Als das Meinungsforschungsinstitut Emnid im Jahr 1954 Eltern in der Bundesrepublik Deutschland nach ihren Erziehungszielen befragte, wollten lediglich 28 Prozent von ihnen ihre Kinder zu „Selbstständigkeit und freiem Willen“ heranziehen. Exakt genauso viele nannten hingegen „Gehorsam und Unterordnung“ als Ziel. Man muss sich also nur mit Menschen unterhalten, die im Nachkriegsdeutschland geboren wurden, um zu erfahren, dass die gesellschaftlichen Normen hierzulande vor nicht allzu langer Zeit ganz anders aussahen.
Gehorsam, Härte, Machtdistanz und Ignorieren der eigenen und der kindlichen Gefühle war damals für viele junge Menschen schlichtweg normal. Das hatte auch mit dem Trauma des Zweiten Weltkriegs zu tun. Vor allem aber war es eine Konsequenz des Kollektivismus, den die Deutschen in der Zeit der Nationalsozialisten und ihrer völkischen Ideale gelebt hatten. Um am Gemeinsamen festhalten zu können, muss eine solche Gesellschaft die Bedürfnisse des Einzelnen unterdrücken. Und dies geht nur über das Autoritäre, denn wenn ein Mensch lernt, dass seine Bedürfnisse wahr sind, dass er eigene Gefühle, Gedanken und Meinungen haben und äußern darf, gefährdet das die absolute Herrschaft der Gemeinschaft.
„Autoritative“ Erziehung gilt heute als sinnvoll – aber nicht überall
Seit den 1950er-Jahren hat sich in Deutschland einiges verändert. Schon zur Wiedervereinigung war die Anhängerschaft von Gehorsam und Unterordnung auf acht Prozent der Eltern geschrumpft, und zwei Drittel wollten ihrem Kind Selbstständigkeit und freien Willen zugestehen. Nach einem Pendelausschlag in die extrem andere Richtung der antiautoritären Erziehung haben sich heute viele Fachleute auf ein Ideal verständigt, das man autoritativen Erziehungsstil nennt. Wertschätzung, Bindung und liebevolle Führung gelten als Voraussetzungen für eine gute Entwicklung des Kindes.
Das bedeutet aber nicht, dass dies überall und für jede Familie gilt. Ein kollektivistisch begründeter, autoritärer Erziehungsstil war und ist noch immer in weiten Teilen der Welt verbreitet und anerkannt. Auch in Deutschland wird er mancherorts noch oft praktiziert. Das gilt gerade für die Familien der Kinder und Jugendlichen, um die es uns in dieser Artikelserie geht und die oftmals von dem gesellschaftlichen Ideal des Landes geprägt sind, in dem ihre Eltern (oder manchmal auch nur die Großeltern) aufgewachsen sind. Nach wie vor wird dort autoritär erzogen, weil das Bild vom Kind eben anders ist: Das Kind steht in jeder Hinsicht weit unter den Erwachsenen. Deshalb spielen Wertschätzung und Bindung eine eher kleine Rolle, und die Führung wird über Druck und Angst vor Strafe sichergestellt.
Ungleichheit ist in manchen Familien regelrecht erwünscht
Welchen Erziehungsstil die Eltern praktizieren, hat große Auswirkungen auf das Verhalten der Kinder. Denn eine autoritäre Erziehung geht normalerweise einher mit einer großen Machtdistanz: Es gilt als grundlegende Tugend, Eltern und älteren Verwandten einen großen Respekt entgegenzubringen. Dahinter steckt der Gedanke, dass Ungleichheit zwischen den Menschen regelrecht erwünscht ist, um auf diese Weise die Hierarchie der Gruppe zu erhalten.
Machtdistanz zeigt sich auch in Tabus: So gilt zum Beispiel das Übereinanderschlagen der Beine in Anwesenheit älterer Menschen für viele Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationsgeschichte als Tabu, als absolut respektlos. Die Älteren aber dürfen die Beine übereinander schlagen – ein Beispiel für erwünschte Ungleichheit. Ein weiteres Tabu: Auch wenn die Eltern wissen, dass ihr Kind raucht, so darf es dies unter keinen Umständen vor den Augen der Eltern tun. Die Eltern wiederum dürfen sehr wohl vor ihren Kindern rauchen.
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Die Kinder übernehmen das Verhalten ihrer Eltern
Dies alles wird vielen Kinder also vorgelebt, sie lernen es am Modell, und es wird ihnen erzieherisch immer wieder eingebläut. Bei vielen älteren Schülerinnen und Schülern lässt sich dann beobachten, wie sie selbst diese Ungleichheit übernehmen und sie auf die Kleineren anwenden. Sie sind jetzt die Großen, die die Kleinen ärgern, beleidigen und ihnen ihre körperliche Überlegenheit vorführen. Sie haben es ja immer wieder erlebt, dass keine Gleichheit herrscht, sondern dass der Status wichtig ist.
Das äußert sich natürlich auch in der Schule, wo solche Verhaltensweisen in Deutschland unerwünscht sind. Und noch mehr: Bei einer geringer Machtdistanz, wie sie hierzulande gelebt wird, erwarten die Lehrkräfte von den Kindern und Jugendlichen Eigeninitiative. Bei großer Machtdistanz aber sollte jede Initiative im Unterricht von der Lehrkraft ausgehen – was viele Eltern mit Migationsgeschichte und niedriger formaler Bildung aus ihrer Schulzeit kennen.
Ein Kind, das man unter Kontrolle hat, bringt keine Schande über die Familie
Eylem Emir erinnert sich: „Ich weiß es aus meiner Jugend noch ganz genau, dass der autoritäre Erziehungsstil sehr angesehen war. Das Kind, das man unter Kontrolle hat, macht das, was die Großen wollen, und bringt keine Schande über die Familie. So erlangt diese Familie Ansehen und Stolz. Kinder, die diesem Erziehungsstil ausgesetzt sind, verhalten sich entweder zurückhaltend, weil sie Angst haben. Oder sie zeigen, da sie am Modell lernen, Verhaltensweisen, die autoritäre Personen an den Tag legen: Zum Beispiel hören sie nicht zu, sind vorlaut, akzeptieren andere Ideen kaum, wollen sich durchsetzen und ignorieren andere Bedürfnisse. Bei manchen Kindern in meiner Schule heute beobachte ich immer noch Verhaltensweisen, die deutlich durch zu Hause nicht befriedigte Bedürfnisse entstehen, z. B. das Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung.“
All diese Aspekte wie Machtdistanz, Kollektivismus oder Erziehungsstil sind miteinander in einem System verbunden. Man kann sich das wie die Puzzleteile einer Gesellschaft vorstellen. Das Dumme ist, dass die Puzzleteile, die die zugewanderten Familien mit sich bringen, oft nicht zu den Puzzleteilen hierzulande passen.
Impulse von Lehrkraft zu Lehrkraft
Viele Schülerinnen und Schüler aus Familien mit Migrationshintergrund und niedrigem Bildungsstand sind Tag für Tag verwirrenden Gegensätzen in Bezug auf Erziehungsstile ausgesetzt. Zu Hause werden sie von den Eltern autoritär geführt; eine eigene Meinung zu haben oder Initiative zu ergreifen, ist von ihnen nicht erwünscht. In der Schule sollen sie hingegen Eigeninitiative entwickeln und Regeln befolgen, die viel weniger strikt formuliert sind. Wer sich das klar macht, kann manche Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen besser verstehen, die uns Lehrkräften völlig unangebracht erscheinen. Es wäre aber ein Trugschluss, in Reaktion darauf selbst auf den autoritären Erziehungsstil umzuschwenken. Damit funktioniert zwar manches kurzfristig und vordergründig besser, aber wir stoßen dann auch keine positive Entwicklung an. Wenn wir die Kinder von ihrem autoritären Gemeinschaftsbild wegführen möchten, müssen wir ihnen unseren Gegenentwurf vorleben.
Über die Autorinnen
Dieser Artikel ist Teil der Serie „Bildungsfern? Bildungs-anders! Eine Übersicht aller weiteren Artikel finden Sie hier. Illustrationen: Ariane Dick Bellosillo/Magazin SCHULE