Sehr lässig gaben sich meine Schüler, als ich sie wegen der vielen festgeklebten Kaugummis unter den Schultischen ermahnte: Die seien doch kein Problem, es würden ja schließlich Leute dafür bezahlt, die Schule sauberzumachen. Also besann ich mich auf ein Mittel, das mir schon oft geholfen hatte: den Perspektivwechsel. „Stell dir vor“, sagte ich zu einem besonders coolen Schüler, „deine Mutter wäre Reinigungskraft. Und sie müsste die ausgelutschten Kaugummis deiner Mitschüler mit den Fingern von der Tischplatte kratzen. Wäre das immer noch ok?“ Nein, das war es natürlich nicht. Niemals!
Geheimwaffe Perspektivenwechsel
Der Perspektivenwechsel ist wirklich eine Geheimwaffe. Aus guter eigener Erfahrung ermuntere ich regelmäßig Menschen, die Dinge nicht nur aus dem eigenen Blickwinkel zu sehen, sondern sich auch – so gut es geht – in ihr jeweiliges Gegenüber einzufühlen. Letztendlich geht es dabei um Empathie. Und die führt oft zu erstaunlichen Einsichten – in der Schule ebenso wie anderswo.
Jahrzehntelang hatte ich zum Beispiel eine Doppelrolle als Lehrerin und Mutter. Auch hier durfte ich oft feststellen, dass viele Konflikte zwischen Schule und Elternhaus auf mangelndem Perspektivenwechsel beruhen. Und dass umgekehrt viele Konflikte und Missstimmungen nicht entstehen würden, wenn Eltern und Lehrkräfte bereit wären, sich in die Perspektive des jeweils anderen hineinzuversetzen. Eltern können dann plötzlich spüren, dass die Lehrkraft den Elternbrief nicht geschrieben hat, weil sie gänzlich humorlos ist, Lehrkräfte wiederum, dass sie es nicht zwangsläufig mit verwöhnenden Helicoptereltern zu tun haben, wenn dem Kind der Turnbeutel ausnahmsweise mal hinterhergefahren wird.
Taugt Empathie zur Superkraft?
Aber wie wirksam ist Empathie wirklich? Vor ein paar Jahren besuchte ich eine Weiterbildung zur Leseförderung. Zum „Aufwärmen“ sollten wir nacheinander Fragen beantworten. Ein Teilnehmer hatte die Frage gezogen: „Wenn Sie sich als Superheld eine Wunderkraft wünschen dürften – welche wäre das?“ Seine spontane Antwort war: „Empathie.“ Einfühlungsvermögen als Superkraft – so weit wäre ich dann doch nicht gegangen. Aber die Antwort brachte mich zum Nachdenken.
Superkraft Empathie? Dieser Gedanke brachte die Pädagogin und Autorin Heidemarie Brosche auf die Idee für ein Buch. Sie lässt den Jungen Ben diese Superkraft gewinnen. Als ihm klar wird, dass er die Begleitgedanken seiner Mitmenschen hören kann, ist er erst mal bodenlos enttäuscht: Er wollte doch eine coole Superkraft, er wollte durch Wände gehen oder fliegen können oder wenigstens mit besonders starken Muskeln auftrumpfen. Doch im Laufe der Geschichte lernt er dazu. Er stellt zwar fest, wie anstrengend es ist, sich in andere einzufühlen, denn wer mit anderen Menschen mitfühlt, schlägt sich ja – zusätzlich zu den eigenen – auch noch mit den Gefühlen und Problemen der anderen herum. Aber Ben erkennt die Chancen, die seine Superkraft birgt, und weiß sie zu nutzen …
„Die blödeste Superkraft aller Zeiten“ ist im Hase und Igel Verlag erschienen (6,95 Euro, drei Leselevel, Begleitmaterial für die Klassenlektüre verfügbar)
Tatsächlich fällt es uns immer dann leichter, befremdende Handlungen unserer Mitmenschen zu verstehen, wenn wir ihre Beweggründe kennen. Allerdings existieren diese oft nur in Gedanken. Menschen verkünden nicht: „Dies tue ich, weil ich Angst habe, von den anderen nicht ernst genommen zu werden. Jenes sage ich, weil ich nicht zugeben möchte, dass ich mich schäme. So merkwürdig verhalte ich mich, weil ich glaube, der oder die mag mich nicht, aber das darf keiner wissen.“ Solche Gedanken behalten wir alle lieber für uns – zu peinlich, und wer zeigt schon gerne Schwäche?
Menschen sind soziale Wesen
Dabei würde das in vielen Situationen helfen. Wenn wir wüssten, dass es in unserem Gegenüber ganz anders aussieht als gedacht, könnten wir uns viel besser einfühlen – und hätten wohl mehr Verständnis für dessen Position. In der Folge könnten wir behutsamer kommunizieren, sinnvollere Kompromisse ausloten, uns gegenseitig besser helfen.
Wir Menschen sind nun mal soziale Wesen. Nur wenn wir ein Gespür für die Gefühle der anderen haben, können wir gut miteinander umgehen – privat wie beruflich. Wenn wir uns einfühlen können, sehen wir unsere Mitmenschen weniger negativ, sind nicht so anfällig für Vorurteile und besser in der Lage, Wertschätzung zu empfinden und zu zeigen. Nicht zu vergessen: Nur wer die eigenen Gefühle wahrnehmen und reflektieren kann, kann auch die der anderen nachempfinden!
Kann man Empathie trainieren?
Dank unserer Gene und aller Umwelteinflüsse ticken wir Menschen unterschiedlich – sicher auch in Bezug auf die Fähigkeit, uns in andere einzufühlen. Aber ich bin sicher, dass Empathie fast von Anfang an gefördert werden kann.
Ab ca. 1 ½ Jahren beginnen viele Kinder von selbst, empathisch zu reagieren. Sie leiden mit, sie wollen, dass es ihren Bezugspersonen gutgeht. Wenn Eltern ihre eigenen Gefühle zeigen und mit ihren Kindern von klein auf darüber reden, schaffen sie eine gute Basis für die weitere Entwicklung von Empathie.
Überhaupt ist das Vorbild wichtig: Erleben Kinder immer wieder mit, dass ihre Bezugspersonen sich in andere Menschen einfühlen, bleibt das nicht ohne (positive) Folgen. Auch entsprechende Bilderbücher können Empathie fördern.
Auch Empathie sollte Grenzen haben
Allerdings hat Empathie auch Schattenseiten. Besonders empathische Menschen neigen dazu, sich mit der Innenwelt anderer Menschen auch auf deren Leid einzulassen. Das kann ziemlich herausfordernd sein.
Ich selbst habe als Lehrerin manchmal gespürt, dass meine Empathie auch zu weit gehen kann. So kam es vor, dass eine Schülerin oder ein Schüler sich eindeutig falsch verhalten hatte – und ich trotzdem mitfühlte, weil mir klar war, dass die Person sich aus innerer Not heraus so verhalten hatte. Diese Empathie machte es mir schwer, mit dem Verhalten angemessen umzugehen. Ich hätte am liebsten gesagt: „Ich verstehe dich so gut! Ich verstehe sogar, dass du dich gerade echt unsozial verhalten hast.“ Aber natürlich kann eine Lehrkraft, die eine ganze Gruppe von Individuen unter ihren Fittichen hat, es nicht dabei belassen. Ganz abgesehen davon, dass ich auch die anderen Schülerinnen und Schüler gut verstanden habe, die unter dem besagten unsozialen Verhalten der ersten gelitten hatten.
Immer wieder gibt es auch Situationen, in denen zu starkes Sich-Einfühlen zur großen Belastung wird. Ich empfehle deshalb, auch mal innerlich „Stopp!“ zu sagen. Ist natürlich nicht leicht, kann aber funktionieren – wenn man sich bewusst macht, dass die eigenen Kräfte begrenzt sind und man sie sich deshalb bewusst einteilen muss. Aber natürlich gilt: Wenn durch Empathie etwas zum Guten bewegt werden kann, dann sollte man sich nicht drücken, sondern tun, was man kann!
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Können wir mit Empathie auch danebenliegen?
Ich befürchte allerdings, dass wir in unserer Empathiefähigkeit begrenzt sind, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen. Es kann also sehr wohl passieren, dass wir glauben, uns wunderbar einzufühlen – und in Wirklichkeit komplett danebenliegen.
Es kann sein, dass unser Gegenüber gerade eben nicht zum Trost gedrückt werden möchte. Es kann sein, dass jemand lieber in Ruhe gelassen als zum Herzausschütten gedrängt wird. Und es kann sein, dass ein Mitmensch nicht nur deshalb so unfreundlich war, weil sein Tag verquer begonnen hat – sondern weil er einfach unhöflich ist. Das alles können wir nicht mit Bestimmtheit wissen. Wir sind auf das angewiesen, was wir von unseren eigenen Gefühlen her kennen. Und auf das, was unsere Mitmenschen uns mitteilen.
So wie der Teilnehmer der Leseförderungsweiterbildung. Am Ende hat mich seine spontane Antwort auf die Idee für das Buch „Die blödeste Superkraft aller Zeiten“ gebracht, und selbstverständlich sollte er dafür eine entsprechende Widmung im Buch erhalten. Aber wäre ihm das überhaut recht? Weil ich mir nicht sicher war, ob ich mich richtig in ihn einfühle, habe ich vorher für alle Fälle per Mail nachgefragt. Und er hat Ja gesagt.
„Empathie – eine Superkraft für die Schule“ – Foto: Freepik