16. September
Heute habe ich mit Ben wieder einmal die Regeln für die Nachhilfe besprochen. Dass wir fest verabredet sind, zum Beispiel. Und er zu den verabredeten Zeiten zu Hause zu sein hat, damit ich nicht wie neulich unverrichteter Dinge wieder gehen muss. Klingt komisch, aber ich muss ihm solche Dinge von Grund auf erklären. Immerhin hat er das, so denke ich, jetzt verstanden. Wir haben auch darüber geredet, dass es gut wäre, wenn er selbst sagt, woran er gern arbeiten würde und wo er seine Schwächen sieht. Bisher nennt er nur die Rechtschreibung, aber da sind wir ja schon seit einiger Zeit dran. Insgesamt ist er immer noch ziemlich verschlossen.
Jung und doch erfahren
Die Nachhilfelehrerin, die uns in ihr Tagebuch hat schauen lassen, ist Ende 20, lebt in einer deutschen Großstadt und unterrichtet seit mehr als 12 Jahren Nachhilfeschüler. Sie studiert Deutsch und Französisch auf Lehramt und absolviert derzeit ihr Referendariat.
22. September
Heute hatte ich das erste Gespräch mit der 15-jährigen Lisa und ihrer Mutter. Dieses gemeinsame Kennenlernen ist immer aufschlussreich, um zu sehen, wie sich die Schüler selbst sehen und was die Perspektive der Eltern ist. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. „Die ist einfach zu doof für Mathe“, hat Lisas Mutter über ihre Tochter gesagt – während das Mädchen danebensaß. Da war ich echt sprachlos. Wie soll denn ein Kind gut in Mathe sein, wenn die Mutter ihm einredet, dass es zu blöd dafür sei?
2. Oktober
Zu Sandy habe ich immer noch keinen richtigen Draht. Sie ist 16 , erscheint pünktlich zu jeder Englisch-Nachhilfestunde, und sie ist auch freundlich. Aber sie wirkt völlig desinteressiert. Heute habe ich sie gebeten, sich eine Geschichte auszudenken, in der die Schauspielerin und Sängerin Miley Cyrus vorkommt, also eine Figur, für die sie sich interessiert. Sie war völlig überfordert, ihr ist einfach nichts eingefallen. Übungen hingegen, bei denen sie nicht kreativ sein muss und eine genaue Anleitung bekommt, funktionieren einigermaßen. Trotzdem habe ich inzwischen nur noch wenig Hoffnung, dass ich ihr in Englisch helfen kann.
31. Oktober
Mit Bens Deutsch-Noten geht es auf und ab. Gerade hat er wieder eine Fünf geschrieben. Da frage ich mich schon, wie sinnvoll das ist, was wir machen.
12. November
Lisa ist immer noch sehr verschüchtert und spricht kaum mit mir. Sie traut sich wenig zu, schon gar nicht in Mathe. Also versuche ich, ihr Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Ich erkläre betont langsam die Aufgabe, lasse sie wiederholen, um sicherzugehen, dass sie den Arbeitsauftrag verstanden hat. Und dann üben wir – immer wieder. So oft, bis sie wirklich merkt: Okay, ich kann es nicht nur bei der ersten, sondern auch bei der zweiten, der dritten und der vierten Aufgabe. Jetzt muss sie diese Sicherheit, dass sie es wirklich verstanden hat, nur noch in die Klassenarbeit tragen.
15. Dezember
Ben hat mir heute erzählt, was seine Mutter zu ihm sagt, wenn er mal wieder eine schlechte Note nach Hause bringt: „Wenn du so weitermachst, wirst du bei Hartz IV landen.“ Das setzt den Zehntklässler natürlich ganz schön unter Druck. Zumal ich inzwischen glaube, dass seine Rechtschreibschwierigkeiten das kleinere Problem sind. Ihm fehlen vor allem Zuspruch und Selbstvertrauen. Jemand, der an ihn glaubt, der ihm sagt: Du schaffst das.
19. Dezember
Heute habe ich mit Sandy wieder das „Simple Past“ durchgenommen. Ich weiß nicht, zum wievielten Male. Sie merkt es sich einfach nicht. Vielleicht liegt es ja an mir, aber ich erkläre es immer wieder anders, mache Übungen mit ihr . . . Und in der nächsten Stunde fangen wir wieder komplett von vorn an. Ich weiß einfach nicht, was ich noch tun soll.
18. Januar
Die Fragen, die mir Ben neuerdings stellt, haben wenig mit Deutsch zu tun – und machen mich trotzdem sehr froh. Er will ganz viel wissen, und ich sehe dadurch, was für ein Potenzial in ihm steckt. Es sind Fragen über Gott und die Welt – buchstäblich: Wie ist das in der Bibel, ich habe da dieses und jenes gehört. Oder: Was ist dran an Nazi-Parolen? Heute hat er mir begeistert von seiner Klassenfahrt nach Polen erzählt. Über dieses Thema habe ich ihn dann ein Diktat schreiben lassen, was ihm Spaß gemacht hat. Manchmal fühlt sich unsere gemeinsame Zeit fast schon nach einer Therapiestunde an. Insbesondere, wenn er mir von seinen Problemen berichtet. Und sich Dinge von der Seele redet, über die er mit seiner Mutter offenbar nicht sprechen kann. Ich glaube, er hat erkannt, dass er mir vertrauen kann.
4. Februar
Vielleicht habe ich einen Weg gefunden, wie ich Sandy helfen kann. Ich drehe den Spieß jetzt öfter um und lasse sie mir Dinge erklären – sie als Lehrerin und ich als begriffsstutzige Schülerin. Ich kam darauf, weil sie mir erzählt hat, dass einige Jungs in ihrer Klasse blöde Sprüche machen und lachen, wenn sie eine falsche Antwort gibt. Also beantwortet sie Lehrerfragen lieber gar nicht, wie auch bei mir in der Nachhilfe. Mal schauen, ob wir durch den Rollentausch besser an der Grammatik arbeiten können als bisher.
26. Februar
Lisa hat in der letzten Mathe-Arbeit tatsächlich eine Zwei geschrieben! Das ist einerseits erstaunlich, weil sie zu Beginn des Schuljahres auf fünf stand. Andererseits war in ihrem Fall das Problem so eindeutig erkennbar, dass man leicht daran arbeiten konnte. Mich würde schon interessieren, wie ihre Mutter darauf reagiert hat . . .
1. März
Eine schlechte Nachricht: Sandy kommt nicht mehr zur Englisch-Nachhilfe. Und sie wird auch nicht zu den Prüfungen für den mittleren Schulabschluss antreten, sondern stattdessen die Schule wechseln. Das ist schon sehr traurig. Und auch sehr unbefriedigend, dass ich ihr nicht helfen konnte. Aber das muss ich wohl akzeptieren.
21. Juni
Heute habe ich einen Anruf von Ben bekommen: Er hat den besten Realschulabschluss seiner Schule gemacht! Wahnsinn! Irgendwie scheint der Funke doch übergesprungen zu sein. Dass er mich extra anruft, um mir davon zu erzählen, ist schon toll. Ich bin jedenfalls richtig stolz auf ihn – und er auch auf sich.
Alle Namen wurden geändert.