Jedes Jahr stellen sich wieder 700 000 Erstklässler einer Aufgabe, die ein komplexes Zusammenspiel aus Fein- und Grobmotorik darstellt, ihr Gehirn intensiv fordert und sie der Welt der Erwachsenen näherbringt: Sie lernen schreiben. Manche schneller, andere langsamer, die meisten mit Freude, einige mit Mühe.
Das Ziel ist klar: Die Kinder sollen eine flüssige und gut lesbare Handschrift entwickeln. Aber wie sie dieses Ziel am besten erreichen, darüber streiten sich Experten seit vielen Jahren. Auf Einladung des Schreibgeräte-Herstellers Lamy haben nun sieben Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen über die Zukunft der Handschrift diskutiert.
Momentan lernen deutsche Grundschüler in der Regel nacheinander zwei Schriften: Als Erstklässler beginnen sie zunächst mit der Druckschrift, die sie schon aus Kinderbüchern und von der Milchpackung kennen. Im nächsten Schritt lernt die Mehrheit eine Schreibschrift – die Lateinische Ausgangsschrift, die Schulausgangsschrift oder die Vereinfachte Ausgangsschrift (s. Tabelle unten). Diese Schriften unterscheiden sich durch die Form der Buchstaben, die Proportionen, durch Schwünge und Deckstriche. Welche Schreibschrift unterrichtet wird, hängt vom Bundesland, der Schule, manchmal bloß vom Lehrer ab. Schriftarten für Anfänger: Vier Schriften sind in Deutschland verbreitet. Die über 60 Jahre alte Lateinische Ausgangsschrift ist noch immer an vielen Schulen Standard. In der DDR wurde meist die Schulausgangsschrift unterrichtet, seit der Wende auch in einigen West-Bundesländern. 1972 kam die Vereinfachte Ausgangsschrift hinzu, die sich optisch der Druckschrift näherte. Die Grundschrift geht dabei noch einen Schritt weiter.Handschrift ade?
Dieses Durcheinander versucht nun der Grundschulverband zu beenden – indem er vehement die Einführung einer weiteren Schrift propagiert: Die sogenannte Grundschrift soll das zweistufige Schreibenlernen überflüssig machen und von Anfang an als einzige Schrift gelehrt werden. Dabei handelt es sich um eine nur leicht abgewandelte Druckschrift, in der die einzelnen Buchstaben weitgehend frei verbunden werden können, aber nicht müssen.
Als erstes Bundesland stellte Hamburg 2011 seinen Grundschulen frei, die neue Schrift zu unterrichten; andere Bundesländer testen ihren Einsatz an einzelnen Schulen. Weil in fast allen der Lehrplan eine verbundene Ausgangsschrift vorsieht, ist eine flächendeckende Einführung der Grundschrift noch in weiter Ferne. Trotzdem war die Aufregung nach dem Hamburger Schritt bundesweit groß. Ein Kulturgut gehe verloren, hieß es oft, der Verfall der Handschrift werde so noch beschleunigt.
Und jetzt verkündet sogar der ewige Pisa-Sieger Finnland, noch einen Schritt weiter zu gehen: Ab 2016 müssen Schüler dort gar keine Schreibschrift mehr erlernen. Die freiwerdende Unterrichtszeit soll statt dessen darauf verwendet werden, frühzeitig auf Tablet- und Computertastaturen tippen zu lernen.
Der Untergang der Handschrift? Guido Nottbusch, Professor für Grundschulpädagogik an der Universität Potsdam, wundert sich über die massive Kritik. Für ihn haben die heutigen Schreibschriften aus motorischer Sicht klare Nachteile. Anhand von Bewegungsprofilen hat er untersucht, wie stark Kinder beim Schreiben aufs Papier drücken. Diese Bewegungsprofile zeigten, dass bei verbundenen Schriften, die in einem Zug geschrieben werden, der Stift gegen Ende des Wortes immer stärker aufs Papier gedrückt wird. Dadurch seien Muskeln und Gelenke stärker angespannt und weniger gut durchblutet, was die Gefahr von Verkrampfungen erhöhe. „Deswegen ist es günstig, wenn die Schüler beim Schreiben die Gelegenheit haben, den Stift zwischendurch abzusetzen.“
Etwa 20 Prozent der Schüler hätten mit dem Schreibenlernen Schwierigkeiten. Ihnen könne eine möglichst einfache Schrift helfen, sagt Nottbusch. Er verweist dabei auf die begrenzte kognitive Aufmerksamkeitsspanne: Schwache Schreiber konzentrierten sich stark auf die Buchstaben und ihre Form, aber zu wenig auf das Wort als Ganzes.
Kristina Kroll, die seit sieben Jahren an einer Grundschule in Rheinland-Pfalz unterrichtet, macht bei ihren Schülern ähnliche Erfahrungen. „Gerade schwache Kinder machen in der Schreibschrift anfangs mehr Fehler, weil wir ihnen die mühsam gewonnene Sicherheit der Druckschrift wieder nehmen“, sagt sie. „Plötzlich sollen sie alles wieder anders schreiben. Wir werfen sie in ihrer Schreibentwicklung quasi zurück an den Anfang.“
Schreibschrift hat etwas Meditatives.Kristina Kroll, Grundschullehrerin
Weil schwache Schüler das nur schwer kompensieren könnten, lässt Kroll sie – nach Rücksprache mit den Eltern – weiter in Druckschrift schreiben. Drei ihrer derzeit 18 Zweitklässler ersparen sich so den Zwischenschritt. Andererseits beobachtet sie, dass viele Kinder unbedingt die Schreibschrift lernen wollen – weil so „die Großen“ schreiben. Die Druckschrift werde als Mittel zum Zweck wahrgenommen, „und wenn wir die Schwünge üben, hat das fast schon etwas Meditatives“, erzählt Kroll.
Gerade jüngere Grundschullehrer haben oft eine pragmatische Haltung zur Diskussion um die richtige Schrift. Wichtig sei doch schließlich vor allem, dass die Kinder eine lesbare Schrift entwickelten. Und nur noch eine Schrift zu unterrichten, bedeutet auch, Zeit zu sparen.
Wolfgang Steinig, Germanistikprofessor an der Uni Siegen, findet es hingegen bedauerlich, dass „immer nur Funktion und Schnelligkeit im Fokus stehen“. Aus seiner Sicht sprechen handfeste Gründe dafür, eine schöne Schrift zu kultivieren. So sei „ein ästhetisch ansprechendes Schriftbild Ausdruck einer Wertschätzung von Schrift, die auch dazu führt, dass man möglichst korrekt schreibt“. Die Handschrift als Forschungsobjekt: Sieben Experten aus unterschiedlichen Disziplinen diskutierten beim Forum „Schreiben lernen heute“ von Lamy und dem Magazin SCHULE über die Zukunft der Handschrift. Wie lernt man richtig schreiben? Was bedeutet das Schreiben für Orthografie und Spracherwerb? Die Fragen, Erkenntnisse und Streitpunkte aus dem Gespräch führen Lamy und das Magazin SCHULE in den nächsten Ausgaben fort. Experten-Rat (v.l.n.r): Ergotherapeut Rainer Wassong, Bewegungswissenschaftlerin Renate Zimmer, Schulleiter Peter Walter, Psychotherapeutin Angela Thamm, Bildungsforscher Guido Nottbusch, Sprachdidaktiker Wolfgang Steinig und Grundschullehrerin Kristina Kroll. Daneben die Veranstalterin Beate Oblau von Lamy und Magazin-SCHULE-Chefredakteur Mathias BrüggemeierSchreiben lernen heute
In einer Langzeitstudie konnte er zeigen, dass zwischen Schriftbild und Fehlerzahl ein enger Zusammenhang besteht. Als Erklärung verweist Steinig auf die Bedeutung der Schreibbewegung: Ähnlich wie beim Schwimmen werde auch bei der Schreibschrift der einmal erlernte Bewegungsablauf so tief gespeichert, dass er immer wieder abrufbar ist – ein wichtiger Automatismus. „Bei nicht verbundenen Schriften haben die Kinder kein Gefühl dafür, wie ein Wort als Ganzes geschrieben wird.“
Bestätigt sieht er sich durch eine kanadischen Studie: Dort testeten Forscher 700 Zweitklässler, die entweder nur Druckschrift, nur Schreibschrift oder erst Druck-, dann Schreibschrift gelernt hatten. Letztere waren orthografisch klar die Schwächsten – und von jenen, die nur eine Schrift gelernt hatten, zeigten die Schreibschrift-Schüler ein besseres Grammatikverständnis.
Wie übertragbar solche Ergebnisse sind, ist umstritten – jedenfalls sagen sie wenig darüber aus, welche Schrift nun genau die richtige ist. So komplex der Prozess des Schreibens an sich ist, so hitzig ist die Diskussion darüber auch. In einem sind sich jedoch fast alle Experten einig: Die Handschrift ist nicht vom Aussterben bedroht. Dafür erfülle sie viel zu wichtige Funktionen, sagt etwa die Psychologin Angela Thamm: „Die Handschrift ist Ausdruck der Persönlichkeit. Sie ist für die Entwicklung der eigenen Identität unverzichtbar.“
Grundschulpädagoge Nottbusch nennt einen anderen einleuchtenden Grund: „Die Handschrift braucht keinen Strom, nicht einmal Werkzeug oder Papier – Sie können ja auch in den Sand schreiben.“ Vielleicht werde die Handschrift an Bedeutung verlieren, aber verloren gehen werde sie nicht. Und mit einem handschriftlichen Liebesbrief kann keine SMS mithalten.
Lesen Sie in der nächsten Online-Ausgabe (4.2.2015):
Der ganze Körper schreibt mit: Wie ein kleiner Stift ein Kind beansprucht – und warum das gut ist