Harvard trotz Gehirntumor – Liesel mit ihren Eltern – Magazin SCHULE ONLINE
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Nach Harvard trotz Gehirntumor

Sie hat ihr letztes Highschool-Jahr vor sich, dann bekommt eine 17-Jährige eine schockierende Diagnose: Anstatt um ihren Abschluss muss sie um ihr Leben kämpfen. Eine Geschichte mit Happy End


An einem 12. Juli hörte für Liesel und ihre Familie die Welt auf, sich zu drehen. Ein Neurologe, der das Mädchen wegen seiner anhaltenden migränehaften Kopfschmerzen untersucht hatte, musste ihm und seinen Eltern eine niederschmetternde Mitteilung machen: In Liesels Kopf saß ein Gehirntumor von der Größe eines Tischtennisballs.

In den 17 Jahren ihres Lebens ist Liesel von Tiefschlägen und Enttäuschungen weitgehend verschont geblieben. Geboren und aufgewachsen ist sie in Alaska im Schoß ­einer liebevollen Familie, in der Sport und Outdoor-Abenteuer großgeschrieben wurden. Sie ging mit ihren Eltern ­fischen und jagen, war Beste im Skiclub, brauste mit ­ihrem Snowmobil über die eisigen Weiten ihrer Heimat und wurde schließlich ins Biathlon-Jugendnationalteam aufgenommen. Seit ihrem siebten Lebensjahr spielte sie ­Geige und blickte auf eine Reihe von Auftritten vor größerem ­Publikum zurück.

Die Schule war für sie ein Kinderspiel. Bis jetzt

Vor dem Elternhaus am Campbell Lake in Anchorage „parkte“ das familieneigene Wasserflugzeug. Damit ging es an den Wochenenden oft zu ihrer Hütte am See, die auf dem Landweg nicht zu erreichen ist, oder mit Freunden zum ­Fischen. Die Schule war für Liesel ein Kinderspiel. Die Lerninhalte flogen ihr zu. Die ersten Jahre besuchten sie und ihr jüngerer Bruder Nick die Rilke-Schule in Anchorage, in der die Hälfte des Unterrichts in deutscher Sprache geführt wird. Liesels Großvater väterlicherseits stammt aus Garmisch-Partenkirchen, und so wollten ihre Eltern den Kindern sprachlich einen Zugang zu den Familien­wurzeln ermöglichen.

In der Highschool trieb Liesels herausragende Lern­begabung weitere Blüten. Von Beginn an glänzte sie an der Dimond High School als Jahrgangsbeste, und als das letzte Schuljahr anbrach, war allen klar, dass sie ihre Highschool als „Valedictorian“ abschließen würde, wie in den USA die Besten des jeweiligen Schuljahres genannt werden.

Doch dann wurden die Kopfschmerzen stärker

Im Juni flog sie nach Boston zu einem Interview mit dem Leiter des Aufnahmekomitees der Elite-Uni ­Harvard. „Ich hatte zur Vorbereitung auf dieses Gespräch viel ­gebüffelt, Bücher gewälzt, Zeitungen gelesen. Doch eigentlich ­wollte er sich mit mir über Fischen und Jagen in ­Alaska u­nterhalten“, erinnert sich Liesel.

Die Ärzte rieten: Viel Wasser trinken, dann legt sich das

Wären da nur nicht diese Kopfschmerzen gewesen. ­Irgendwann mit 14, 15 Jahren begannen sich die Schmerzen in ihren Kopf zu bohren, zunächst schwach in unregelmäßigen Abständen, dann aber immer häufiger und heftiger. Die Ärzte, die sie untersuchten, attestierten ihr eine Eins-a-Gesundheit. „Am Ende hörten wir: Das ist der Stress, die Schule, der Leistungssport … Viel Wasser trinken, dann gibt sich das“, erinnert sich ­Liesels Mutter Natasha.

Die Diagnose, ein Schock: Gehirntumor – schwer zugänglich auch noch

Doch als die Kopfschmerzen stärker wurden, Liesel kaum noch schlafen konnte und die Dose mit Advil-Schmerzta­bletten ihr ständiger Begleiter wurde, suchten ihre ­Eltern einen Neurologen auf. Ein MRT offenbarte eine erschütternde Tatsache: Liesel hatte einen Tumor im Gehirn, der noch dazu an einer schwer operierbaren Stelle saß. Die gute Nachricht: Der Tumor war gutartig.

Noch heute fällt es Liesel schwer, über diesen Moment der Diagnose zu sprechen: „Meine Mutter begann sofort zu schluchzen, mein Vater wurde kreidebleich, und durch meinen Körper fuhr ein eiskalter Adrenalinschub.“ Das Mädchen wurde nach Seattle in die Kinderklinik geflogen. Dr. Richard Ellenbogen, einer der besten Neurochirurgen an der US-Westküste, sollte die Operation durchführen. Sieben Stunden dauerte die OP, für die ­mitgereiste Familie war es eine kaum zu ertragende Zerreißprobe.

Die zweite Operation, wieder sieben Stunden. Danach Vergesslichkeit und Halluzinationen

Doch alles schien gut verlaufen zu sein. Zwar ­hatte Liesel schwere Erinnerungs- und Wahrnehmungslücken, doch laut ihren Ärzten sei das nach einer so schweren Operation normal und nicht besorgniserregend. Nach ­einigen Tagen dann der herbe Rückschlag: Da die Flüssigkeit in ihrem Gehirn nicht ablaufen konnte, musste in einer zweiten, ebenfalls sieben Stunden dauernden OP ein Schlauch vom Gehirn am Hals vorbei in den Magen gelegt werden. Liesel hatte auch diesen schweren Eingriff gut überstanden, auch wenn ihre ­Vergesslichkeit und nächtlichen Hallu­zinationen ihre Eltern zweifeln ­ließen, ob sie ihr Mädchen je wieder zurückbekommen würden.

 

 

Drei Wochen später konnte Liesel nach Alaska heimkehren. Wie sehr sie ihrer alten Form hinterherhinkte, merkte sie als Erstes beim Geigespielen. Die Finger waren zu langsam, zu unkoordiniert selbst für die einfachsten Stücke. Trotzdem wuchs die Zuversicht: „Ich fühlte mich ,back to life‘ und war fest entschlossen, meine ­schulischen und sonstigen Ziele weiter zu verfolgen, die ich an jenem 12. Juli fallen lassen musste“, versichert Liesel.

Drei Wochen nach der OP ging das Schuljahr los

Ihre Eltern waren skeptisch bis besorgt. Doch sie wussten: Wenn sich ihre Tochter etwas in den Kopf setzt, lässt sie sich nur schwer umstimmen. Und so ­startete Liesel drei Wochen nach ­ihrer zweiten OP ihr Senior-Highschool-Jahr. Gleichzeitig nahm sie das Aufbautraining zur Vorbereitung der ­anstehenden Biathlon-Saison auf und war für das Laufteam ihrer Schule eine wichtige Stütze. Das erloschene Feuer in ihr war neu entfacht.

Die Zusage aus Harvard kam – jetzt drehte Liesel richtig auf

Für den Status des Klassenprimus genügt es in Alaska nicht (wie generell in den USA), in jedem Fach eine Eins zu haben. Mit Zusatzkursen, sogenannten Advanced Placement Classes, bekommt man Extrapunkte. Schließlich wird der/die „Valedictorian“ durch das Zusammenzählen der Punkte ermittelt. Liesel ging dieses ehrgeizige Ziel mit dem ihr eigenen Drive und Selbstvertrauen an. Ein gehöriger Motivationsschub war sicher, als Mitte Dezember die Zusage von Harvard ins Haus geflattert kam. Ihr großer Traum sollte Wirklichkeit werden. Jetzt drehte Liesel erst richtig auf – und legte das denkbar beste Abschlusszeugnis hin.

Dann kommt der Abschlussball – ihre Bühne

Am 23. Mai 2017 war es dann so weit. In der voll besetzten Sullivan ­Arena in Anchorage feierten die Schüler der Dimond High School ihren großen Abschlussball. Traditionell wird der Event von der/dem „Valedictorian“ moderiert – und diese Ehre wurde Liesel zuteil, die diesen Job auf der Bühne eloquent und charmant meisterte. Auf den Tag genau drei ­Monate später bestieg sie das Flugzeug nach Boston auf dem Weg nach Harvard. Nach ihrem ersten Jahr als Studienanfängerin („Freshman“) will sie Biotechnik studieren. Sie möchte einmal medizinische Geräte entwickeln, die Menschenleben retten – und die auch ihr Leben gerettet haben.

Noch hat Liesel mit einigen Gedächtnislücken zu kämpfen. „Manchmal spreche ich ein Thema an, das ich mit ­derselben Person tags zuvor schon diskutiert habe“, sagt Liesel nachdenklich. „Aber da ich weiß, dass es so ist, gehe ich bestimmte Themen von unterschiedlichen Blickwinkeln an und hoffe so, dass es nicht als Wiederholung auffällt.“ Auch die Wahrnehmung von Zeit ist immer noch schwierig. Fünf Minuten oder 50 Minuten, das kann sie ­irgendwie noch nicht einordnen. Ihre Armbanduhr hilft ihr auf die Sprünge.

Ein Erinnerungsstück wird für immer in ihrem Körper bleiben

Eines wird sie ihr Leben lang an ihren Gehirntumor ­erinnern: jener Schlauch, der ihr Gehirn mit dem Magen verbindet. Außenstehende werden diese Verdickung am Hals für eine etwas größer geratene Ader halten. Nur sie und ihre Liebsten wissen: Ohne diese „Ader“ wäre sie ­heute nicht mehr am Leben.



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