Ein Grillabend bei Freunden in Hamburg. Das Wetter ist grandios, die Steaks brutzeln neben einem von der Dame des Hauses fein kuratierten Sortiment aus Bio-Würstchen ihrem optimalen Garpunkt entgegen. Susanne meldet sich zu Wort, will wissen, was denn nun mit der Tochter von Helmstedts ist. „Nina hat doch letztes Jahr Abitur gemacht, oder? Was macht sie denn jetzt?“
Das ist das Stichwort für Rainer. Ninas Vater streckt kurz den Rücken durch und knallt eine Antwort raus, noch bevor seine Frau einatmen kann: „Sie ist arbeitslos.“ Die Worte wirken wie ein Torpedo. Stille in der Runde. Gundula Helmstedt, alarmiert, übernimmt: „Na ja, sie weiß noch nicht so genau, was sie machen will. Sie ist immer noch im Gap-Year.“
Nina tut den ganzen Tag nichts – außer duschen und ins Smartphone starren
Allgemeines Nicken bei der Grillgemeinde. Thomas weiß zu berichten, dass sein ältester Sohn seit seinem Abitur vor 15 Monaten nicht eine einzige Bewerbung rausgeschickt hat. „Er jobbt jetzt im Schuhgeschäft, spezialisiert auf teure Sneaker.“ Thomas’ Frau ergänzt schulterzuckend: „Er meint, mit Sportschuhen kenne er sich bestens aus. Der Job sei mega.“ Noch ehe sich Ratlosigkeit breitmachen kann, setzt Ninas Vater noch einen drauf: „Na, immerhin arbeitet er. Nina tut den ganzen Tag nichts – außer duschen und ins Smartphone starren.“
Die große Orientierungslosigkeit nach der Schule ist ein Massenphänomen
Die Würstchen und Steaks scheinen fertig, alle greifen zu. Das Fleisch ist von außen perfekt angegrillt, aber innen noch lange nicht durch. Ein bisschen wie der Entwicklungszustand der Kinder, denkt sich Susanne, sagt aber lieber nichts. Die große Orientierungslosigkeit nach der Schule ist ein Massenphänomen: Junge Erwachsene, ob Mädchen mit Einser-Abitur oder Jungen mit weniger glanzvollen Abschlüssen, sind nach der Schule blockiert. Zwar ist es eine wichtige Aufgabe der Schule, durch Übergangsmanagement, Praktika oder Berufsorientierung den Schülern die Wahl eines Ausbildungsgangs, eines Studiums und späteren Berufs zu erleichtern. Doch das klappt bei vielen nicht.
Die Absolventen starten nicht durch ins Leben, sondern fühlen sich unfähig zur Entscheidung für den richtigen Beruf, die richtige Ausbildung, das richtige Studium. Es wird gelitten, gestritten, nichts getan und viel gechillt. Die Eltern verzweifeln. Denn sie wünschen sich natürlich, dass ihre Kinder nach dem Schulabschluss selbstständig sind. Doch bei vielen Jugendlichen stellt sich diese Autonomie, Ziel jeder Erziehung, nicht ein. Ganz im Gegenteil. Ohne die äußere Struktur durch die Schule fallen viele junge Erwachsene erst einmal in ein Loch. Viele Abgänger wissen nicht, welchen Beruf sie ergreifen sollen, welche Begabungen sie auszeichnen, und letztlich wissen sie nicht, wer sie sind.
Der Spielraum für die Wahl nach dem Abitur hat sich verengt
Lena Heiliger, Lehrerin an einem Gymnasium in Bonn, ist davon überzeugt, dass Heranwachsende durch Ausprobieren lernen und so herausfinden können, welcher Beruf zu ihnen passt. „Dies ist heute aber kaum noch möglich. Der Grund dafür: Zahlreiche Studiengänge sind mit einem hohen NC beschränkt. Brauchte man vor 30 Jahren nur für Medizin ein sehr gutes Abi, gilt dies inzwischen für viele Fächer. Der Spielraum für die Wahl nach dem Abitur hat sich verengt“, erklärt Heiliger. Die Jugendlichen können nur eingeschränkt frei entscheiden, was sie ausprobieren möchten. Sie fühlen sich unter Druck und meinen, schon in der Schule wissen zu müssen, was sie einmal studieren wollen.
Das liegt vor allem daran, dass heute viel mehr Kinder auf ein Gymnasium gehen und Abitur machen als vor 30 Jahren. Damit hat der Realschulabschluss an Wert verloren. In der Schweiz, wo der Realschulabschluss nach wie vor anerkannt ist und die Norm darstellt, wählen viele Schüler im dualen System eine Ausbildung. „Die Jugendlichen erfahren eine große Anerkennung, wenn sie einen guten Ausbildungsplatz bekommen. In der Schweiz schließen nur rund 20 Prozent eines Jahrgangs mit dem Abitur ab“, ergänzt Heiliger.
Jeder dritte Student bricht sein Studium ab
Ein Symptom der Orientierungslosigkeit in Deutschland ist die hohe Studienabbrecherquote, die das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung in Hannover regelmäßig erhebt. Demnach bricht jeder dritte Student sein Studium ab. Die Hauptgründe: Leistungsprobleme, mangelnde Motivation und das Gefühl, an der Uni fehl am Platz zu sein. In den Familien spielt sich ein Drama ab, um das es in dem Buch „Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann?“ geht.
Zurück auf Los“ heißt es für die ganze Familie
Da ist zum Beispiel Anton, 21, aus Berlin, ein Computercrack. Nach dem Abi chillte und jobbte er ein paar Monate, um sich zu orientieren. Dann gab er dem Druck von zu Hause nach und immatrikulierte sich an einer bayerischen Uni. Erst einmal BWL, ein gängiges Rezept in seiner Altersgruppe. Doch nach wenigen Wochen steht er mit seinen Umzugskartons wieder vor der Tür. „Zurück auf Los“ heißt es für die ganze Familie. Mama zieht eine Ereigniskarte: „Dein geplantes Arbeitszimmer kannst du vergessen. Storniere schon mal den bestellten neuen Schreibtisch.“ Abgeschnitten von seinem Sozialleben fühlte sich Anton in der bayerischen Unistadt unglücklich. Dazu die vielen Klausuren. Anton besorgt sich in Berlin einen neuen Platz für BWL – und einen Vertrag als Werkstudent bei einem Start-up. Dieses selbst gewählte Kombiticket war ein Volltreffer. Jetzt erscheint ihm das Studium nicht mehr so theoretisch.
Ein Platz in Bielefeld gibt auf Instagram halt nichts her
Die verkürzten Schulzeiten sollten die Schulabgänger früher zum Einstieg ins Berufsleben bringen. Doch in der Realität verzögert die Phase der Orientierungslosigkeit den Start ins Leben oft erheblich. Diese Zeit wird begleitet von einem Chaos der Gefühle, die emotionale Achterbahn reicht von Verunsicherung bis hin zur mentalen Lähmung, die das Denken blockiert. Das Angebot, das die jungen Erwachsenen heute nach dem Abitur erwartet, ist vielfältiger denn je: Praktika, neue Studien- und Ausbildungsgänge im In- und Ausland, Berufsbildungsbörsen. Dazu kommt, dass im Zeitalter der Selbstoptimierung ein immenser Druck um die coolste Ausbildung herrscht. Noch nie ein Praktikum in Singapur gemacht? Ein Platz in Bielefeld gibt auf Instagram nichts her.
Die Angst, sich für das Falsche zu entscheiden, lähmt viele junge Leute. Katharina aus München, die nun in Wien studiert, jobbte und reiste erst einmal ausgiebig nach ihrem Abitur. Danach lernt sie für den Aufnahmetest für Psychologie in Wien, da ihr für ein Studium in Deutschland der NC fehlt. Doch im Sommer 2018 verpasst sie knapp die nötige Punktzahl für einen der Plätze. Nun immatrikuliert sie sich für Soziologie. „Das liegt mir und macht mir viel Spaß“, so Katharina. Dennoch möchte sie diesen Sommer den Psychologietest wiederholen sowie sich an der Akademie der Künste in Wien bewerben. Noch immer schwankt Katharina zwischen den Möglichkeiten.
Anders als Katharina ergeht es Timon, 19, aus Göttingen. Der junge Mann jobbt nach dem Abitur erst einmal in einer Bar, um sich das Geld für seine Weltreise zu verdienen. Dann fliegt er nach Australien und Asien. „Die Überlandbusse in Australien sind voll mit deutschen Abiturienten“, weiß er zu berichten. Mit der Idee, Jura zu studieren, bewirbt er sich an mehreren Unis und ergattert einen Platz in Göttingen. Ihm gefällt die Idee, nicht in einer Millionenstadt zu studieren. „Schon allein wegen der Wohnungssuche“, so Timon. Er hat nicht das Gefühl, dass mit seinem Entschluss für das Studium schon alle Weichen gestellt sind. „Mit Jura kannst du viele Richtungen einschlagen, auch außerhalb der Juristerei“, sagt er.
Jetzt sollte Plan B greifen. Doch der existiert meist nicht
Nicht jeder ist so von seiner Wahl überzeugt wie Timon. Auch wenn ein Jugendlicher sich einmal für eine Laufbahn entscheidet, heißt dies noch lange nicht, dass nun der passende Berufsweg gefunden wurde. Das Stochern im Nebel geht weiter. Zum Umzug rückt Papa mit dem Werkzeugkasten an, schraubt die Ikea-Regale, die er gerade anmontiert hat, wieder ab. Nun sollte Plan B greifen, doch der existiert meist nicht.
Wer es erst einmal langsam angehen lässt, ist oft im Vorteil. So absolviert Zorah, 19, aus Berlin nach ihrem Abi verschiedene Praktika. Sie schnuppert in den Wissenschaftsjournalismus hinein, macht ein Praktikum in einer PR-Agentur und dann in einer Tagesklinik für Borderliner. Jetzt ist sie sich völlig sicher: Sie möchte Psychologie studieren.
Wer ausschließlich auf dem Sofa chillt, hat keine Chance, die Erfahrung zu machen, wie motivierend es sein kann, den richtigen Weg gefunden zu haben. Schon in der Schule kamen viele mit den Leistungsfächern Netflix und Snapchat nicht wirklich voran. Das Erstaunliche bei den Heranwachsenden ist, dass sich der Schalter blitzschnell umlegt, wenn sie das Passende gefunden haben. Nach monatelangem Zweifeln und Grübeln entsteht über Nacht Gewissheit. Gesetzt den Fall, man probiert etwas aus.
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