Eine Sportart und ein Instrument! Über die Freizeitgestaltung unserer Kinder waren mein Mann und ich uns schon einig, da war ich noch nicht mal schwanger. Wie sich die Zeiten ändern: Vor ein paar Wochen habe ich bei der Musikschule die Kündigung eingereicht. Die Gitarre hat Feierabend. Es geht einfach nicht mehr – zu viel Freizeitstress. Irgendwo zwischen Fußballtraining, Musik- und Konfirmandenunterricht hat mein Sohn, 13, seine Freiheit verloren.
Nicht nur sein Leben, auch meines ist in Stress ausgeartet. Den Familienkalender fest im Blick, koordiniere ich die Termine meiner Kinder, drei an der Zahl, bin Sekretärin und Chauffeurin, Finanzier und Notfallapotheke, wenn nach einem langen Tag wieder mal der Kopf brummt. An manchen Sonntagen habe ich depressive Verstimmungen, wenn ich an die kommende Woche denke. Kann ich eigentlich mal aus dem Fenster schauen und meine Kinder einfach im Garten spielen sehen? Oder heißt es weiter: zack, zack, zack – auf zum nächsten Termin?
Außerschulische Förderung heißt das gefährliche Zauberwort.
Gut gemeintes Zusatzprogramm raubt vielen Kindern schon im Grundschulalter die Freiheit und presst ihren Alltag in Zeitpläne, wie sie sonst eher Manager kennen. Mit dem Wunsch, dem eigenen Kind die bestmögliche Ausbildung zukommen zu lassen, werden Mitgliedschaften in Sportvereinen abgeschlossen, Musikschulkurse gebucht oder andere Bildungseinrichtungen besucht.
Fördert musikalische Erziehung nicht die Intelligenz von Kindern?
Für jede einzelne Maßnahme lassen sich viele gute Argumente finden, und der Gedanke, Kindern vielfältige Möglichkeiten zur Entwicklung anzubieten, ist natürlich vollkommen richtig: In der Handballmannschaft lernen Kinder Fairness und Teamgeist, ausgiebige Bewegung fördert ihre Motorik und Gesundheit. Eine musische Ausbildung am Klavier, an der Gitarre oder im Chor stärkt die kognitiven Fähigkeiten. Studien belegen eindeutig, dass eine musikalische Erziehung die Intelligenz von Kindern fördert. Selbstverteidigung? Ist doch auch wichtig! Ein Workshop im Kulturzentrum? Ist sinnvoll! Krötenretten beim Naturschutzbund? Unbedingt! Und Aquarellzeichnen in der Volkshochschule? Wenn das Kind doch so schön malt …
Die Terminfalle öffnet sich schleichend.
Irgendwann startet das Kind mit dem ersten Hobby. Später gesellen sich weitere dazu, außerdem Nachhilfe, Konfirmationsunterricht, der erste Job oder die Tanzschule. Nicht zu reden von den gemeinsamen Aktionen, die die Familie am Wochenende noch plant: Komm, wir finden schon noch einen freien Platz im Kalender.
Viele Schüler sind schon montags erschöpft – vom Wochenendstress
Die Dosis echter Freizeit verkümmert bei diesem Rund-um-die-Uhr-Programm zu einer homöopathischen Gabe. „Es gibt Kinder, die damit auch gut klarkommen“, sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV). „Doch das ist nicht die Regel.“ Immer häufiger höre sie von Kollegen, dass viele Kinder schon am Montagmorgen erschöpft von Freizeitstress am Wochenende in die Schule kämen. Auch unter der Woche sei der Kopf oft bereits voll, bevor der Unterricht überhaupt begonnen habe.
Denn Freizeitstress ist letztlich auch nur: Stress.
„Wenn Kinder ständig Leistung erbringen müssen, sind sie nicht nur körperlich, sondern auch geistig richtig kaputt“, beklagt die Expertin. Schüler, die abends noch Leistungssport machen, könnten sich morgens kaum auf lateinische Grammatik konzentrieren. Auch die Lautstärke in der Klasse sei dann häufig zu viel für die beanspruchten Nerven. „Überforderte Schüler sind unaufmerksam, unruhig, gereizt oder auch sehr sensibel“, nennt Fleischmann Auswirkungen, die sich auch am Notenbild zeigen. Manche Lehrer, die den Schülern schon an der Nasenspitze ansehen, dass es gestern wohl mal wieder zu viel war, versuchen zwar, mit Ruhe-Ritualen und Entspannungsübungen die gestressten Kinder runterzufahren. Doch der Erfolg sei begrenzt.
Das selige Ich-selbst-sein-Können meines Sohnes, es ist verloren gegangen
Zum beruhigenden Yogakurs habe ich meinen Sohn noch nicht schleppen müssen. Doch Veränderungen in seinem Verhalten habe auch ich mit Sorge festgestellt. Aus einem Kind, das früher stundenlang selbstvergessen dem Sandkisten-Flow erliegen konnte, ist ein unruhiger Geist geworden. „Was machen wir heute?“, diese Frage hören mein Mann und ich am Wochenende oft schon nach dem ersten Augenaufschlag. Sein seliges „Ich-selbst-sein-Können“, um das ich meinen Sohn immer beneidet habe, ist verloren gegangen.
Wie schade! Denn viele Untersuchungen zeigen: Langeweile, der Zustand, der erst so bitter schmeckt, entfaltet für die Entwicklung eine große Süße, wenn man ihn nur wirken lässt. Abhängen und Nichtstun ist im richtigen Maß für Kinder mindestens ebenso wertvoll wie Musikunterricht oder Sport. In der Beschäftigung mit sich selbst und der Welt entwickeln sich Kreativität, Selbstbewusstsein und innere Stabilität. Ich bin, weil ich bin. Einfach so.
Doch Langeweile ist out.
„Zeitdruck ist Zeitgeist“, sagt Simone Fleischmann. „Vor allem in der Mittel- und Oberschicht hat sich die Terminkindheit durchgesetzt, weil jeder mithalten möchte.“ Zeige mir, was deine Kinder machen, und ich sage dir, wer du bist! Im krassen Gegensatz dazu stünden die Kinder aus bildungsferneren Schichten: „Die hängen jeden Nachmittag ab und haben gar nichts zu tun. Das ist auch ein großes Problem.“
Aber wie geht es richtig? Regina Soremski vom Institut für Erziehungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen hat das Freizeitverhalten von Jugendlichen an Ganztagsschulen untersucht. Brauchen sie überhaupt noch ein Extra-Hobby? „Tatsächlich nutzen sehr viele trotz Ganztagsschulangebot noch außerschulische, bildungsrelevante Freizeitaktivitäten“, sagt Soremski. So seien zwei Drittel der Schüler aktiv in einem Sportverein. Andere besuchen religiöse Jugendgruppen, die Musikschule oder Umweltvereinigungen. Dass sie dabei Freizeitstress empfinden, sei keine Seltenheit.
Die Lerngruppe mit Mitschülern kann auch entspannen
Doch Soremski macht in ihren Umfragen eine interessante Entdeckung: „Je autonomer sich die Jugendlichen in ihrer Freizeitgestaltung fühlen, desto entspannter können sie auch mit vielen Terminen umgehen.“ Selbst Kurse in der Schule würden positiv wahrgenommen, wenn sie möglichst eigenständig stattfinden, etwa weil ein Lehrer im Sportkurs nur eine moderierende, aber keine leitende Funktion übernimmt. Die Lerngruppe mit Mitschülern? Entspannt! Der Nachhilfekurs beim Lehrer? Anstrengend! Freizeit, so bringt es Soremski auf den Punkt, müsse mit einem Gefühl von Freiheit einhergehen.
Auf das „frei“ in „Freizeit“ kommt es an.
Die richtige Antwort auf das Nachmittagsprogramm verplanter Kinder lautet deshalb nicht automatisch: Weniger ist mehr. Die wichtigste Frage muss lauten: Was ist das Bedürfnis des Kindes? Junge Persönlichkeiten, die problemlos Ballett und Tennis kombinieren und Hausaufgaben am Abend noch mit einem Lächeln erledigen, müssen nicht problematisiert werden. Zeigen Kinder aber Erschöpfungssymptome oder Frust, weil sie sich nicht mehr mit Freunden treffen können oder einfach mal einen Nachmittag in ihrem Zimmer Musik hören wollen, gilt es, die Reißleine zu ziehen. Im Grunde wissen die meisten Eltern ja selbst: Wer vieles macht, macht oft wenig gut. Lieber ein bis zwei Hobbys mit vollem Herzblut fördern, als auf allen Hochzeiten im falschen Takt zu tanzen.
Bei uns ist zwar nach wie vor viel los, aber immerhin: Mein Sohn hat einen Nachmittag pro Woche komplett frei. Zum Glück hat sein Freund am selben Tag Zeit, was in dieser Altersgruppe der Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinns gleichkommt. Die beiden haben gerade einen Kartenclub gegründet. Ich kann es kaum fassen: Ohne Termine geht es anscheinend einfach nicht.