Wundern & Wissen

Endlich frei sprechen können

Kinder, die stottern, haben es in der Schule oft schwer. Vielen Schülern ist ihre Sprechbehinderung so peinlich, dass sie gar nichts mehr sagen. Das kann sich katastrophal auf die Noten auswirken


Für mich war es in der sechsten und siebten Klasse ganz schlimm“, erinnert sich die 15 Jahre alte Yesim*. „Ich habe mich gar nicht mehr gemeldet, und meine Noten sind richtig schlecht geworden.“ Dabei ist die Gymnasiastin aus Nordrhein-Westfalen eigentlich eine sehr gute Schülerin. Schriftlich hatte sie meist Einser und Zweier, mündlich bekam sie aber nur noch schlechte Noten, weil sie im Unterricht ­lieber gar nichts mehr sagte. Der Grund: Sie hatte Angst in der Schule zu stottern. „Plötzlich hatte ich viele Vierer, ich war voll unzufrieden und bin dann zu einer Logopädin gegangen“, so die Zehntklässlerin.

Stottern in der Schule: Jungen sind häufiger betroffen

Einer Studie zufolge stottern 1,3 Prozent aller europäischen Schüler. In Deutschland leiden demnach rund 105 000 Schüler unter der Störung des Redeflusses. Sie wiederholen einzelne Laute (k-k-k-kann), Silben (Ma-Ma-Mathe) oder auch kurze Wörter (wir-wir-wir). Die Sprechbehinderung tritt in der Regel im Alter zwischen drei und sechs Jahren erstmals auf, Jungen sind häu­figer betroffen als Mädchen. „Zwischen drei und sechs Jahren stottern sogar fünf Prozent aller Kinder, vier Fünftel  davon zeigen aber eine Spontanheilung“, sagt der Göttinger Neurophysiologe Martin Sommer, der selbst stottert und im Vorstand der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe (BVSS) ist. Welche Kinder das Stottern wieder verlieren, können Ärzte nicht voraussagen. Fest steht nur, dass mit zunehmender Dauer des Stotterns die Wahrscheinlichkeit kleiner wird, dass die Behinderung wieder verschwindet

Cover "Mein Kind stottert – was nun?" – Magazin SCHULE
Für Eltern: Was ist Stottern? Wie kann ich meinem Kind helfen? Welche profesionelle Unterstützung können wir bekommen? Der Ratgeber „Mein Kind stottert – was nun?“ beantwortet Elternfragen. (Demosthenes-Verlag, 12,50 Euro)

Die Ursachen für das Stottern sind bis heute nicht eindeutig geklärt. „Die Erblichkeit ist relativ hoch“, weiß aber Sommer. Forscher gehen davon aus, dass 70 Prozent der Fälle genetisch bedingt sind. Welche anderen Faktoren eine Rolle spielen, ist nicht ganz klar. Manchmal können Menschen, die stottern, recht flüssig reden. Dann wieder gibt es Phasen, in ­denen das Sprechen sehr mühsam ist. Aufregung und Stress verschlimmern das Stottern meist – wenn also zum Beispiel stotternde Schüler vor der ganzen Klasse aufgerufen werden, wird es für die Kinder oft schwierig. Sie kommen im Satz nicht ­weiter, wiederholen sich oder haben eine totale Sprechblockade.

Kein Druck, sondern geduldig zuhören

„Das ist körperlich richtig anstrengend für mich, wenn ich an einem Wort meh­rere Sekunden hänge“, sagt Yesim. „Das ist, als würde man immer wieder einen Marathon laufen. Ich habe dann auch so einen Druck im Hals.“ Gut gemeinte Ratschläge wie „Jetzt atme erst einmal tief durch!“ erhöhen die Anspannung nur. Lehrer sollten den Kindern vielmehr Zeit geben, den Blickkontakt halten und sie nicht unterbrechen. Ganz schlimm ist es für Schüler, wenn dann auch noch andere Schüler zu lachen beginnen oder sie nachäffen. „Mir ist das nicht oft passiert“, erzählt Yesim. „Aber die paar Male, wo doch jemand was gesagt hat – das hat mich echt fertiggemacht.“

Auch der acht Jahre alte Justus* aus dem Raum München kennt diese Erfahrung. „Ein paar Viertklässler haben mich blöd angeredet, das war echt doof. Ich sage dann, dass ich das nicht steuern kann.“ Der Drittklässler stottert seit seinem fünften Lebensjahr. In der Schule macht er trotzdem gut mit, hält sogar gern Referate. „Meine Klasse und meine Lehrerin gehen gut mit dem Stottern um, die wissen das, und ich muss nichts erklären.“ Justus ist ein selbstbewusster Junge, der in seiner Freizeit im Knabenchor singt und auch Einzel-Gesangsunterricht hat. „Das ist eine tolle Möglichkeit, sich ohne Stottern auszudrücken, es ist einfach schön“, sagt er. Denn beim Singen oder auch beim Gedichteaufsagen ist Justus’ Sprache flüssig.

Cover "Stottern in der Schule" – Magazin SCHULE
Für Lehrkräfte: Bis zu fünf Prozent aller Kinder sind von Stottern betroffen. Speziell in der Schule kann die Sprechbehinderung zur extremen Belastung werden. Wie Lehrkäfte sinnvoll damit umgehen, schildert Georg Thum in Stottern in der Schule. Ein Ratgeber für Lehrerinnen und Lehrer. (Demosthenes-Verlag, 12,50 Euro)

Nicht allen Kindern fällt es so leicht wie Justus, mit ihrer Behinderung umzugehen, weiß die Logopädin und stellvertretende BVSS-Vorsitzende Martina Wiesmann. Auch sie stottert seit ihrer Kindheit. „Ich habe es in meiner Schulzeit sehr stark vermieden zu sprechen. Ich habe zum Beispiel Wörter, bei denen ich wusste, dass ich nicht weiterkomme, ausgetauscht“, erinnert sich Wiesmann. „Ich bin oft rot geworden. Stottern ist schambesetzt.“

Die meisten Stotterer werden in der Schule nicht erkannt

Umso wichtiger ist es, dass Lehrer auf die Kinder zugehen. Doch weil stotternde Schüler sich oft sprachlich zurückziehen, erkennen Lehrer die Schwäche manchmal gar nicht. „50 bis 75 Prozent der stotternden Kinder werden in der Schule nicht erkannt. Das bedeutet eine gra­vierende Fehleinschätzung bezüglich der Persönlichkeit und Leistungsfähigkeit der Kinder“, beklagt Wiesmann. Und selbst wenn Lehrer das Stottern thematisieren, wissen die Pädagogen oft nicht, wie sie damit umgehen sollen. Dabei gibt es im Unterricht zahlreiche Möglichkeiten, es den Kindern leichter zu machen. „Kinder können zum Beispiel ein Referat zu Hause mit dem Handy aufnehmen und dann vor der Klasse abspielen“, schlägt Wiesmann vor.

Yesim überwindet sich inzwischen immer öfter und meldet sich mehr. Ihre Noten haben sich stark verbessert. Das Stottern ist zwar nicht verschwunden, aber sie hat sich eine Sprechtechnik angeeignet, mit der sie flüssiger spricht. „Inzwischen habe ich gelernt, gut mit dem Stottern umzugehen“, sagt Yesim. „Es gibt Phasen, in denen ich mehr stottere, und Phasen, in denen meine Sprache flüssig ist, dementsprechend ist es in der Schule manchmal schwerer und manchmal leichter.“

*Name von der Redaktion geändert 

 


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