Seit Wochen steht das Thema für das Referat fest, aber wann fängt man ernsthaft mit der Arbeit an? Am Wochenende vorher. In Englisch hinkt man auch schon zwei Lektionen mit den Vokabeln hinterher. Und diesen Übungsaufsatz hätte man eigentlich letzte Stunde schon abgeben müssen, Mist, morgen haben wir ja Deutsch! Solche Situationen kennen die meisten Schülerinnen und Schüler gut. Und sie wissen: Da hat mich wohl mein innerer Schweinehund vom Lernen abgehalten.
Aber ehe Eltern und Lehrkräfte sich gleich wieder aufregen über das faule Jungvolk, hier eine Statistik: Acht von zehn Erwachsenen haben laut einer Studie des SINUS-Instituts schon finanzielle, berufliche oder gesundheitliche Nachteile erlitten, weil sie wichtige Dinge auf die lange Bank geschoben haben. Das fiese Borstentier ist also beileibe nicht nur auf Kinder und Jugendliche spezialisiert – auch wenn es diese besonders gerne ablenkt.
Es braucht also eine Strategie, um das Haustier einzuhegen. Und die beginnt damit, dass man es erst einmal richtig kennenlernt. Dann ergeben sich die nächste Schritte fast von selbst. Also los: Hier ist unser
Kleines Lexikon des inneren Schweinehunds beim Lernen
Merkmale
Alles, was irgendwie unangenehm ist, ist dem inneren Schweinehund ein Graus. Mit fiesen Tricks untergräbt er unseren Antrieb und bringt uns dazu, wichtige Dinge zu vermeiden oder aufzuschieben.
Verbreitung
Der innere Schweinehund lebt in allen Menschen in unterschiedlicher Größe, auch bei Eltern und Lehrkräften. Ob es um mehr Sport, die Steuererklärung oder ein unangenehmes Telefonat geht, das Gefühl, sich nicht aufraffen zu können und unangenehme Dinge am liebsten aufzuschieben, kennt wohl jeder.
Wie groß der innere Schweinehund wird, hängt von seinen Haltungsbedingungen ab
Größe
Wie groß der innere Schweinehund wird, hängt von seinen Haltungsbedingungen ab. Gibt man ihm regelmäßig nach, dann wird er stärker. Unterdrückt man ihn, wird er schwächer. Der innere Schweinehund wächst also immer nur so sehr, wie man ihn lässt. Bei Profisportlern zum Beispiel ist er winzig – und kümmert sich bei ihnen höchstens noch um die Steuererklärung.“
Lebensräume
Der kleine Halunke treibt gleich in mehreren Hirnregionen sein Unwesen. Dabei nutzt er ganz geschickt die kleinen Schwächen unseres Denkorgans.
Lebensraum 1: die Inselrinde
Der innere Schweinehund nutzt Beispiel unser fehlerhaftes Zeitempfinden: „Morgen reicht auch noch“, flüstert er dem Schüler oder der Schülerin ein, wenn es eigentlich höchste Zeit wäre, mit dem Lernen loszulegen. Unser Gehirn macht es ihm leicht. Wenn wir planen, wie lange wir für eine Aufgabe brauchen, überlegen wir, wie lange es beim letzten Mal gedauert hat, eine ähnliche Aufgabe zu meistern. Unsere Erinnerungen sind aber oft komplett verzerrt: Wir glauben, vergangene Aufgaben schnell erledigt zu haben– das stimmt aber nicht immer.
„Der Grund dafür ist, dass das Gehirn keine Sekunden oder Minuten misst, sondern Erlebnisse“, erklärt der Neurowissenschaftler Henning Beck in seinem Buch „Irren ist nützlich!“. Unsere Sammelstelle für emotionale Momente liege in der Inselrinde, am seitlichen Kopf knapp über der Schläfe. „Hier werden sie auf einer Art persönlicher Zeitachse angeordnet. Was besonders intensiv erlebt wurde, bekommt viel Platz – und erscheint uns in der Rückschau länger.“ Langweilige Zeiträume schrumpften dagegen so zusammen, dass sie uns deutlich kürzer vorkommen. Verständlich also, dass wir im Nachhinein denken, ein Tag Lernen würde reichen.
Lebensraum 2: das Belohnungssystem
Damit wir nicht trotzdem mit dem Lernen anfangen, sorgt der innere Schweinehund dafür, dass wir eine sofortige Belohnung deutlich höher werten als eine in der Zukunft. Das Daddeln an der Spielkonsole jetzt sofort aktiviere den für das Belohnungsempfinden zuständigen Nucleus accumbens stärker als die Aussicht auf eine gute Note am Ende des Schuljahrs, so Beck. Diese Hirnstruktur wird zum Beispiel auch aktiv, wenn wir etwas Süßes essen. Schon die Urmenschen trieb die Ausschüttung von Dopamin im Belohnungszentrum dazu, nach süßer, energiereicher Nahrung zu suchen. Steht ein Schüler jetzt vor der Entscheidung zu lernen oder zu daddeln, flüstert ihm der innere Schweinehund ein: „Das Spiel ist so cool. Bestimmt kommst du ein Level weiter. Lernen kannst du auch morgen noch.“
„Dass der Belohnungsreiz höher ist, wenn es um aktuelle Belohnungen geht, liegt auch daran, dass das zukünftige Ich nicht so präsent ist wie das aktuelle“, erklärt Henning Beck. „Wenn wir uns unser zukünftiges Ich vorstellen, verarbeitet unser Gehirn es wie eine komplett fremde Person.“ Kein Wunder also, wenn eine Schülerin oder ein Schüler das Lernen gern auf morgen verschieben möchte. Den Loser, der bald eine Vier im Zeugnis hat, kennt sie oder er ja nicht. Da fühlt man sich nicht zuständig. Und motiviert sind wir ohnehin nur dann, wenn wir selbst eine Belohnung zu erwarten haben.
Langeweile und Monotonie findet unser Gehirn furchtbar – und lässt sich lieber ablenken
Lebensraum 3: Im Zwischenhirn
Selbst wenn die Person nach all den Einflüsterungen standhaft bleibt und anfängt zu lernen, gibt der innere Schweinehund nicht auf. Unser Gehirn macht es ihm leicht: Es lässt sich unheimlich gerne ablenken, weil es ständig darauf ausgerichtet ist, Neues zu erleben. Langeweile und Monotonie findet es furchtbar. Nicht die besten Voraussetzungen also, um ruhig am Schreibtisch zu sitzen.
Normalerweise sorgt der Thalamus, eine Struktur im Zwischenhirn, als eine Art Türsteher dafür, dass störende Ablenkungen erst gar nicht ins Bewusstsein gelangen. Bei gleich bleibenden Reizen wie unserem Herzschlag klappt das gut. Gegen unvorhergesehene Reize, wie dem einer eingehenden Textnachricht, hat der Thalamus aber kaum eine Chance. Sobald sich ein Sinneseindruck schnell ändert, wird er von ihm als „möglicherweise wichtig“ einsortiert und gelangt in unser Bewusstsein.
„Aus diesem Grund sind die Grundeinstellungen vieler Medien besonders tückisch“, erklärt Henning Beck. „Jedes Klingeln, Vibrieren oder Aufblinken sorgt für einen neuen Veränderungsreiz für das Gehirn. Schließlich könnte sich dahinter eine spannende Sache verbergen.“ Die Konzentration ist damit erst einmal dahin – selbst wenn die Person nur darüber nachdenkt, ob sie zum Handy greifen sollte.
Hinzu kommt, dass jede eingehende Textnachricht einen kleinen Dopaminschub in unserem Belohnungszentrum auslöst und dazu führt, dass wir mehr von diesen Belohnungen möchten, wie die Psychologin Susan Weinschenk in „Psychology Today“ beschreibt. „Vielleicht sollte ich doch mal schnell nachschauen, was es mit dem auf sich hatte“, denkt man.
Lebensraum 4: Im Schmerzzentrum
„Nein! Stopp! Ich muss doch lernen“, meldet sich die Vernunft des Lernenden – und lässt damit den kleinen Saboteur in seinem Kopf dessen nächste Gemeinheit auffahren: „Die anderen verabreden sich bestimmt fürs Schwimmbad“, flüstert er. „Sie werden viel Spaß haben – ohne dich.“ Wer kann da widerstehen?
„Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Das ist so essenziell wie Hunger oder Durst“, sagt Michaela Pfundmair, Sozialpsychologin an der Universität Ulm. Verständlich, schließlich waren unsere Vorfahren auf die Gruppe angewiesen, wenn sie überleben wollten. „Haben wir das Gefühl, ausgeschlossen zu werden, wird in unserem Gehirn dasselbe Areal aktiviert wie bei physischem Schmerz“, sagt Pfundmair. „Das ist wie ein Reflex, man kann es kaum beeinflussen.“ Natürlich versuche man dann, alles zu tun, um nicht ausgeschlossen zu werden. Der innere Schweinehund freut sich. Endlich hat er sein Ziel erreicht.
Zum Glück hat auch der innere Schweinehund seine natürlichen Feinde
Natürliche Feinde
Wenn man all das so liest, könnte man meinen, der innere Schweinehund sei ein fast unbesiegbares Monster. Doch nein: Auch er hat seine natürlichen Feinde. Sein stärkster Gegenspieler wird dabei im äußeren Teil des vorderen Frontallappens des Hirns vermutet: Es ist die Selbstkontrolle. Sie unterdrückt spontane Impulse und bringt uns dazu, uns für eine spätere Belohnung zu entscheiden. Deshalb ist es ein guter Ansatz, diesen Gegenspieler zu hegen, zu pflegen und sogar zu trainieren. Denn damit hält man auch den inneren Schweinehund klein:
So lässt sich der innere Schweinehund beim Lernen bändigen
Die gute Nachricht ist: Der innere Schweinehund lässt sich zähmen. Wer richtig mit ihm umgeht, kann ihn zu einem handzahmen und liebenswürdigen Haustier erziehen. Zum Beispiel so:
1. Vom Ende her denken
„Je deutlicher wir die langfristigen Konsequenzen unseres Handelns vor Augen haben, desto eher gehen wir die unangenehmen kurzfristigen Tätigkeiten dafür an“, sagt Autor und Experte Henning Beck. „Es ist daher immer gut, vom Ende her zu denken.“ Diese Strategie hilft auch dabei, sich seinem zukünftigen Ich näher – und für die drohende schlechte Note tatsächlich zuständig – zu fühlen. Durch Fragen können Eltern diesen Gedankengang anregen: „Was meinst du, wie stolz du sein wirst, wenn du die Prüfung bestanden hast?“ „Was willst du erreichen?“ Eines ist sicher: Wer ein klares Ziel vor Augen hat, ist motivierter.
2. Einfach machen
Mit diesem klaren Ziel vor Augen ist dann das Wichtigste: loslegen! „Die einfachste Regel ist: das Unangenehme zuerst“, sagt Henning Beck. „Dadurch schiebe ich die Ablenkungen nach hinten und nehme ihnen den Vorteil im Belohnungszentrum.“ Bei diesem Vorsatz helfen feste Regeln: Egal, was ist, die Hausaufgaben oder das Lernen werden zuerst erledigt. Dann erst geht es auf den Fußballplatz …
3. Routinen einführen
Ist es zur Regel geworden, eine bestimmte Zeit am Tag den Hausaufgaben, dem Lernen oder dem Instrument zu widmen, muss man nicht jeden Tag darüber nachdenken. Es wird dann, wie das tägliche Zähneputzen, automatisiert. Der innere Schweinehund kommt also gar nicht erst zu Wort.
4. Teilschritte würdigen
„Es ist wichtig, dass man auch Entwicklungen sieht und diese würdigt“, sagt Beck. „Menschen wollen ja besser werden, das ist der Antrieb von allem.“ Ein „Cool gemacht!“ der Eltern gebe dazu noch soziale Anerkennung.
5. Sinnvoll belohnen
Von Belohnungen wie Geld oder Geschenken für gute Noten hält Henning Beck gar nichts. „Man bringt Menschen nicht dazu, bessere geistige Leistungen zu bringen, indem man sie belohnt.“ Wer für eine Eins im Mathetest 20 Euro in Aussicht gestellt bekomme, für den werde die Mathearbeit zu einem sehr anstrengenden Weg, 20 Euro zu verdienen. Ob man die Mathematik dahinter gelernt und verstanden habe – das sei dann völlig egal. Man könne die Anstrengung des Kindes aber durchaus mal mit einem schönen gemeinsamen Erlebnis würdigen – allerdings ohne Ankündigung und wohldosiert. „Es darf keine Erwartungshaltung entstehen.“
Das Handy im Zimmer überfordert den Thalamus – auch wenn es ausgeschaltet ist
6. Ablenkungen rauswerfen
Studien zeigen: Handys im Blickfeld stören die Konzentration sogar dann, wenn der Bildschirm aus oder nicht sichtbar ist. „Das Handy beim Lernen auszuschalten reicht nicht“, sagt auch Henning Beck. „Es muss aus dem Zimmer.“ Alles andere überfordere den Thalamus, der nach Ablenkung giert. Man könne ihn jedoch trainieren, indem man bestimmte Zeiten einführt, in denen das Handy genutzt wird, und andere, in denen es rigoros wegkommt. „Wenn man es immer nur ein bisschen nutzt, ist es sehr schwer, ihm zu widerstehen“, erklärt Beck. „Das ist wie beim Essen: lieber einmal richtig satt essen als immer nur Häppchen.“
7. Pausen machen
Konzentriertes Arbeiten braucht Pausen. „Nach 45 bis 60 Minuten ist unser Zwischenspeicher voll, dann lassen wir uns leichter ablenken“, erklärt Beck. Besser, man schiebt vorher eine Pause ein. Wenige Minuten reichen, um das Gelernte zu verdauen. Wichtig dabei: jetzt nicht Nachrichten etc. checken. Das überfordert das Gehirn. Lieber zwei Minuten die Beine vertreten und die Gedanken schweifen lassen.
8. Zeitprotokoll führen
Um die Zeit, die man für ein Referat oder eine Klausurvorbereitung braucht, in Zukunft besser einschätzen zu können, empfiehlt Henning Beck, ganz genau aufzuschreiben, wie lange man dafür gebraucht hat. So kann man seine fehlerhafte Zeiteinschätzung überlisten.
9. Den Feind zum Freund machen
Ganz so garstig, wie es auf den ersten Blick scheint, ist der innere Schweinehund gar nicht. Er hat auch nette Seiten. Immerhin hilft er uns dabei, unsere Bedürfnisse wahrzunehmen und das Leben zu genießen. Ist ja auch wichtig. Denn zu viel Selbstkontrolle kann auch ungesund werden. Oder, wie Henning Beck es formuliert: „Ein gesundes Maß an Faulheit ist wichtig, um sich wieder aufzuladen und nicht zu sehr einer Kontrolle zu unterwerfen.“
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