René sitzt im Schneidersitz auf der Turnmatte, hält einen Bären aus Holz in der Hand und presst konzentriert die Lippen aufeinander. Er soll die Jacke des Bären schließen, indem er eine Schnur durch die eingestanzten Löcher fädelt. Die anderen Stationen des Parcours, den sein Ergotherapeut an diesem Nachmittag vorbereitet hat, haben dem Jungen viel Spaß gemacht, am meisten das Springen auf der dicken Matte. Nur der Bär bereitet dem Zweitklässler Probleme. Immer wieder biegt er mit dem Faden falsch ab. Als die Jacke endlich zugeschnürt ist, flitzt René strahlend zur nächsten Station.
Balancieren, einfädeln, springen – auf den ersten Blick hat solch ein Parcours wenig mit Schreiben zu tun. Dabei ist das die Schwachstelle des siebenjährigen René. Doch Schreiben ist viel mehr als nur eine Handbewegung, tatsächlich ist es die Arbeit des ganzen Körpers.
Vom Kritzeln zur Handschrift
Kritzeleien: Schon Kleinstkinder nehmen liebend gern Stifte in die Hand, meistens in die Faust, und lassen sie übers Papier gleiten. Formen oder gar Gegenstände sind noch nicht zu erkennen. Diese frühen Kritzelbilder sind zwar nicht unbedingt hübsch, aber dafür umso wichtiger für die Entwicklung der Feinmotorik.
Kopffüßler: Der nächste Mal-Schritt sind Kreise und Linien, später Kombinationen wie die typischen „Kopffüßler“ – Figuren ohne Rumpf. Kinder im Alter von zweieinhalb bis drei Jahren können Stifte zunehmend mit den Fingern halten. Die Bilder werden detailreicher und bestehen aus immer mehr Elementen.
Buchstaben: Mit fünf Jahren beginnen Kinder damit, Buchstaben abzumalen – häufig noch spiegelverkehrt. Stifte halten die meisten nun zwischen Daumen und Zeigefinger. Bis zur Einschulung sind Fein- und Grobmotorik so weit ausgebildet, dass dem Schreibenlernen nichts im Weg steht.
„Schreiben bedeutet, eine riesige Schwungbewegung sehr, sehr klein auszuführen“, sagt Rainer Wassong. In seiner Ergotherapie-Praxis in Mönchengladbach behandelt er Kinder, die ein auffälliges Schriftbild haben – etwa Linien kaum einhalten, extrem langsam schreiben oder immer wieder Buchstaben verdrehen. Unbehandelt führt das oft zu Schulproblemen. Ein Kind, das seine ganze Energie auf den Schreibprozess lenken muss und keine Automatismen entwickelt, kann dem Unterricht kaum inhaltlich folgen.
Mit Intelligenz hat das wenig zu tun, und laut Wassong kommen in seine Praxis Kinder aus allen gesellschaftlichen Schichten. „Mit Glück schon vor der Einschulung“, sagt er, „aber oft fallen die feinmotorischen Defizite erst dadurch auf, dass sich keine flüssige Handschrift einstellt.“ Zudem rieten viele Kinderärzte lange zum Abwarten. „Das wächst sich noch aus“, hören besorgte Eltern oft, deren Kinder nicht schreiben wie Gleichaltrige. Auch René, der nun einmal in der Woche an seiner Grob- und Feinmotorik arbeitet, hängt in der zweiten Klasse seinen Mitschülern hinterher. Er trainiert in der Ergotherapie, den Stift nicht zu fest aufs Papier zu pressen.
Kraftdosierung ist eine wichtige Voraussetzung fürs Schreiben. Eine andere ist die Wahrnehmung. Wenn sein Therapeut ihm mit den Fingern auf den Rücken malt, kann René nicht unterscheiden, ob es sich dabei um einen Kreis oder um ein Quadrat handelt. Diese Wahrnehmungsschwäche wiederum bereitet ihm beim Schreiben Probleme. Wassong: „Die räumliche Vorstellung eines Buchstabens ist wichtig, um ihn schnell aufs Papier zu bringen.“
Motorik und Sensorik sind zentral für das Erlernen der Handschrift – das hat Wassong schon auf dem Expertenforum des Schreibgeräte-Herstellers Lamy im Februar betont (s. Kasten rechts). Auch die Rolle der Ergonomie wurde dort deutlich. „Um Kindern den Zugang zu Farbstiften und Schreibgeräten zu erleichtern, müssen sie so geformt sein, dass sie sich den Bedürfnissen der Kinder anpassen und nicht umgekehrt“, erklärt Beate Oblau, Marketing-Managerin bei Lamy. So müsse ein Farbstift für Dreijährige, die noch mit dem Faustgriff greifen, anders geformt sein als der für ältere Kinder. Das Gleiche gelte später für die Schreibgeräte, deren Form typischen Fehlhaltungen, wie zum Beispiel dem Knickfinger, vorbeugen sollte.
SMS-Daumen, Smartphone-Wischen – da verliert Schreiben seine Natürlichkeit. Peter Walter, Grundschulleiter
Der Grundschulleiter Peter Walter, seit mehr als 30 Jahren Lehrer, beobachtet jedenfalls, dass „immer mehr Kinder eine Therapiekarriere hinter sich haben und Bewegung neu lernen mussten“. Das Schreiben verliere seine Natürlichkeit, Bewegungsmuster veränderten sich: „Erst kam der SMS-Daumen und dann das Smartphone-Wischen.“ Auch wenn die geschriebene Schrift im Alltag eine sehr viel kleinere Rolle als früher spielt, die Handschrift sei unverändert wichtig: „Das ist wie mit der Bruchrechnung – die braucht man auch nicht oft, aber man muss sie einmal verstanden haben.“
Beim Thema Handschrift sei er ein „Ästhet“, sagt Walter. An seiner Schule im nordrhein-westfälischen Lidbach gibt es regelmäßig Schönschreibwochen, in denen nicht der Inhalt, sondern die Form im Vordergrund steht. „Die Kinder machen das gern, weil es ruhiges und konzentriertes Arbeiten ist“, erzählt Peter Walter. Solche Exkurse sind ihm wichtig, um früh Begeisterung fürs eigene Schriftbild zu wecken. Denn wer als Schüler keine flüssige Handschrift entwickelt, wird es kaum als Erwachsener tun.
Renate Zimmer bringt es auf den Punkt: „Bei einem 16-Jährigen ist es einfach zu spät, der nimmt das nicht mehr ernst.“ Die Direktorin des Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung und Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück sieht Kindergärten und Grundschulen in der Pflicht. „Wir sind heute zu stark auf das Produkt, das Ergebnis, ausgerichtet. Die Förderung der Motorik kommt dabei viel zu kurz“, sagt Zimmer. Wohin das führt, beobachtet sie bei ihren Studenten. Deren Schriftbild sei häufig kaum noch entzifferbar. „Und ich mache die Erfahrung, dass dann auch oft die Gedanken versatzstückartig sind“, sagt Zimmer.
Schreiben lernen heute
Wissen zusammenführen: Experten unterschiedlicher Disziplinen diskutierten beim Forum „Schreiben lernen heute“ von Lamy und dem Magazin SCHULE ONLINE über die Zukunft der Handschrift. Fragen, Erkenntnisse und Streitpunkte daraus setzen wir in dieser Serie um. Den ersten Teil lesen Sie hier. Mehr zum Forum „Schreiben lernen heute“ finden Sie auf der Website von Lamy.
Schreiben ist eigentlich ein Grundbedürfnis von Kindern: Sie wollen sich ausdrücken. Schon die typischen frühen Kritzelbilder vor der Einschulung seien erste Schritte auf dem Weg zur eigenen Schrift, sagt Professorin Renate Zimmer: „Das Malen hat eine ganz wichtige Funktion. Wenn Eltern darauf keinen Wert legen, ist es kaum verwunderlich, wenn es später zu Problemen kommt.“ Nicht jedes Kind malt begeistert. Eine regelrechte Verweigerungshaltung sei aber möglicherweise Hinweis auf eine feinmotorische Schwäche, meint Ergotherapeut Rainer Wassong: „Kinder vermeiden das, was sie nicht können.“
Wenn Eltern das Gefühl haben, ihr Kind hänge im Vergleich zu Gleichaltrigen in seiner motorischen Entwicklung zurück, sollten sie mit Erziehern und dem Kinderarzt sprechen. Nicht jede Schwäche muss jedoch therapiert werden. „Jeder hat kleine Defizite“, sagt Wassong. Manches lasse sich schon durch die richtige Sitzposition verbessern: Die Kinder sollten aufrecht sitzen, beide Füße vollständig den Boden berühren, das Gewicht des Oberkörpers sollte nicht auf dem Arm lagern. Die richtige Haltung ist eine wichtige Voraussetzung fürs Schreiben.
Die Lust an Bewegung ebenfalls! Die besten Voraussetzungen, eine flüssige Schrift zu entwickeln, haben Kinder mit Spaß an Mobilität. Denn der Weg zur Handschrift führt über die Feinmotorik – und jener dorthin nur über die Grobmotorik.
Lesen Sie in der nächsten Online-Ausgabe 4/2015 (17.2.2015):
Finger statt Stift – Wie wirken sich Smartphones, Tablets & Co. auf unsere Schreibkultur aus?
Vielen Dank für den interessanten Artikel. Unsere Tochter hatte zu Beginn auch Schwierigkeiten damit, leserlich zu schreiben.
Allerdings frage ich mich, ob es nicht falsch ist, so früh schon ein Problem aus solchen Dingen zu machen. Meine Erfahrung hat mir gelehrt, dass jedes Kind sein eigenes Tempo braucht und das wichtigste dabei ist, es zu unterstützen und nicht zu drängen. Ich stelle es mir zwar auch als interessant und spaßig aus den Augen eines Kindes vor, solche Aufgaben zu lösen, doch denke ich dann: Warum muss ich die Motorik meines Kindes bewerten, mit der anderer vergleichen, da doch jedes Kind individuell gefördert werden sollte? Natürlich ist das leider nicht immer möglich im Rahmen einer staatlichen Schule.
Wir versuchen darauf zu achten, dass unsere Tochter gute Lernbedigungen genießt. Großes Thema war bei uns zum Beispiel der Schreibtisch, der höhenverstellbar ist. Uns war es wichtig, dass es für sie einen Ort gibt, der mit „Lernen“ assoziiert wird.
Darüber hinaus denke ich, dass ein Ausgleich zum Lernen wichtig ist, Sport vor allem.
Interessant finde ich zum Thema Feinmotorik die Lernmaterialien nach dem Montessori-Prinzip, die Kinder spielerisch ans Lernen heranführen.