ein anderes AuftretenPaula, 15, Handball-Trainerassistentin
Ähnliche Erfahrungen haben auch die Handball-Mädchen gemacht. „Man wird selbstbewusster und bekommt ein anderes Auftreten“, sagt Paula, der auch die soziale Komponente wichtig ist. Die Kinder aus dem Training grüßen sie auf dem Schulflur, sitzen am Wochenende bei Wettkämpfen als Fans auf der Bühne und kommen auch mal mit persönlichen Problemen zu ihren Trainerinnen. „Handball ist ein Mannschaftssport und für alle hier wie eine große Familie“, sagt Jana. „Außerdem ist es schön, auch ein bisschen Vorbild zu sein“, sagt Lea. Dass alle gerade ziemlich im Schulstress stecken, ist für die Mädchen nicht so wichtig. Ohne Sport geht es einfach nicht, er ist ihr Ausgleich und ihre Leidenschaft. „Aber zugegeben, viel Zeit für anderes bleibt nicht. Es gibt Schule, Freunde und Handball“, sagt Katharina, „aber unsere Freunde sind ohnehin fast alle auch im Verein.“
Soziologen sehen in diesen sozialen Strukturen einen wichtigen Grund für die Attraktivität sportlichen Engagements für Jugendliche. Hinzu kommt, dass Sport viel mit Identifikation und Persönlichkeitsentwicklung zu tun hat – ähnlich wie Musik, Literatur oder Klamotten. „Freiwilliges Engagement im Sport lässt sich immer auch als Ausdruck eines bestimmten Lebensstils deuten“, so Professor Braun in einem Interview. Außerdem können sich Jugendliche in Sportvereinen ausprobieren und das Vereinsleben mitgestalten, nicht umsonst gelten die Vereine als Schulen der Demokratie.
Allerdings machen eher Jugendliche aus dem Bildungsbürgertum davon Gebrauch. Studien belegen, dass es im Sportbereich die gleichen Probleme mit Chancengleichheit gibt wie in der Schule: Ganze zwei Drittel der im Sport etwa als Trainer oder Übungsleiter engagierten Jugendlichen erstreben einen hohen Bildungsabschluss wie das Abitur, oder sie haben bereits einen solchen Abschluss gemacht. Soziologen sehen sich daher in einer These bestätigt: Die sozialen Milieus driften schon im Jugendalter zunehmend auseinander.
Fotos: Simon Hofmann/Magazin Schule