„Eine Trennung ist immer eine Krisensituation für die Familie“, betont Anja Steinbach. Die Professorin für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen erforscht, wie Familien ihren Alltag nach einer Trennung organisieren – und wie zufrieden sie mit ihrer Lösung sind. Ein Team um sie und den Marburger Rechtswissenschaftler Tobias Helms hat dazu 1233 Trennungsfamilien befragt. „Das gemeinsame Problem dieser Familien ist, unter den Bedingungen einer Trennung die bestmögliche Art und Weise des Umgangs zu finden“, sagt Steinbach. „Und das kann nach unseren Ergebnissen für viele auch das Wechselmodell sein.“
Die Vorteile des Wechselmodells
Tatsächlich klingt das Wechselmodell zunächst nach einer guten Lösung. Dabei wohnt das Kind nach der Trennung abwechselnd beim einen und beim anderen Elternteil. Das hat wichtige Vorteile:
- Das Kind muss sich nicht entscheiden, bei wem es zukünftig bleibt.
- Es hat weiterhin alltäglichen Kontakt zu beiden Elternteilen.
- Auf diese Weise verkraften viele Kinder die Trennung der Eltern besser.
- Die Eltern wiederum teilen sich die Erziehunglast.
- Durch die jeweiligen Betreuungspausen gibt es oft weniger Konflikte mit dem Kind.
- Und beide Eltern haben Zeit für sich, für andere Kontakte und ihren Beruf.
Ein Gewinn für alle Seiten – oder? Nun, dieser Meinung sind offenbar nur wenige Ex-Paare. Gerade einmal fünf Prozent der Trennungsfamilien in Deutschland praktizieren Erhebungen zufolge ein Wechselmodell. Die übergroße Mehrheit der Trennungskinder lebt hingegen bei der Mutter (sehr wenige beim Vater) und besucht das andere Elternteil ungefähr jedes zweite Wochenende und die halben Ferien – so sieht das klassische Residenzmodell aus.
Die Nachteile des Wechselmodells
Die meisten Eltern entscheiden sich nach einer Trennung also gegen ein Wechselmodell. Dafür gibt es trotz der genannten Vorteile einige Gründe. So hat das Modell ganz praktische Nachteile:
- Das Wechselmodell setzt in der Regel eine räumliche Nähe der beiden Wohnungen der Eltern voraus, damit das Kind seine Schule oder Kita erreichen und Freundschaften erhalten kann. Die Eltern sind also an einen Wohnort gebunden.
- Zudem müssen beide Haushalte fürs Kind ausgestattet sein: Vom Schreibtisch bis zum Kinderzimmer, von der Kleidung bis zu Ersatzpatronen für den Füller muss vieles zweimal vorhanden sein. Das ist teuer: „50 Prozent Kind bedeutet 75 Prozent der Kosten“, schätzen Experten laut Soziologin Steinbach.
Weil beide Ex-Partner zeitweise allein fürs Kind verantwortlich sind, erfordert das Wechselmodell von den Eltern zudem mehr Kommunikation und Vertrauen als das Residenzmodell. Daraus folgen beziehungstechnische Nachteile:
- Beide Eltern müssen willens und in der Lage sein, den Alltag für das Kind angemessen und zum Wohl des Kindes zu organisieren und zu gestalten.
- Beide brauchen ein Mindestmaß an Vertrauen, dass das der jeweils anderen Seite gelingt.
- Private und schulische Termine des Kindes müssen abgesprochen und eingehalten werden.
- Das gleiche gilt für kindbezogene Termine und Aufgaben der Eltern wie Behördengänge oder Elternabende.
- Oft müssen dafür auch Dokumente oder andere Dinge übergeben und erklärt werden.
- Und schließlich sollten die Eltern einander auch über wichtige Neuigkeiten und Probleme im Alltag, der Kita oder der Schule informieren.
Auch für die Kinder selbst ist das Wechselmodell nicht immer einfach – schließlich sind sie es, die zwischen zwei Wohnorten hin und her pendeln und oft auch Nachrichten und Informationen zwischen ihren Elternteilen überbringen müssen. Und so hat das Wechselmodell auch Nachteile für die Kinder:
- Das Pendeln zwischen den Wohnorten kann anstrengend und nervig sein.
- Besondere persönliche Dinge wie Kuscheltiere, Lieblingskleidung oder der Schulranzen müssen jedes Mal mitgenommen werden.
- Oft fehlt dann doch am einen Ort etwas, das am anderen vorhanden wäre.
- Der Weg zur Kita, Schule oder zu Freunden kann unterschiedlich lang sein, was den entfernteren Wohnort weniger attraktiv macht.
- Wenn die Eltern nicht direkt miteinander kommunizieren, sind Kinder oft die Boten für Nachrichten und Informationen – was viele überfordert.
Diese lange Liste ist der Grund dafür, dass das Wechselmodell von vielen Eltern und Fachleuten kritisch betrachtet wird. Trotzdem: „Wir können in unserer Studie zeigen, dass weder die Kinder noch die Eltern unter diesem Modell leiden“, sagt Anja Steinbach. Im Gegenteil, in ihrer Erhebung zu Familienmodellen in Deutschland („FAMOD“) äußern sich nicht nur die Kinder in Wechselmodellen, sondern auch deren Eltern etwas zufriedener als im Residenzmodell lebende Familien.
Auch das Residenzmodell hat Nachteile
Das ist insofern bedeutsam, als Familiengerichte seit 2017 auch gegen den Willen eines Elternteils ein Wechselmodell anordnen können, wenn sie glauben, dass das dem Kindeswohl entspricht. Denn auch das Residenzmodell hat Nachteile – und die wiegen ebenfalls schwer. Vor allem ist es für Kinder schwierig, zu dem Elternteil eine enge Beziehung aufzubauen oder zu erhalten, das sie nur an jedem zweiten Wochenende sehen. Den Alltag gemeinsam zu erleben, ist für eine sichere Bindung enorm wichtig.
Wochenendpapas belasten die kurze Zeit mit ihrem Kind ungern durch Hausaufgaben
Gleichzeitig liegt bei diesem Modell die ganze Erziehungslast beim hauptbetreuenden Elternteil – also meistens der Mutter. Wochenendpapas haben selten Lust, die kurze Zeit mit ihrem Kind durch Erziehungsstreit und Hausaufgaben zu belasten. Das bleibt dann am Montag für Mama übrig. Und mit einer Berufstätigkeit ist die Rolle der Hauptbetreuerin ohnehin nur schwierig zu vereinbaren.
Außerdem gelten viele Nachteile des Wechselmodells genauso für das Residenzmodell: Zum Beispiel müssen sich die Eltern auch hier regelmäßig über Termine abstimmen und – solange sie das gemeinsame Sorgerecht haben – wichtige Entscheidungen gemeinsam fällen. Kuscheltier und Kleidung braucht das Kind auch beim Wochenendbesuch, und wenn es danach direkt in die Schule geht, kommt auch der Schulranzen mit. All das gilt umso mehr, wenn ein erweiterter Umgang vereinbart ist und das Kind zusätzlich zu Wochenenden und Ferien zum Beispiel einen festen Tag pro Woche zum weniger betreuenden Elternteil geht.
Newsletter
Interessieren Sie sich für Themen wie dieses? Mit dem Magazin-SCHULE-Newsletter informieren wir Sie einmal im Monat über die besten neuen Artikel, aktuelle Aktionen und Tipps der Redaktion. Und wenn Sie keine Lust mehr haben, können Sie den Newsletter jederzeit mit einem Klick wieder abbestellen. Versprochen. Jetzt anmelden:
Viele Kinder wechseln im Residenzmodell sogar häufiger
Je nach konkreter Ausgestaltung können Kinder dadurch im Residenzmodell sogar mehr zwischen den Eltern unterwegs sein als beim Wechselmodell. „Im klassischen Wechselmodell wechseln die Kinder einmal die Woche“, erklärt Anja Steinbach. „Das ist dann beim erweiterten Umgang im Residenzmodell schon häufiger. Und wenn die Kinder älter werden, gibt es im Wechselmodell teilweise auch Zwei-Wochen-Rhythmen oder monatliche – dann wechseln die Kinder tatsächlich relativ selten.“
Anja Steinbach ist Professorin für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. Das Projekt „Familienmodelle in Deutschland“ leitet sie gemeinsam mit Tobias Helms, Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Philipps Universität Marburg
Ohnehin sehe sie eine große Vielfalt an Varianten beim Wechselmodell, sagt die Soziologin: Von täglichen bis zu jährlichen Wechseln hätten sie in der Studie fast alles gefunden. Hinzu kommt, dass längst nicht alle Eltern sich die Zeit mit den Kindern genau hälftig aufteilen: Viele Familien praktizieren ein so genanntes asymmetrisches oder unechtes Wechselmodell, bei dem ein Elternteil zum Beispiel 70 Prozent und das andere 30 Prozent der Betreuungsarbeit übernimmt.
Asymmetrisches Wechselmodell: benachteiligt, aber beliebt
Genau diese Formen sind es, bei denen Steinbach, Helms und ihre Mitarbeitenden das größte Wohlbefinden unter den Eltern festgestellt haben. Und das, obwohl das asymmetrische Wechselmodell in Deutschland einen weiteren Nachteil hat – zumindest für den etwas weniger betreuenden Elternteil: Nur wenn sich die Ex-Partner die Betreuung exakt 50:50 aufteilen, teilen sie sich auch die Barunterhaltspflicht. Weichen sie wenige Prozent von dieser Quote ab, gelten für die Gerichte die Regeln des Residenzmodells mit erweitertem Umgang. Der weniger betreuende Partner ist dann normal unterhaltspflichtig – obwohl er im Extremfall fast den gleichen finanziellen und persönlichen Aufwand hat wie der etwas mehr betreuende.
Derzeit praktizieren das Wechselmodell ganz bestimmte Eltern
Welche Familien leben dann ich solchen Modellen? Und wie kommt es, dass Eltern wie Kinder damit zufriedener sind als in anderen Familien? „Das sind schon ganz bestimmte Eltern“, sagt Professorin Steinbach. „Wir sehen bei ihnen höhere Einkommen und eine höhere Bildung als im Durchschnitt der Eltern. Sie haben weniger Konflikte in Zuge ihrer Trennung, eine größere Verbundenheit und eine größere Kindzentriertheit. Zudem wohnen sie meistens relativ nah beieinander. All diese Merkmale tragen dazu bei, dass es den Eltern und vor allem den Kindern relativ gut geht.“
Und noch etwas beeinflusst die Ergebnisse der FAMOD-Befragung: Antworten haben die Forschenden vor allem von den Hauptbetreuenden, also meist den Müttern, bekommen. Und diese profitieren eindeutig von einem asymmetrischen Wechselmodell: Die Unterhaltsleistungen des Ex-Partners bleiben (fast) gleich, aber die Frauen können einen Teil der Betreuungslast abgeben und haben mehr Freiraum als im üblichen Residenzmodell. Auch Erwerbstätigkeit ist auf diese Weise einfacher.
„Aber auch die nichthälftig betreuenden Väter profitieren vom Wechselmodell“, weiß Anja Steinbach aus Befragungen, die sie und andere Forschende geführt haben. „Sie können ihre Elternrolle kontinuierlich ausbilden und empfinden dadurch weniger Verlust im Zuge der Trennung. Sie sind weiterhin in die Kindererziehung involviert, was zu einer besseren Beziehung zum Kind führt. Und sie empfinden dadurch oft weniger Frust und Wut auf ein Rechtssystem, das sie für ungerecht halten.“
Symmetrisches Wechselmodell: Fehlende Flexibilität ist ein Risikofaktor
Gerechter dürften solche Väter das echte Wechselmodell finden: Denn dort wird auch der Barunterhalt geteilt, meist mit einem gewissen Ausgleich bei größeren Einkommensunterschieden. Dennoch sind Familien, die die Kinderbetreuung genau 50:50 aufteilen, weniger zufrieden als jene im asymmetrischen Wechselmodell. Warum?
In Diskussionen mit zahlreichen Müttern, Vätern und Kindern ist Steinbach ein bestimmtes Muster aufgefallen: „Die Eltern, die ein genaues 50:50-Modell leben, machen das oft, weil sie sich nicht gut einigen können. Sie sind nicht flexibel und wollen das exakt festlegen – da wird kein Tag, nicht mal eine Stunde verschoben.“ Diese Eltern sind sehr mit sich und ihren Konflikten beschäftigt – was die Familien belasten kann und die notwendigen Absprachen schwieriger macht. Dennoch äußerten sich auch diese Familien in der „FAMOD“-Studie zumindest genauso zufrieden wie jene im Residenzmodell.
Das Wechselmodell ist eine Option, kein Patentrezept
„Das ist die wichtigste Erkenntnis aus unserer Studie“, resümiert Soziologin Steinbach: „Niemand muss sich fürchten vor dem Wechselmodell. Es hat nicht nur Nachteile, sondern auch viele Vorteile. Und den Familien, die es praktizieren, geht es oft gut damit.“ Sicher sei das Modell aufwändiger, vor allem finanziell, aber auch bei den Absprachen. „Das funktioniert nur dann gut, wenn man noch in der Lage ist, Absprachen zu treffen, ohne sich jedes Mal dabei zu streiten.“ Andererseits seien Absprachen und Übergaben auch beim Residenzmodell notwendig.
Für Trennungsfamilien hat Steinbach daher einen Ratschlag. „Wenn die Trennung stattgefunden hat, sollten Familien versuchen, unvoreingenommen die beste Lösung für ihren speziellen Fall zu finden: Welches Modell ist für uns alle in unserer Situation am besten? Das kann durchaus das Wechselmodell sein. Aber das muss es nicht.“
Fotos: Freepik; Fotostudio eNJay