Meinen & Sagen

Gerechte Noten? Gibt es nicht

Im Zeugnis steht wieder nur eine Drei, obwohl doch das Kind die ganze Zeit mitarbeitet? Dann schimpfen wieder alle über die ungerechte Lehrerin, weiß unsere Autorin – denn sie ist selbst eine. Dabei gibt sie sich alle Mühe, fair Noten zu verteilen. Aber sie weiß auch: 100 Prozent gerecht, das geht leider nicht


Und, wie war es heute in der Schule?“ Mein Sohn, der schulische Fragen grundsätzlich sehr einsilbig beantwortet, schweigt. Nicht einmal ein „Okay“ ist ihm zu entlocken. Hartnäckig bohre ich weiter: „Jetzt sag schon, was ist denn passiert?“ Meistens sind es Streitigkeiten mit seinen Freunden, die ihn bedrücken. Doch dieses Mal rückt er mit einem anderen Grund heraus: „Wir haben heute in Deutsch mündliche Noten bekommen. Und das war voll fies. Ich melde mich ständig, aber Frau Müller nimmt mich nie dran. Jetzt habe ich eine Drei – und Fritz, der immer bei mir abschreibt, eine Zwei.“ Sofort bin ich voller Mitgefühl für meinen Filius und kurz davor, seine Lehrerin anzurufen ob der Ungerechtigkeit. Dann bremst mich nicht nur mein Kind – „Bloß nicht, Mama, das ist voll peinlich!“ –, sondern auch mein Verständnis für die Deutschlehrerin.

Wie viele meiner Schüler haben wohl schon ihren Eltern ihr Leid geklagt?

Wie viele meiner Schüler haben wohl schon ihren Eltern ihr Leid geklagt, wie unfair die Note von Frau ­Hagemann sei? Obwohl ich mich bemühe, meine Schüler so gerecht es geht zu beurteilen. Schließlich weiß ich noch aus meiner eigenen Schulzeit, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Leistung nicht so wahrgenommen wird, wie man sie selbst sieht. Und als Schüler fehlt einem manchmal einfach der Mut, der Lehrkraft in ruhigem Ton zu erklären, dass man sich ungerecht beurteilt fühlt. Ich war dazu meist zu schüchtern und wechselte bei meinen Reaktionen auf eine als zu schlecht empfundene Note zwischen „Jetzt erst recht, dem werde ich zeigen, was in mir steckt!“ und „Na, wenn der eh glaubt, dass ich nichts kann, mache ich auch nichts mehr“.

Schriftliche kann man faire Noten vergeben. Wobei …

Doch wie schafft man es als Lehrer, so gerecht wie möglich zu sein? Bei schriftlichen Arbeiten gelingt es in der Regel noch einigermaßen, faire Noten zu vergeben. Lehrer vergleichen dabei die Schülerlösungen mit sogenannten „Erwartungshorizonten“ und bepunkten anhand derer die Antworten. Transparent, vergleichbar und plausibel. Zumindest fast. Denn auf dem Umschlag des Klassenarbeitshefts steht ein verhängnisvolles Wort: der Schülername. Und schon ist man als Lehrer voreingenommen. Eine unleserliche Zahl beim „Lieblingsschüler“? Das ist bestimmt die gewünschte Lösung. Über­raschend gute Argumente im Aufsatz des Schülers, der im Unterricht zuvor kaum ein Wort gesagt hat? Wohl eher abgeschrieben als selbst überlegt. Hier hilft es, das Heft aufzuschlagen, ohne dabei auf den Namen zu schauen. Oder – so machen es die ganz Korrekten – die Schüler erhalten per Zufallsgenerator Nummern, die sie auf die Arbeits­zettel schreiben, die Zuordnung zu den Schülern erfolgt erst bei Rückgabe der Arbeiten. Allerdings ist so manch individuelle Handschrift verräterisch und verhindert komplette Anonymität.

Lassen wir Lehrer uns zu sehr von unserer eigenen Sicht lenken?

Wenn es schon schwer ist, bei schriftlichen Leistungen gerecht zu urteilen, so ist es bei der mündlichen Mitarbeit noch viel schwerer. Ist der höfliche Schüler, der in den Pausen immer in der Bibliothek Fachbücher liest, wirklich so gut? Und ist der Chaot, der pro Stunde zweimal seine Federtasche vom Pult wirft, sodass sich alle Stifte auf dem Boden verteilen, wirklich ein schwacher Schüler? Lassen sich Lehrer zu sehr von ihrer eigenen Sicht lenken?

Seit einiger Zeit erfreuen sich daher „Noten­besprechungen“, die die „Notenbekannt­gabe“ aus früheren Zeiten ablösen, großer Beliebtheit in pädagogischen Kreisen. Noten werden also nicht mehr nur mitgeteilt, sondern diskutiert, oft dürfen die Schüler vorab eine Selbsteinschätzung geben. Dieses Verfahren bietet den Vorteil, dass die Schüler in jedem Fall Gelegenheit bekommen, sich zur Note zu äußern, anstatt womöglich noch vor der ganzen Klasse mit dem Ergebnis der Mitarbeit konfrontiert zu werden. Andererseits ist es für Schüler nicht einfach, sich selbst zu benoten, auch wenn sie von den Lehrern zu Schuljahresbeginn klare Notenkriterien an die Hand ­bekommen.

Die einen sind hilflos, die anderen versuchen zu verhandeln

Viele Schüler sind sogar regelrecht hilflos, wenn sie sich selbst einschätzen sollen („Können wir das nicht einfach lassen, und Sie sagen mir, was ich habe?“); andere sehen die Notenbesprechung als Möglichkeit, die Note zu verhandeln – nach dem Motto: „Wenn ich Zwei sage, obwohl ich auf Vier stehe, gibt mir der Lehrer eine Drei.“ Auch nicht gerade gerecht, denn „Nicht-Feilscher“ oder „Untertreiber“ bekommen so womöglich im Vergleich zu ihren Mitschülern schlechtere Noten.

Was hilft, wenn man sich nicht einig wird? Ehrlichkeit

Ich wähle daher gern einen Mittelweg aus der traditionellen Notenbekanntgabe und der modernen Notenbesprechung: Ich nenne in Einzelgesprächen den Schülern ihre Note und begründe meine Einschätzung. Dies ist jedoch immer meine subjektive Wahrnehmung. Der Schüler sieht sich eventuell ganz anders, hat sich furchtbar angestrengt, doch am Ende ist aus seiner Sicht „dann ja doch nichts bei rumgekommen“. Deshalb bitte ich den Schüler nach meiner Noteneinschätzung, sich zu der erhaltenen Note zu äußern. Häufig merke ich auch schon an der ­Reaktion auf die genannte Note, ob der Schüler diese nachvollzieht oder nicht, sodass ich gezielt nachhaken kann. Und was hilft, wenn man sich im Gespräch nicht einig wird? Ehrlichkeit. „Tut mir leid, ich habe dich und deine Leistungen vielleicht übersehen. Ich verspreche dir, in den nächsten Wochen genauer auf dich zu achten. Dann setzen wir uns erneut zusammen, in Ordnung?“ bringt auch im Sinne der „Mitarbeitermotivation“ mehr als „Ich gebe hier die Note, klar?“.

Kinder sind unterschiedlich. Wie sollen Noten da gerecht sein?

Trotzdem: Hundert Prozent gerecht gelingt einfach nicht. Wer mehr als ein Kind hat, weiß das nur zu gut. Und weiß außerdem: Sie sind nicht alle gleich. Meinen unsportlichen Sohn würde ich vermutlich nicht unbedingt im Turnverein anmelden, den athletischen Bruder schon eher. In der Schule gibt es diese Option nur bedingt: Meine Schüler müssen in allen Pflichtfächern anwesend sein und werden benotet, ganz egal, ob das ihren persönlichen Begabungen entspricht oder nicht. Ich selbst, die ich leider nicht das schneiderische Talent meiner Mutter geerbt habe, musste mich auch mit dem Erstellen von Häkeldeckchen und Kopfkissen abmühen, obwohl ich viel lieber einen Aufsatz darüber geschrieben hätte. Allerdings hatte meine Handarbeitslehrerin einen Ausweg parat: Ich durfte bei meinem Kopfkissen, statt komplizierte Knopflöcher zu nähen, einfach Druckknöpfe aufsetzen.

Dafür wusste ich von vornherein, dass diese weniger aufwendige Arbeit niemals eine Eins einbringen würde. War das trotzdem gerecht? Ja, denn die Spielregeln waren klar: Jeder muss ein Kopfkissen nähen. Aber verschiedene Bearbeitungsalternativen auf unterschiedlichem Niveau ergeben unterschiedliche Noten. Und auf diese Weise ­versuche auch ich, meinen Schülern im wahrsten Sinne des Wortes gerecht zu werden: transparente Vorgabe unterschiedlicher Wege und plausible Notenkriterien für eine naturbedingt heterogene Schülerschaft. So kann jeder am Ziel eine möglichst gerechte Beurteilung der persönlichen Leistung erhalten.



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