İlker Çatak, für die Recherche zu Ihrem Film „Das Lehrerzimmer“ haben Sie unter anderem in einer Schule hospitiert. War es dort noch so, wie Sie es aus ihrer Schulzeit kannten?
Es haben sich schon viele Dinge verändert. Ich habe 2002 Abitur gemacht, damals gab es beispielsweise noch keine Handys. E-Mails waren noch nicht so verbreitet, es gab keine WhatsApp-Gruppen zwischen Eltern. Die Kommunikationswege sind viel kürzer geworden. Dadurch stehen Lehrerinnen und Lehrer unter einem ganz anderen Druck, auch weil Eltern heute ein anderes Selbstbewusstsein haben: Da kann es gut passieren, dass Eltern zur Lehrerin gehen und sich beklagen, weil ihr Kind nur eine Drei und keine Zwei bekommen hat. Das hätte es in meiner Schulzeit nicht gegeben, da gab es noch eine große Ehrfurcht vor den Lehrerinnen und Lehrern.
Im Film „Das Lehrerzimmer“ verarbeiten İlker Çatak und sein Co-Autor Johannes Duncker viele Eindrücke aus der eigenen Schulzeit und aus ihren Recherchen in heutigen Lehrerzimmern. 2024 wurde der Film für einen Oscar nominiert.
Waren Sie erstaunt über den Druck, der auf den Lehrkräften liegt?
Ja, auf jeden Fall. Zum einen könnten die Lehrerinnen und Lehrer heutzutage problemlos den ganzen Tag mit Arbeit füllen – da müssen Sie schon eigene Grenzen ziehen. Und was mir zum anderen immensen Respekt abgefordert hat, ist die Multitaskingfähigkeit, die heute in der Schule erforderlich ist. Ständig passieren Dinge parallel: Kaum ist der Unterricht vorbei, kommt ein Kind und holt das Klassenbuch. Man geht auf den Flur, auch da will jemand irgendwas von einem. Schließlich ist man im Lehrerzimmer, müsste dort eigentlich einen Zoom-Call machen, aber dann wird man schon wieder angesprochen … Diese Gleichzeitigkeit hat dann auch Eingang in unseren Film gefunden.
Sie haben die ersten Jahre Ihrer Schulzeit in Berlin verbracht und sind später mit Ihrem Eltern nach Istanbul gezogen. Wie unterschiedlich waren Ihre Erfahrungen damit?
Riesig. Das fängt schon damit an, dass wir in der Türkei Schuluniformen tragen mussten. Wir hatten graue Hosen und Krawatten und weiße Hemden, die wir jeden Tag anziehen mussten. Jeden Montagmorgen wurde die türkische Nationalhymne gesungen, und am Freitagnachmittag noch einmal, bevor alle ins Wochenende gegangen sind. Dazu kam, dass ich in Istanbul auf der Deutschen Schule war. Dort wurde deutsch gesprochen und es gab deutsche Klassen, aber man war gleichzeitig im türkischen Schulsystem und dem türkischen Bildungsministerium untergeordnet. Ich habe in der Türkei ein deutsches Abitur gemacht, aber ich glaube, das Niveau war härter.
Das Abitur in Istanbul war härter als in Berlin
Härter als in Deutschand?
Na ja, härter als in Berlin. Oder ich bin einfach in die Pubertät gekommen (lacht). Vielleicht beides.
Die Hauptfigur Carla in Ihrem Film gibt sich als Lehrerin alle Mühe, sie will wirklich nur das Beste. Haben Sie in Ihrer Schulzeit auch so einen Idealismus bei jemandem gespürt?
Ja, auf jeden Fall. Mein Co-Autor Johannes Duncker und ich haben sogar einige der Figuren im Film nach unseren Lehrerinnen und Lehrern benannt. Bei der Drehbucharbeit haben wir uns natürlich darüber unterhalten, was eigentlich eine gute Lehrkraft ausmacht. Und wir waren uns einig: Ein guter Lehrer weiß nicht nur den Stoff zu vermitteln, sondern ist auch jemand, zu dem man eine Bindung aufbauen kann. Bei uns an der Schule gab es diesen wirklich ganz, ganz tollen Deutsch- und Geschichtslehrer, der uns auch ans Filmemachen herangeführt hat. Er hat uns Filme wie „2001 – Odyssee imWeltraum“ gezeigt, und dann haben wir mit ihm über Stanley Kubrick geredet. Leider ist er vor ein paar Jahren gestorben. Aber es gab durchaus einige solcher tollen Lehrkräfte. Zum Beispiel hatte ich einen sehr guten Englischlehrer, der mit uns diese Schrei-Orgie gemacht hat, die sich auch in unserem Film wiederfindet. Der kam eines Tages in die Klasse und sagte: Leute, jetzt dürft ihr alle mal so laut schreien, wie ihr wollt. Das sind natürlich Momente, die hängenbleiben.
Deutsch und Englisch, waren das auch die Fächer denen der junge İlker Çatak eher zugeneigt waren?
Ich war tatsächlich immer gut in Sprachen. Die naturwissenschaftlichen Fächer waren auch ganz okay, aber am meisten mochte ich Deutsch, Französisch und Englisch. Und Latein, als ich noch in Deutschland war.
Sie hatten Latein? Das war sicher ungewöhnlich als Kind mit türkischen Eltern.
Auf dem Gymnasium war ich in meiner Klasse tatsächlich das einzige Kind, das einen nicht-deutschen familiären Background hatte. An der ganzen Schule gab es nur ganz wenige.
Haben Sie dort Rassismus erlebt? Das Thema zieht sich ja ebenfalls durch Ihren Film.
Sicher ist „Das Lehrerzimmer“ auch ein Film über strukturellen Rassismus und darüber, wie ein türkisches Kind anders bewertet wird als die deutschen. Natürlich nicht mit mit Absicht, aber diese Dinge passieren, und ich selbst habe sie auch erlebt.
Meinen Lateinlehrer habe ich mal ‚Nazi‘ genannt
Sie zeichnen damit auch nach, wie machtlos Schülerinnen und Schüler solchen Situationen ausgeliefert sind. Haben Sie das als Kind auch so empfunden?
Ja, dieses Gefühl der Machtlosigkeit habe ich oft verspürt. Aber ich habe mich davon nicht unterkriegen lassen. Ich war schon ein aufmüpfiger Schüler. Ich weiß noch, wie ich mit einem Lateinlehrer mal in einem Konflikt geriet, weil er mir ein M als ein N ausgelegt hat. Das hat meine Note verschlechtert. Und dann habe ich ihn, weil ich eben so ein wütendes Kind war, Nazi genannt.
Keine gute Idee …
Als ich am Abend nach Hause kam, empfingen mich meine Eltern mit versteinerten Minen und sagten: Du rufst da jetzt an und entschuldigst dich. Aber ich habe gesagt: Ne, mach ich nicht. Ich war wirklich ein stures Kind. Kein Wunder, dass ich gerade diesen Beruf ergriffen habe: Wenn Sie Filme machen, müssen Sie schon ein Dickkopf sein, weil ihnen so viele Leute sagen, wie es nicht geht, was sie dürfen und was nicht. Selbstbestimmung wird einem eben nicht geschenkt, man muss sie sich schon nehmen.
Solche Eigenschaften machen die Schulzeit wohl nicht leichter.
Nein, und deswegen ist der kleine Oscar aus unserem Film für mich auch ein Held. Weil er nicht einfach akzeptiert, was die Lehrerinnen und Lehrer beschließen, und weil er sich auflehnt gegen diese Hierarchie. Da sind Menschen, die nicht nur älter und erfahrener sind als man selbst, sondern sie haben es auch noch in der Hand, dich sitzen bleiben zu lassen oder nicht.
Ich fand es ungerecht, meine Energie in Fächer stecken zu müssen, die mich nicht interessierten
Sie haben die Macht.
Ja, und du bist komplett ausgeliefert. Entweder du biederst du dich an und bist ein braver Schüler, oder du hast es halt schwer. Wenn du dich für etwas nicht so sehr interessierst und dein Desinteresse auch noch kundtust, dann wirst du bestraft. Das hat mich immer gestört in der Schule! Ich habe es als Ungerechtigkeit wahrgenommen, meine Energie in Fächer stecken zu müssen, in denen ich nicht so gut war, nur um irgendwelche Noten zu verbessern. Ich war halt nicht gut in Chemie, hat mich nicht so interessiert, na und? Warum muss ich das jetzt pauken, warum kann ich meine Energie nicht in die Fächer stecken, die mir Spaß machen? Das war für mich als Kind extrem frustrierend.
Das sehen Lehrkräfte möglicherweise anders. Haben Sie schon Rückmeldungen von Lehrerinnen oder Lehrern bekommen?
Na klar. Wir haben den Film auch im Vorfeld Lehrkräften gezeigt, und vor Kurzem war ich auf dem kirchlichen Filmfestival in Recklinghausen, da waren zwei Drittel im Publikum Lehrerinnen und Lehrer. Aber bislang hat uns noch niemand den Film um die Ohren gehauen. Ich bin ich ganz zuversichtlich, dass der auch aus Lehrerperspektive okay ist.
İlker Çatak: „Entweder du bist ein braver Schüler, oder du hast es halt schwer“ – Bilder: Alamode Film