Naomi Maußer konkurriert mit einer Elbe. Die Schülerin schwärmt für Kíli, einen Zwerg, der im neuen „Hobbit“-Film mit der Waldelbe Tauriel flirtet. Zwar kann Naomi nicht mit Pfeil und Bogen umgehen, in anderer Hinsicht ist die 17-Jährige der Elbin Tauriel aber überlegen: Sie schreibt. In einer ihrer Geschichten hat sie Kíli kurzerhand mit Jungzwergin Tahendra verkuppelt, einer Figur, die sie einfach erfunden hat. „Ich hab ihr ein paar meiner Eigenschaften gegeben“, gibt sie zu, „aber sie ist nicht ich! Auch wenn das Fangirl in mir das bedauert.“
Geschichten wie die von Kíli und Tahendra nennen sich Fanfiction. Dabei denken Fans sich Geschichten zu Büchern, Filmen oder Computerspielen aus. Sie füllen Lücken, welche die Autoren hinterlassen haben. Manche erzählen die Vergangenheit von Nebencharakteren. Andere spinnen Fortsetzungen. Viele entwerfen dafür eigene Figuren – wie Tahendra.
Kíli strich ziellos durch die verschneiten Straßen, und auf einmal fand er sich auf dem Markt wieder, den Tahendra in genau demselben Moment betreten hatte. Beide waren in ihre Gedanken versunken und achteten nicht auf ihre Schritte, und so stießen sie dann aneinander. Sofort entschuldigten sie sich und fragten gleich nach, ob der andere sich verletzt hätte, als sich ihre Blicke zum ersten Mal richtig trafen und sie sich überrascht ansahen.
„Tahendra?“, fragte Kíli mit ungläubigem Staunen.
Und zeitgleich fragte Tahendra: „Kíli?“
„Ja, ich bin es, bei Durin, schön dich mal wiederzusehen!“, antwortete Tahendra fröhlich . . .
Als Naomi in der dritten Klasse ihre erste Fanfiction schrieb, wusste sie nicht einmal, was Fanfiction ist. Das entdeckte sie erst vor zwei Jahren. Sie hatte sich in den Androiden Data aus der Serie „Star Trek“ verguckt. „Das war schon komisch, für eine fiktive Figur zu schwärmen“, erinnert sie sich. Im Netz fand sie Gleichgesinnte. Ihre Erleichterung darüber ist heute noch zu spüren, wenn sie davon erzählt.
Auch Luna* waren ihre Ideen anfangs peinlich: „Ich hab die ersten Geschichten vernichtet, die kamen mir so unkreativ vor.“ Als die 17-Jährige merkte, dass sie nicht allein ist mit ihrem Hobby, fand sie es plötzlich nicht mehr peinlich, sondern cool. Zurzeit schreibt sie vor allem über „Inazuma Eleven“, eine Manga-Serie über eine Fußballmannschaft. Weil da vor allem Jungs auf dem Feld stehen, erfindet sie die Geschichten über Spielerinnen einfach selbst.
Die zwei Schülerinnen könnten unterschiedlicher nicht sein: Naomi lacht gern, redet viel und wirft dabei die dicken, hellbraunen Haare zurück, die ihr fast bis auf die Hüften fallen. Luna ist zurückhaltend, antwortet knapp, und meistens zieht sie nur den rechten Mundwinkel ein wenig nach oben, wenn sie lächelt. Naomi schreibt am liebsten mit Zettel und Stift, und das überall, ob im Bus, vorm Fernseher oder im Deutschunterricht. „Ich schlepp immer ein paar Kilo Papier mit mir herum“, erzählt sie. Luna dagegen sitzt gern mit dem Laptop auf dem Schoß auf dem Balkon.
Was beide stört: die Vorurteile gegenüber Fanfiction. „Man wird schon komisch angeguckt, wenn man davon erzählt“, findet Naomi. „Vielen fallen als erstes ,Harry-Potter‘-Fanfictions ein.“ Bei denen dominiert ein Thema: eine Liebesbeziehung zwischen Harry und seinem Lieblingsfeind Draco Malfoy. Und weil der Zauberer viele Fans hat, kommen ständig neue Geschichten über dieses Pärchen hinzu. Neben wenig originellen Ideen haben viele Fanfictions noch ein weiteres Problem: Sie strotzen vor Rechtschreib- und Grammatikfehlern.
Wenn es um solche Fanfictions geht, verdreht Naomi genervt die Augen. Wie Luna beansprucht sie für sich, „mit Niveau“ zu schreiben. Dazu zählt gute Rechtschreibung und Grammatik genauso wie eine durchdachte Story. Naomis Regeln verstehen Außenstehende aber nur mit Wörterbuch: „Ers-tens: Ich zerreiße keine Pairings aus dem Canon. Zweitens: Ich mag keine AUs.“ Heißt übersetzt: Sie trennt keine Paare aus der Vorlage, dem sogenannten Canon. Genauso wenig erfindet sie Alternative Universen, die AUs, in denen beispielsweise ein Charakter überlebt, der im Original stirbt.
„Mir fällt es schwer, mir eigene Figuren auszudenken, denen Charakter zu geben und Tiefe zu entwickeln. Bei Fanfiction ist das leichter, da muss ich mir nur einen Charakter ausdenken“, erklärt Luna. Auch Naomi findet es leichter, wenn sie sich an einer Vorlage orientieren kann. Zugleich kann sie sich die fremde Gedankenwelt zu eigen machen, wenn sie sich ihre Geschichte ausdenkt: „Wenn ich über Kíli schreibe, kann ich ihn näher kennenlernen. Dann gehört er irgendwie mir.“
Das Problem ist: Kíli gehört eben nicht Naomi. Er gehört den Erben des Urhebers J. R. R. Tolkien. Was sie dürfen und was nicht, ist weder Luna noch Naomi wirklich klar. Kein Wunder: Das Urheberrecht ist kompliziert. Meist wird von Fall zu Fall entschieden, ob eine Erzählung eine Kopie ist oder schon ein eigenes Werk. Der Urheberrechtsexperte Tim Hoesmann beruhigt: „Fanfiction zu veröffentlichen ist nicht strafbar im Sinne von Staatsanwalt und Gefängnis.“ Sehr wohl könne es jedoch passieren, dass Fanfiction-Autoren Schadenersatz zahlen müssen. Das komme aber nicht oft vor, weiß der Anwalt. „Was hat denn der Rechteinhaber davon? Wenn die Fanfiction ein privates Projekt ist, tut der sich keinen Gefallen damit, Leute abzumahnen.“
Fanfiction: altes Phänomen, neues Wort
Einsteiger-Seite
Das größte deutsche Portal ist Fanfiktion.de. Hier sind 120 000 Fans angemeldet – nicht nur Schüler übrigens, sondern auch Erwachsene.Für Fortgeschrittene
Weitaus größer ist das englischsprachige fanfiction.net. Zum Vergleich: Auf der deutschen Seite gibt es 33 000 Geschichten zu „Harry Potter“. Die englische Version bietet 20-mal so viele.Historie
Fanfiction ist kein reines Web-Phänomen. Schon in den 1920er-Jahren dachten sich begeisterte Leser Fortsetzungen zu „Sherlock Holmes“ oder zu den Romanen Jane Austens aus.Bestseller
Die erfolgreiche Roman-Trilogie „Shades of Grey“ war ursprünglich eine Fanfiction zur Serie „Twilight“. Allerdings ohne Vampire und mit mehr Erotik.
Gerade Fanfiction-Schreiber sind treue Anhänger. Die meisten Autoren stehen Fanfiction daher offen gegenüber, solange niemand Geld daran verdient. Wenn ein Autor Fanfiction verbietet, hält Naomi sich auch daran: „Ich finde das schade, aber man muss Respekt davor haben, was der Autor möchte.“ Respekt fordert sie auch für sich: „Wenn jemand eine Geschichte mit Tahendra schreiben will, möchte ich schon vorher gefragt werden.“ Auf Fanfiktion.de, wo sie veröffentlicht, sei das ja mit einem Klick möglich – viel einfacher, als bei Tolkiens Erben anzuklopfen.
Professionelle Schriftstellerin will Naomi übrigens nicht werden. Sie scheut den Druck, der entstehen könnte, wenn aus Spaß Ernst würde. „Ich fahre auch gern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln“, sagt sie. „Deshalb will ich trotzdem nicht Busfahrerin werden.“