Meine Töchter sind toll. Ehrlich. Die eine absolviert mit eiserner Disziplin enorme Lerneinheiten und kann – wenn es denn sein muss – ohne Panikattacken Klavier vor einem Saal voller fremder Leute spielen. Die andere trägt ungeniert mal sattpinke, sumpfgrüne oder dottergelbe Haare und kann im Nullkommanix ein ganzes Theaterpublikum bezaubern. Beide sind starke, selbstbewusste Persönlichkeiten. Sie scheuen sich nicht – jederzeit und selbstredend auch ungefragt –, ihre Meinung zu aktuellen politischen und gesellschaftlich relevanten Themen (Klima! Gendergerechtigkeit!! Fleischkonsum!!!) kundzutun. Gern auch auf Englisch, wenn es die Umstände erfordern.
Am Telefon sind sie wie schüchterne Dreijährige
Geht es aber darum, jemanden anzurufen, ist ganz plötzlich Schluss mit souverän, polyglott und cool. Jetzt ähnelt der nahezu erwachsene Nachwuchs schüchternen Dreijährigen, die sich hinter dem Rücken der Eltern verstecken, sobald Besuch auftaucht.
Ihre Telefonphobie haben die Töchter gut versteckt
Zuerst habe ich gar nicht kapiert, was da läuft. Viel zu lange dachte ich, die Mädels seien einfach Meister des Delegierens. Ein Friseurtermin muss ausgemacht werden? „Mach du, Mama – heute ist bis fünf Uhr Schule, und du hockst ja sowieso den ganzen Tag neben dem Telefon.“ Wir wollen Pizza bestellen? „Mach du Mama, dich kennen die doch alle.“ Die Schule braucht eine telefonische Krankmeldung? „Mach du, Mama, du bist ein Telefon-Profi und einfach viel überzeugender.“
Nachdem ich vor Kurzem Zeuge eines Gesprächs zwischen Müttern war, die von der geradezu krankhaften Telefon-Unlust ihrer Kinder berichteten, ahne ich, was los ist: Meine Töchter leiden unter einer leichten bis mittelschweren Form von Telefonphobie. Eine klinische Diagnose mit dieser Bezeichnung gibt es zwar streng genommen überhaupt nicht. Aber dass es Menschen davor graust, zum Hörer zu greifen, um etwas zu bestellen, zu erfahren oder zu regeln – dieses seltsame Angstphänomen existiert sehr wohl.
Schuld ist der Vater, ganz klar
Psychologen unterscheiden zwei Arten von Ängsten: die sehr nützliche, weil schützende Furcht vor tatsächlich existierenden Gefahren wie Feuer oder wilden Tieren und die absurde, das Leben unnötig erschwerende Mutlosigkeit vor dem Fahrstuhlfahren oder wie in unserem Fall vor dem Telefonieren. Als Grund für Letztere galten früher gern Erziehungsfehler der Eltern. Ängste können aber – so sagt es der Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut Borwin Bandelow an der Universitätsmedizin in Göttingen – „mit den Genen mitgegeben werden wie Sommersprossen und Hammerzehen“. In diesem Zusammenhang habe ich meinen Mann im Verdacht. Auch er: ein Vermeider von Gesprächen, insbesondere wenn sie per Telefon erfolgen sollen.
Max drückt sich so lange, bis er unmöglich noch anrufen kann
Was sich wie eine Schrulle anhört, betrifft viele. Wer „Angst vorm Telefonieren“ googelt, erhält fast anderthalb Millionen Treffer. Die Welt scheint voll von Menschen, denen allein die Vorstellung, ein Telefonat zu führen, kalte Schauer über die Rücken jagt. Junge Leute trifft die Telefonphobie besonders hart, wie eine kleine, zugegebenermaßen nicht repräsentative Umfrage im privaten Umfeld nahelegt: Max, 18-jähriger Sohn einer Freundin etwa, drückt sich so lange vor einem Telefonat, „bis es so spät ist, dass ich unmöglich noch anrufen kann“. Er dränge sich nicht gern in den Vordergrund, sagt er. Außerdem findet er es eine Zumutung, jemanden „einfach so zu stören“. Max: „Ich kann schon irgendwo anrufen, aber nur, wenn ich weiß, dass der Anruf erwartet wird, weil das vorher so ausgemacht wurde.“
Man will anderen nicht zumuten, was einem selbst unangenehm ist
Laura, 15, mag nicht mal angerufen werden, weil sie nicht weiß, wie sie das, was sie wirklich sagen will, am Telefon ausdrücken soll. Paula, 13, bewundert in der S-Bahn Menschen, die ungeniert in ihre Handys plappern, telefoniert selbst aber „nur zur allergrößten Not“ und nur dann, wenn garantiert niemand sonst in der Nähe ist und mithören könnte. Und Otto, 17, will einfach anderen nicht zumuten, was ihm selbst so furchtbar unangenehm ist: „Den Hörer abnehmen zu müssen und nicht zu wissen, wer dran ist. Oder vielleicht eine Stimme nicht zu erkennen, die man eigentlich kennen müsste. Oder unmittelbar reagieren zu müssen, obwohl man seine Antworten eigentlich lieber gerne abwägt.“
Telefonieren sei irgendwie total peinlich, sagen die Töchter
Telefonieren sei „irgendwie total peinlich“, so erklären mir meine Töchter ihre Telefonphobie. Sie nehmen deshalb zur Not sogar einen Fußmarsch in Kauf, nur um der Zahnarzthelferin ins Gesicht sagen zu können, was man ihrem Ohr allein partout nicht anvertrauen wollte: dass man nächste Woche leider doch nicht zur Kontrolle kommen kann.
Seit der Pandemie wird wieder mehr telefoniert
Vielleicht ist es so, dass hier eine Generation eine in die Jahre gekommene Kulturtechnik einfach nicht mehr flüssig beherrscht. Und schließlich auch immer seltener braucht. Wozu gibt es denn WhatsApp, Social Media und Online-Booking? Noch aber ist das Telefon nicht ganz erledigt. Noch immer telefoniert zumindest der ältere Teil der Menschheit, und häufig ist das auch ganz hilfreich. Die Pandemie hat sogar für eine kleine Renaissance des Festnetz-Telefonierens gesorgt. Sensible Vieltelefonierer beispielsweise erkennen schon an der Art und Weise, wie sich der Angerufene meldet, in welcher Stimmung er sich befindet und welche Worte es jetzt braucht, um von ihm zu bekommen, was man will. Außerdem: Spätestens im Beruf werden unsere Kinder nicht mehr umhinkönnen, das ein oder andere Mal zum Hörer zu greifen. Je eher sie also ihre Bangbüxigkeit davor verlieren, desto besser.
Vielleicht hilft gegen die Telefonphobie, was meine Freundin Brigitte gemacht hat, eine Architektin, die freiberuflich von daheim arbeitet. Im Flur über der Station mit dem Festnetztelefon hat sie zwei Telefonier-Merkzettel für die ebenfalls telefonunlustigen Kinder aufgehängt. Auf dem einen steht:
EINGEHENDE ANRUFE:
• Namen nennen.
• Evtl. fragen: „Wen möchten Sie sprechen?“
• „Kann ICH etwas für Sie tun?“
• Wollen Sie später noch mal anrufen?“
• „Soll ich meiner Mutter/meinem Vater
etwas ausrichten?“
AUSGEHENDE ANRUFE:
• Durchatmen. Lächeln. Nummer wählen.
• „Guten Tag“ sagen.
• Namen nennen: „Ich heiße …………..
• und ich möchte:
• …………..“ (Grund des Anrufs)
• Termin nennen, zu dem das erledigt
sein muss!
Vermeidung festigt die Angst. Also: Ran ans Telefon!
Klingt albern? Mag sein, aber Brigittes Kinder erledigen mittlerweile selbst Telefonate mit schwierigen Kunden in Abwesenheit der Mutter ganz selbstverständlich. Die unangenehme, Angst machende Situation zu meiden macht die Sache jedenfalls nicht besser, ganz im Gegenteil. Vermeidungsstrategien bringen zwar kurzfristig Erleichterung, aber sie festigen in aller Regel die Angst nur noch. Psychologen raten verzagten Menschen deshalb zur mutigen Auseinandersetzung mit den Dämonen, die sie quälen. Wer also Angst vor Schule oder Büro hat, tut gut daran, jeden Tag aufs Neue wieder tapfer hinzugehen. Wer in Fahrstühlen unter Schweißausbrüchen leidet, sollte sie so lange benutzen, bis es ihm grad egal ist.
Und wer nur höchst ungern und unter Bauchgrimmen telefoniert, braucht in aller Regel eines: mehr Übung im Telefonieren, und zwar so lange, bis sich Routine einstellt und das Gehirn „Erfolg gehabt“ abspeichert. Und nun sollen mich meine Töchter umgehend mal anrufen. Eine entsprechende Aufforderung schicke ich ihnen selbstverständlich ganz bequem per WhatsApp.
Angst vorm Telefonieren: Leiden Jugendliche unter Telefonphobie? – Foto: wayhomestudio/freepik
„Früher galten Erziehungsfehler der Eltern – was sonst? – als Grund für übertriebene Feigheit“: Für mein Verständnis eine ziemlich abschätzige Formulierung der Problemlage. Ich glaube, hier läuft man Gefahr, dass Betroffenen dieser Sozialphobie (Jugendliche wie junge Erwachsene) durch das Lesen dieses Textes ein ungutes/beschämendes Gefühl über sich vermittelt wird.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Die Formulierung war zudem noch missverständlich, wir haben sie daher geändert. Insgesamt bitten wir Sie zu berücksichtigen, dass dieser Text eine satirische Auseinandersetzung mit einem Breitenphänomen ist. Echte Phobien bedürften natürlich einer ganz anderen, ernsthafteren Betrachtung. Beste Grüße, Ihre Magazin-SCHULE-Redaktion.