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An Grenzen gehen

Sich eine persönliche Herausforderung suchen, die sich in drei Wochen und für 150 Euro bewältigen lässt: Das ist Teil des Lehrplans einiger Schulen in Deutschland. Damit bereiten sich die Jugendlichen aufs Leben vor – Scheitern ist erlaubt


Dieses Jahr hatte sich Vincent eine besondere Herausforderung vorgenommen: mit Mitschülern auf Tour gehen, die völlig anders ticken als er. Mit denen er nicht viel zu tun hat im Schulalltag, weil sie kaum etwas verbindet und sie vieles anders sehen als er. Würde er das schaffen, ohne Nervereien, Gezicke und Dauerkonflikt? Drei Wochen lang fuhr das Fünferteam mit dem Kanu über die Mecklenburgische Seenplatte. Die Route hatten sie vorher geplant, Zelt und Kochgeschirr steckten in den Rucksäcken. Nachts zelteten sie auf Campingplätzen oder auf der Wiese eines Bauern. Mal schliefen sie unter freiem Himmel, mal auf dem Dachboden eines Gemeindehauses.

Es lief, und doch rauschten die Jungs immer wieder aneinander, vor allem wenn es ums Geld ging, um jene 150 Euro pro Person also, mit denen sie auf ihrer Tour auskommen mussten. Vincent wollte sparen, Stullen schmieren, „mal reduzieren“, wie er sagt. Die anderen wollten sich „auch mal was gönnen“, Pizza, Burger, Fischbrötchen. Manchmal ging Vincent dann der Hut hoch. „Ich bin ein Alphamensch“, sagt der 16-Jährige. Einer, der seine Meinung sagt und sie auch gern durchsetzt. „Bei der Herausforderung habe ich Stück für Stück gelernt, toleranter zu sein und mich anzupassen.“ Wann lohnt es sich zu streiten, wo ist nachgeben wichtig? „Ich weiß jetzt, wie ich besser mit Konflikten umgehen kann.“ Herausforderung geschafft!

Ich weiß jetzt, wie ich besser mit Konflikten umgehen kannVincent, 16 Jahre

Sich einer Herausforderung stellen. An die eigenen Grenzen gehen und daraus lernen. Für die private Evangelische Schule Berlin Zentrum (ESBZ) gehört das zum Konzept. Seit acht Jahren ist „Herausforderung“ fester Bestandteil des Lehrplans. „Unser Auftrag ist es, Schüler aufs Leben vorzubereiten“, sagt Sozialpädagoge Steffen Engler. „Wir sind überzeugt: Das lernt man am besten durch eigenes Tun im Leben selbst.“

Einmal im Jahr müssen sich alle Kids von Klasse 7 bis 10 eine persönliche Herausforderung suchen, die sich in drei Wochen und mit 150 Euro bewältigen lässt. Ein Segeltörn, eine Kanutour, vielleicht ein Buch schreiben oder einen Straßen­musiker begleiten. Die Schule entscheidet, ob die Aufgabe geeignet ist. „Wer sich etwa drei Wochen an den Strand legen oder auf einem Ponyhof reiten will, hat nicht verstanden, worum es uns geht“, so Engler. „Die Aufgabe muss Jugendliche an ihre Grenzen führen. Sie sollen sich auf etwas einlassen, die Chance ergreifen, sich selbst besser kennenzulernen. Sie sollen sich ein Ziel setzen, das eine körperliche und auch gruppendynamische Herausforderung ist. So stärken wir Wagemut, Veranwortungs- und Selbstwertgefühl der Jugendlichen in einem sicheren Rahmen.“

 

Natürlich werden die Schüler dabei nicht alleingelassen. Im Vorfeld gibt es mehrere Coachingtermine sowie ­Beratungsstunden. Während der Herausforderung können die ­Jugendlichen sich ans Beratungs- und Notfalltelefon der Schule wenden. In jeder Gruppe ist ein volljähriger Begleiter dabei, der zur Sicherheit im Hintergrund steht und den Zusammenhalt der Gruppe im Blick hat. Eltern, Studenten, externe Freiwillige. Nicht ihr Job: Führung übernehmen. „Das machen die Kids zu 100 Prozent selbst“, sagt Engler. Und wenn die Unterkünfte schon belegt, die Abzweigung am Weg die falsche, der Abgabetermin für den Druck des Buches verstrichen ist, müssen sie selbst die Konsequenzen tragen.

Ab und an muss eine Herausforderung sogar abgebrochen werden. „Auch nicht schlimm“, sagt Engler. „Scheitern ist eine Lernerfahrung.“ Ohnehin wird anschließend in der Schule ausgewertet: Was ist gut gelaufen, wo hat es geknirscht, wo kann ich noch lernen? Immer wieder beobachtet Engler: „Eine Herausforderung eigenverantwortlich auf die Beine zu stellen und durchzuziehen stärkt das Selbstbewusstsein enorm: ‚Ja, ich hab etwas geschafft.‘“

Der Rucksack drückt, die Sonne brennt – egal. Nie werde ich dieses Gefühl vergessenKira, 14 Jahre

Kira nickt. Nie wird die 14-Jährige dieses Gefühl vergessen. Ich pack das, ich stehe es durch, ich bin stark. Von 8 bis 17 Uhr ist sie mit ihren Kameraden über die schwedische Insel Öland gewandert. Von Leuchtturm zu Leuchtturm, jeden Tag neu. Der Rucksack auf dem Rücken drückte zu Boden, die Sonne brannte – egal, weiter. Und es funktionierte. Beflügelt lief Kira an der Spitze ihrer Gruppe, trug zusätzliches Gepäck von jenen, die nicht mehr konnten. Markierte mit Kreide den Weg für die Jüngeren, die langsamer vorankamen. Kniete sich auch bei der Organisation vor Ort voll rein. Einkaufen, kochen, Zelt aufbauen. „Ich liebe Wandern, aber so intensiv hatte ich es noch nie gemacht“, sagt Kira: „Bei der Tour in Schweden habe ich gemerkt, wie viel in mir steckt. Man bekommt viel mehr hin, als man für möglich hält.“

Kira ist Schülerin an der staatlichen Heinz-Brandt-Sekundarschule in Berlin-Weißensee, die seit 2012 „Herausforderung“ als Projekt anbietet, wie inzwischen eine Reihe von Schulen von Aachen bis Cottbus, von Hamburg bis München. „Es gibt so viel mehr Möglichkeiten, etwas über das Leben zu lernen und Mensch zu werden, als im Unterricht“, sagt Schulleiterin Miriam Pech. Für Pech ist Herausforderung ein „Herzensprojekt“. Sie möchte es zur Pflicht machen und als richtiges Fach etablieren. Doch das ist noch ein langer Weg.

Denn an einer staatlichen Schule sind die Möglichkeiten begrenzt. Rechtliche Barrieren, Versicherungsfragen und Vorgaben der Schulverwaltung bremsen die Umsetzung. Schon aus Gründen der Aufsichtspflicht sind Lehrer bei den Herausforderungen mit auf Tour. Und die Schüler können sich ihre Herausforderung nicht selbst suchen, sondern wählen aus einem Strauß von Angeboten: in zwei Wochen zu Fuß die Alpen überqueren oder mit dem Rad durch Polen und Russland fahren, auf einem Floß über die Saale schippern oder mit dem Longboard an die Ostsee rollen.

 

Mit einer Klassenfahrt haben die Herausforderungen dabei wenig gemein. Die Schüler müssen so viel wie möglich selbst organisieren und sich sogar die Hälfte der Kosten für die Tour selbst erarbeiten. Kira jobbte dafür in den ­Ferien auf einem Ponyhof, der 15-jährige Pascal trug wochenlang jeden Freitag nach der Schule Zeitungen aus, und ­Fiete, 16, bewarb sich erfolgreich für ein kleines Stipendium der Berliner Wirtschaft. Monatelang haben die Kids ihre Touren vorbereitet. Haben Routen festgesteckt, Unterkünfte gesucht, Einkaufspläne gemacht. Dann startete Kira ihre Wanderung durch Schweden, Pascal und Fiete gingen auf Tour nach Holland. Eine Woche segeln, eine Woche laufen. „Und du weißt: Es gibt kein Zurück mehr“, sagt Fiete.

Zum Beispiel, wenn es gilt, in der Kombüse für 20 Leute zu kochen. Wie viel braucht man da? Wie wird es lecker? Zum Beispiel, wenn es heißt, eine Woche gemeinsam auf dem Wasser durchzustehen. Zu viert in einer Drei-Quadratmeter-Kajüte, zwei Dutzend Menschen auf einem kleinen Schiff. Zum Beispiel, wenn in der zweiten Woche auf dem Fußweg von der Küste zur deutschen Grenze die Asphaltstraße kein Ende zu nehmen scheint.

Bei Kilometer 15 kannst du nicht mehr – aber zum Schlafplatz geht nur ein Weg: 15 Kilometer weiter nach vornPascal, 15 Jahre

30 Kilometer durch die Ebene, nur alle 100 Meter ein Bauernhof. „Und bei Kilometer 15 kannst du einfach nicht mehr“, sagt Pascal. „Die Füße schmerzen, der Rucksack wird schwerer – aber zum Schlafplatz gibt es nur einen Weg: 15 Kilometer weiter nach vorn.“ Normalerweise hätte er aufgegeben, hätte darauf bestanden, abgeholt zu werden, irgendwie. Aber Kameraden ermunterten ihn. „Komm, weiter, bald sind wir da.“ Einige übernahmen ab und zu seinen Rucksack. Die Gemeinschaft hat ihn durch die Herausforderung getragen und das feste Ziel: „Bis zur Grenze müssen wir es schaffen, da wartet der Zug.“ Noch heute hat Pascal die Worte seiner Mutter im Ohr, als er am Berliner Hauptbahnhof ankam. „Du bist kaum wiederzuerkennen. Braune Haut, weiße Zähne und dieses Strahlen im Gesicht.“

Auch Fiete hat mehrmals aufgeben wollen. Und machte doch weiter. „Ich hätte nie gedacht, dass ich 160 Kilometer laufen und manchmal noch Sachen von anderen schleppen kann.“ Alle haben erlebt: Jeder hat seine Tiefpunkte, jeder kann über sich hinauswachsen. Fiete: „Dabei habe ich ganz neue Seiten an Leuten kennen- und schätzen gelernt, zu denen ich in der Schule sonst gar keinen Kontakt habe.“

Kira hat gelernt, dass sich auch Rollen in einer Gruppe neu aushandeln lassen. Weil sie beherzt die Dinge in die Hand nahm, passierte ohne sie in ihrem Zeltteam plötzlich kaum noch was. „Kira, was sollen wir jetzt machen?“, fragten ihre Kameradinnen immer häufiger. „Erst hat mich das genervt“, sagt Kira. „Dann habe ich gemerkt: Wenn man offen darüber redet, lassen sich die Aufgaben durchaus ohne Probleme wieder neu verteilen.“ Für die nächste Herausforderung hat sich die Neuntklässlerin schon angemeldet: Im Sommer 2017 geht sie wieder wandern, 350 Kilometer – auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela in Galicien.

Fotos: privat; Illustrationen: Alexander Aczél

 



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