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Berufswahl: „Begabung ist wichtiger als Interesse“

Viele Schülerinnen und Schüler fühlen sich von der Berufswahl überfordert – auch weil es noch nie so viele unterschiedliche Möglichkeiten gab wie heute. Wie sie trotzdem die passende Richtung einschlagen, erklärt der Psychologe Aljoscha Neubauer


Aljoscha Neubauer, was raten Sie Schülern, die sich mit der Berufswahl schwertun?

Schaut erst einmal, was ihr wirklich könnt. Wenn ihr das wisst, dann überlegt, welcher dazu passende Beruf euch interessieren könnte.

Interesse ist also weniger wichtig als ­Begabung? Bringt es nicht erst die nötige Motivation für den Erfolg?

Das Interesse ist natürlich auch wichtig, aber tatsächlich zweitrangig. Denn ob man beruflich erfolgreich ist, hängt nachweislich eher davon ab, ob man die nötige Begabung mitbringt. Das entspricht nicht der landläufigen Vorstellung. Aber wenn ich einen Beruf erlerne, nur weil er mich interessiert, ich aber nicht dafür geeignet bin, besteht die Gefahr, dass ich überfordert, gestresst und unzufrieden werde. Dann lässt auch das Interesse schnell nach.

Nicht jeder möchte eine steile Karriere ­machen. Sind manche Menschen nicht mit weniger Erfolg in einem interessanten ­Beruf vielleicht glücklicher?

Eltern und Freunde können auch völlig ­danebenliegen

Man macht sich das Leben leichter, wenn man etwas tut, was einem gut von der Hand geht. Andernfalls muss man das Weniger an Begabung durch ein Mehr an Fleiß und Selbstdiszi­plin ausgleichen. Selbst wenn man keine große Karriere anstrebt, kann man mit Begabung bei gleichem Aufwand mehr erreichen. Außerdem lassen sich Jugendliche in ihren Interessen stark von der Umwelt beeinflussen, vor allem von Eltern und Freunden. Beide können wichtige Informations­quellen sein. Sie können aber auch völlig ­danebenliegen, wenn sie etwa eigene Motive verfolgen.

„Das Kind soll einen angesehenen Beruf haben.“

Ja, oder die Eltern wünschen sich für ihr Kind das, was sie selbst machen oder gerne erreicht hätten. Da muss man sich als Eltern manchmal zurückhalten, um sein Kind nicht auf einen falschen Weg zu schicken.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich erinnere mich an den Fall einer jungen Frau, die Germanistik und Romanistik studierte, um Lehrerin zu werden – wie ihre Eltern. Auch ­viele ihrer Freundinnen trafen eine ähn­liche Berufswahl. Im Studium merkte sie aber, dass sie sich immer weniger für ihre Fächer interessierte. Sie verlor immer mehr die Lust am Studieren.

Was ist aus ihr geworden?

Eignungstests bei einer niedergelassenen Psychologin ergaben später, dass ihre sprachliche Begabung nur knapp durchschnittlich war. Sie war im mathematischen und räumlichen Bereich hochbegabt, hatte außerdem eine Persönlichkeit mit hohem Leistungsstreben, Kompetenz und Selbstdisziplin. Sie studierte schließlich mit viel Erfolg Physik und Mathematik und bekam eine Zusage für eine Doktorandenstelle an einer renommierten US-amerikanischen Universität.

Was kann noch ein Stolperstein bei der Berufswahl sein?

Interessen ändern sich im Laufe des Lebens – im Gegensatz zu Begabungen

Starre Vorstellungen darüber, was ein Frauen- oder Männerberuf ist, können ebenfalls in die Irre führen. Menschen geben ihren wirklichen Begabungen auch oft deshalb keine Chance, weil sie ganz genau zu wissen glauben, was sie interessiert. Da kann es helfen, den Blick für Berufe zu öffnen, die man bisher nicht in Betracht gezogen hat. Außerdem können sich Interessen im Laufe des Lebens immer mal wieder ­ändern – im Gegensatz zu Begabungen, die mit dem Ende der Jugend relativ stabil bleiben.

Interessiert man sich nicht automatisch für das, was man am besten kann?

Leider nein. Große Studien haben gezeigt, dass es nur geringe Zusammenhänge zwischen Interessen und Begabungen gibt. Es ist eher so, dass wir uns für das interessieren, von dem wir glauben, dass wir dafür geeignet sind. Aber da können wir auch völlig falsch liegen.

Die Schüler haben doch schon einige Jahre Schule hinter sich. Weiß man da nicht in etwa, wo die eigenen Stärken liegen?

Nicht unbedingt. An der Uni Graz haben wir eine Studie dazu gemacht. Sie zeigt, dass sich Schüler zwar im mathematischen Bereich sehr gut einschätzen können. Bei den sprachlichen Fähigkeiten und dem räumlichen Vorstellungsvermögen geht die Trefferquote aber gegen null.

Woran liegt das?

Anders als in Mathe spiegeln die Noten in sprachlichen Fächern nicht unbedingt nur die sprachliche Begabung wider. Und räumliche Fähigkeiten spielen in der Schule kaum eine Rolle. Außerdem gilt es heute zum Teil fast als chic, schlecht in Mathe zu sein. Als wenig sprachbegabt möchte aber kaum jemand gelten.

Man überschätzt sich also?

Aljoscha Neubauer - Magazin SCHULE
Aljoscha Neubauer ist Leiter des Fachbereichs Differentielle Psychologie an der Universität Graz und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychologie. Seit 35 Jahren erforscht er individuelle Unterschiede in kognitiven, sozialen und kreativen Begabungen und ihre Grundlagen im Gehirn: aljoscha-neubauer.com

Ja, wir neigen generell eher zur Selbstüberschätzung – vor allem da, wo wir besonders schwach sind. Für die menschliche Psyche ist es wichtig, ein stabiles Selbstbild aufrechtzuerhalten. Wie unsere Studie gezeigt hat, wirkt dieses Phänomen bei Jugendlichen sogar noch stärker.

Mit der Gefahr, dass sie sich für den falschen Beruf interessieren?

Genau. Bei der wissenschaftlichen Betreuung eines Talente-Checks hatten wir einen jungen Mann, der sich sehr für Autos interessierte. Er hatte eine Ausbildung als Kfz-Mechaniker begonnen, war aber mehrmals aus der Lehre geflogen. In den Tests zeigte sich dann, warum: Er hatte nur eine sehr ­schlechte räumliche Vorstellungskraft, die aber für einen Mechaniker ganz wichtig ist. In der Berufsberatung fand er seine tatsächlichen Stärken heraus: eine hohe sprachliche Begabung und ein extrovertiertes Temperament. Aus ihm wurde ein guter und zufriedener Autoverkäufer.

Schätzen wir auch unsere Persönlichkeit falsch ein?

Es kommt auf den Bereich an. Während wir ein ganz gutes Gefühl dafür haben, wie extrovertiert und emotional stabil wir sind, schätzen wir unsere Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit oft falsch ein. Auch wenn der Charakter weniger Einfluss auf den beruflichen Erfolg hat als die Begabung, spielt er für die Berufswahl eine wichtige Rolle.

Klar, wer wenig gewissenhaft arbeitet, sollte nicht Buchhalter werden.

Idealerweise sollte man seine Begabungen, Persönlichkeit und Interessen kennen

Genau. Und Führungskräfte nicht zu verträglich. Sonst können sie sich nicht durchsetzen. Idealerweise sollte man also seine Begabungen, seine Persönlichkeit und Interessen kennen und versuchen, den Beruf zu finden, bei dem möglichst alle drei Bereiche im Einklang mit den Anforderungen sind.

Wie können Jugendliche herausfinden, was sie wirklich können und wollen?

Viele Schulen bieten Kompetenzermittlungen an oder vermitteln betreute Praktika. Das alles hilft, die eigenen Fähigkeiten kennenzulernen und herauszufinden, welcher Beruf zu einem passt.

Worauf muss man dabei achten?

Idealerweise sollte der Berufsberater ein Psychologe sein, damit er mögliche Konflikte zwischen Eignungen und Neigungen herausfinden und aufarbeiten kann. Zusätzlich zu den psychologischen Tests zu Begabung, Interessen und Persönlichkeit sollte unbedingt auch ein Beratungsgespräch geführt werden – gerade dann, wenn sich Interesse und Begabung widersprechen.

Schüler sollten also vor der Berufswahl einen Intelligenztest machen?

Aljoscha Neubauer: "Mach, was du kannst" - Buch – Magazin SCHULE
Noch mehr Ratschläge für die Berufswahl gibt Aljoscha Neubauer in seinem Buch „Mach, was du kannst. Warum wir unseren Begabungen folgen sollten – und nicht nur unseren Interessen“. Deutsche Verlags-Anstalt, 20 Euro

Das wäre durchaus sinnvoll. Dabei kann natürlich herauskommen, dass ein Gymnasiast eher für eine praktische Berufsausbildung geeignet wäre. Es drängen ja immer mehr Kinder aufs Gymnasium. Umgekehrt gibt es in manchen Berufen zu wenige Lehrlinge. Viele Eltern haben den Anspruch, ihr Kind müsse unbedingt studieren. Dabei kann man unter Umständen mit einer Berufsausbildung eine bessere Karriere machen als mit manchem Studium.

Wie können Schüler noch herausfinden, welcher Beruf zu ihnen passt?

Ich empfehle, möglichst viele Menschen aus dem eigenen Umfeld zu fragen: Bin ich für diesen Beruf geeignet? Am besten geht man dabei vor wie bei den Preisrichtern im Eiskunstlauf: Die höchste und die niedrigste Bewertung werden gestrichen, aus dem Rest wird ein Mittelwert gebildet. Außerdem sollte man schon in der Schulzeit so viel wie möglich ausprobieren: Berufsmessen, Praktika, Auslandsaufenthalte, Probevorlesungen an der Uni. Das alles kann helfen, sich selbst und die Berufswelt besser kennenzulernen.

 

Berufswahl: „Begabung ist wichtiger als Interesse“ – Fotos: Christian Wind



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