Wundern & Wissen

Empathie – Schule des Herzens

Eine unterschätzte Tugend: Mitfühlende Menschen sind widerstandsfähiger, glücklicher und erfolgreicher als andere. Lässt sich Empathie lernen?


Marlene Borcherding war 16, als sie zum ersten Mal ein Altenheim von innen sah – als Lernprojekt außerhalb des Klassenzimmers. Anfangs war ihr etwas mulmig, sie hatte Angst vor der Gebrechlichkeit der Bewohner, ihrer Hilflosigkeit und Demenz. Doch bald war sie glücklich, wenn sie ihren wöchentlichen Besuch machte: „Zu erfahren, dass man mit Kleinigkeiten einem Menschen so viel Freude schenken kann, war schon was Besonderes.“ Und nach einer Pause: „Zum ersten Mal habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich etwas anderes kann, als Schulnoten zu schreiben . . .“

Empathie als Erlebnis: „Soziales Lernen“ ist ein pädagogisches Ziel an der Gesamtschule Bremen-Mitte. In dem Projekt „Helping Hands“ arbeiteten die Schülerinnen und Schüler als Wahlpflichtfach in Kitas und Pflegeheimen, in der Behindertenhilfe oder Jugendarbeit und wurden 2008 dafür von der Bundeskanzlerin ausgezeichnet. Inzwischen hat die ambitionierte Schule den Fokus auf globales Lernen ausgeweitet und erneut einen Preis gewonnen, diesmal für ihr Afrika-Engagement: Bundespräsident Gauck verlieh ihr den Schulpreis für Entwicklungspolitik.

Sollte soziales Lernen zum Schulfach werden? Die Ergebnisse einer Studie der Pädagogischen Hochschule der Harvard-Universität zum Thema Empathie sprechen dafür, dass dies notwendig wäre: Von 10 000 befragten Schülern der Mittel- und Oberstufe rangierten bei 80 Prozent „Leistung“ oder „persönliche Zufriedenheit“ vor dem Wunsch nach „sozialem Engagement“. „Wir waren erstaunt und bestürzt, wie wenig Werte wie Mitgefühl oder Fairness den Jugendlichen bedeuten“, kommentierte einer der Forscher des Projekts Making Caring Common, der US-Psychologe Richard Weissbourd.

Eltern und Lehrer predigen zwar soziale Werte, belohnen aber nur Leistung und Durchsetzungskraft

Was ist da schiefgelaufen, fragten sich die Harvard-Forscher und erhielten von den Schülern auch gleich die Antwort: Eltern und Lehrer würden zwar soziale Werte predigen, aber faktisch nur Leistung und Durchsetzungsstärke belohnen, erklärte die große Mehrheit der Schüler. „Wir müssen dringend unsere Erziehung korrigieren“, warnt die amerikanische Kinderpsychologin Michele Borba, denn Studien zeigten, dass Kinder ohne Mitgefühl für andere „weniger glücklich, weniger anpassungsfähig und auch weniger erfolgreich“ seien.

Elternhaus und Schule scheinen den Kindern systematisch abzugewöhnen, was eigentlich von der Natur angelegt ist: Selbstlosigkeit und Mitgefühl. So zeigen bildgebende Verfahren, dass das Gehirn unfaire Situationen automatisch erkennt, auch wenn sie andere betreffen. Beobachtet ein Mensch bei einem anderen Schmerz, leidet er mit, erkennt er Freude, ist auch er emotional berührt. Verantwortlich dafür sind Spiegelneuronen, spezielle Nervenzellen im Gehirn. Diese ermöglichen uns, schon in früher Kindheit zu lernen, indem wir nicht nur Handlungen nachahmen, sondern sie auch emotional nachvollziehen können. Kein anderes Wesen verfügt über ähnlich viele Spiegelneuronen – die Fähigkeit zum Mitgefühl, zur Empathie also, ist ein zentraler Kern des Menschseins.

Spiegelneuronen sind nicht einfach nur angeboren, sie werden durch Erfahrung zusätzlich geprägt – besonders wichtig sind dabei die ersten vier Lebensjahre.  Doch es gibt viele Faktoren, die sich negativ auf diese Gabe auswirken: die Ein-Kind-Familie zum Beispiel. „Kinder lernen nicht mehr an ihren kleineren Geschwistern, was es bedeutet, noch nicht alles zu können, Schutz und Hilfe zu benötigen, Aufmerksamkeit zu teilen“, sagt Karlheinz Brisch, Kinder- und Jugendpsychiater an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat das Konzept des BASE-Babywatching entwickelt, das seit über zehn Jahren mit Erfolg läuft: Mütter bringen ihre Säuglinge in regelmäßigen Abständen mit in eine Kindergartengruppe oder eine Schule, zum Beispiel in die 5. Klasse der Janus-Korczak-Schule im westfälischen Ibbenbüren. Die Babys werden dort zum Anschauungsobjekt und vor der Klasse gewickelt und gefüttert. Die größeren Kinder bestaunen die Fortschritte, die die Kleinen machen, wenn sie Kontakt aufnehmen oder beginnen, über den Boden zu robben. Sie erfahren die Hilflosigkeit, wenn das Baby schreit und nicht getröstet werden kann, und das Glück, wenn sein Schmerz plötzlich vorbei ist. Die Pädagoginnen erhalten eine spezielle Schulung für diesen ungewöhnlichen Unterricht in Empathie. „Er ist Prävention von Angst und Aggression, auch im späteren Leben“, betont Brisch.

Kleines Einmaleins der Empathie

  • Seien Sie Vorbild und Mentor: Engagieren Sie sich in der Hausgemeinschaft, im Stadtviertel oder ehrenamtlich in einer sozialen Einrichtung.

  • Lehren Sie Ihr Kind, was Verpflichtung bedeutet: Diskutieren Sie mit ihm über die Gründe und Folgen, wenn es eine Freundschaft beendet oder ein Team verlässt.

  • Leben Sie Ihrem Kind vor, dass Pflichten dazu gehören: Es kann im Haushalt helfen oder die Verantwortung für ein Tier übernehmen.

  • Zeigen Sie Respekt und Höflichkeit –
    anderen und Ihrem Kind gegenüber.

  • Diskutieren Sie Mut und Zivilcourage: Fragen Sie nach Mobbing in der Klasse und was Ihr Kind dazu für eine Position hat.

  • Motivieren Sie Ihr Kind zum Handeln, auch wenn es um große Herausforderungen geht: Jeder kann etwas gegen den Hunger auf der Welt oder die Klimakatastrophe tun.

  • Fragen Sie bei Elternabenden nach Möglichkeiten, soziales Lernen an der Schule zu praktizieren.

  • Fördern Sie Nachdenklichkeit bei Ihren Kindern. Ethik betrifft viele Fragen des Alltags und sollte nicht nur im Religions- oder Ethikunterricht vorkommen.

  • Zeigen Sie Ihrem Kind, dass es viele Perspektiven gibt. Üben Sie selbst Toleranz.

  • Lösen Sie Konflikte auf dem Verhandlungsweg – auch die zwischen Eltern und Kind.

Eine andere Methode, die sozialen Fähigkeiten zu wecken, ist die Schulung der eigenen Wahrnehmung. „Kleine Kinder leben im Hier und Jetzt – das ist eine Fähigkeit, die nicht zerstört, sondern bewahrt werden sollte“, sagt Nils Altner vom Lehrstuhl für Naturheilkunde und Integrative Medizin der Universität Duisburg-Essen, der mehrere Bücher zur Achtsamkeitspraxis bei Kindern verfasst hat. Der amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn hatte vor rund 35 Jahren den Kern buddhistischer Meditation von seinen religiösen Bezügen befreit und als Übungsprogramm in viele Bereiche des Lebens eingeführt, in Kindergärten, auf Krankenstationen oder Chefetagen von Unternehmen. Zu lernen, eine Rosine ganz bewusst zu schmecken oder sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren, dämpft die Hektik der Gedanken und schult gleichzeitig die Intensität der eigenen Wahrnehmung. Das steigert gleichzeitig die Empathiefähigkeit, zeigen viele Studien, denn die Achtsamkeitspraxis ist eines der am besten untersuchten Verfahren aus der Psychologie. „Sie macht Kinder widerstandsfähiger, körperlich wie seelisch“, sagt Altner, „gleichzeitig fördert sie die Fähigkeit, mit anderen achtsam umzugehen, sie mit mehr Offenheit wahrzunehmen.“

Die Fähigkeit, sich für andere zu interessieren und soziale Kontakte einzugehen, stärkt die Resilienz, die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen und Anfeindungen. Zwischen 30 und 50 Prozent der deutschen Schulkinder waren oder sind von Mobbing betroffen, vor allem die mit Migrationshintergrund. Cyber-Bullying beschäftigt inzwischen schon eigene Polizeiabteilungen: Jeder sechste Schüler war schon Opfer dieser Internet-Kriminalität, jeder fünfte gab in einer Umfrage von 2013 an, auch schon selbst Täter gewesen zu sein.

Macht die Anonymität der digitalen Gesellschaft „asozial“? Den Betroffenen bei unseren Handlungen nicht mehr in die Augen schauen zu müssen, betäubt die Empathie. Soziales Lernen bedeutet also auch, konkrete Erfahrungen mit anderen Menschen zu ermöglichen und den virtuellen Anteil am Leben nicht übergroß werden zu lassen.

Das bedeutet auch, dass Eltern wieder mehr gemeinsam mit ihren Kindern machen sollten. Vorbild zu sein bedeutet aber mehr, als nur sich Zeit zu nehmen. „Wir müssen uns selbst prüfen“, betonen die Forscher der Harvard-Studie, „ob wir selbst wirklich aufrichtig, fair und mitfühlend sind. Das bedeutet nicht, perfekt zu sein. Es bedeutet eher, unseren Kindern zu zeigen, wie man mit eigenen Fehlern und Misserfolgen umgehen kann.“



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