Montag ist Demo-Tag, jedenfalls bei uns. Seit über einem Jahr schon verschwindet meine mittlerweile 17-jährige Tochter Mara jeden Montagabend für zwei Stunden in die Münchner Innenstadt, um gegen die Aufmärsche der Pegida-Anhänger zu demonstrieren. Sie tut dies bei Schnee und bei Regen, und auch die Tatsache, dass nach der ersten großen Pegida-Welle im Dezember 2014 manchmal kaum mehr als hundert Hanseln zusammenkommen, um auf der Straße „Wir sind das Volk“ zu grölen, hält sie nicht davon ab. Unsere Kinder demonstrieren.
Aber es sind nicht nur die Montage: Mara springt ein, wenn die Organisation, bei der sie ein Schülerpraktikum gemacht hat, Not bei irgendwelchen InfoStänden hat. In den Ferien hat sie Kleider für die Flüchtlinge sortiert und Massenunterkünfte geputzt, und für ihre Amnesty-Jugendgruppe organisiert sie Benefizkonzerte und Mahnwachen vor den Konsulaten diktatorischer Regime.
48% der Jugendlichen machen sich Sorgen wegen der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland
Eigentlich bin ich wahnsinnig stolz auf diesen Teenager, der trotz Abi-Stress immer noch Zeit für andere findet. Gleichzeitig aber wächst in mir die Sorge: Was, wenn meine Tochter vor lauter Engagement in die linke Antifa-Bewegung abrutscht? Damit hätte ich als Israel-Freundin ein echtes Problem, auch wenn Mara mir in unseren Diskussionen stets versichert, es sei gar nicht wahr, dass alle Linken das Existenzrecht Israels anzweifeln. Meine größte Angst aber ist, dass irgendwelche stadtbekannten Neonazis, die immer dreister unter Pegida- und sogar AFD-Fahnen mitmarschieren, ihr auflauern oder unsere Adresse herausfinden könnten.
Dabei ist meine Tochter kein Einzelfall: Immer mehr Eltern erzählen mir, dass ihre Kinder demonstrieren gehen. Die Flüchtlingsfrage, vor allem aber das Erstarken der fremdenfeindlichen Kräfte hat die Jugendlichen in Deutschland stark politisiert. Laut der aktuellen Shell-Jugendstudie hat schon jeder vierte junge Mensch an einer Demonstration teilgenommen, 48 Prozent haben Angst vor Fremdenfeindlichkeit, während nur 37 Prozent dafür sind, die Zuwanderung zu begrenzen. 2006 wollten das noch 58 Prozent.
Die sogenannten Freiwilligen-Surveys des Bundes haben zwar einen leichten Rückgang des ehrenamtlichen Engagements bei Jugendlichen registriert, doch betrifft dies offenbar vor allem klassische Betätigungsfelder wie Sportverein, Feuerwehr, Kirche oder Schule. 2014 waren immerhin noch 52 Prozent der 14- bis 17-Jährigen und 48 Prozent der 18- und 19-Jährigen ehrenamtlich tätig. Doch vor allem in den Großstädten machen sich die Jugendlichen heute eher für ihre eigenen Überzeugungen stark: sei es, dass sie gemeinnützige Organisationen unterstützen, deren Ziele sie teilen, oder sei es, dass sie wie meine beiden Kinder aus Protest gegen Massentierhaltung Vegetarier oder gar Veganer werden.
Mit den Kindern auf Augenhöhe zu diskutieren, daran muss man sich als Eltern erst gewöhnen
Gerade dieser politisch-moralische Ansatz macht die Diskussionen mit den eigenen Kindern manchmal ziemlich schwierig. Meine beste Freundin hat das gerade erlebt. „Wie soll ich mit meinem Sohn diskutieren, der zusammen mit seiner WG ohne jedes Unrechtbewusstsein ‚containert‘?“, hat sie mich neulich gefragt. Unter dem Begriff versteht man die Selbstbedienung aus den Abfalltonnen großer Supermärkte, wie Mütter umweltbewegter Kinder wissen. Einerseits versteht meine Freundin die dahinter liegende konsumkritische Haltung ihres Sohnes, aber andererseits ist sie schwer beunruhigt: Containern ist strafbar, auch wenn man nur Lebensmittel mitnimmt, die ein paar Stunden später ohnehin auf der Müllhalde landen würden. Was, wenn der Junge verhaftet wird und sich dadurch seine Zukunft versaut? Er ist nämlich nicht gerade vorsichtig, denn er hat ja das Gefühl, dass er etwas Gutes für die Gesellschaft tut.
Auf Augenhöhe mit den eigenen Kindern kontrovers über politische Themen zu diskutieren, auch daran muss man sich als Eltern erst einmal gewöhnen. Ich bin immer wieder überrascht, wie genau und rhetorisch geschickt meine Tochter analysiert und argumentiert. Oft muss ich mich ihren Argumenten geschlagen geben, obwohl mir meine Lebenserfahrung sagt, dass sie in ihrer Absolutheit Unrecht hat. Dann muss ich es mir regelrecht verkneifen zu sagen: „Du wirst schon noch sehen!“
Auch wenn es um Maras Studienpläne geht, muss ich mich zur Zurückhaltung zwingen. Dass sie trotz Spitzen-Abitur erst mal ein Jahr in einem sozialen Projekt in Afrika arbeiten und danach Entwicklungshilfe oder Soziale Arbeit studieren will, löst bei mir, ehrlich gesagt, keine Begeisterung aus. Aber bin ich deswegen spießig? Von wegen Studium mit Zukunftsperspektive: „Das musst du mit deinem Literaturstudium gerade sagen“, kontert meine Tochter bei diesem Thema stets. Und dann fällt es mir wieder ein: Ich war meinen Eltern immer dankbar, dass sie mich haben machen lassen, wie ich es wollte. Und aus mir ist auch was geworden!