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Alleinerziehend: funktionieren wie ein Uhrwerk

Plötzlich ohne Partner, plötzlich allein mit der Verantwortung – und mit der Wäsche. Und jetzt? Wohin mit den Gefühlen? Wie kommen die Kinder klar? Wer zahlt? Ein Report


Vera ist 46 und seit Kurzem allein zu Haus. Ohne Mann, mit den Kindern Sophie (14), und Tom (12). Einkaufen, kochen, waschen, aufräumen, Geige und Fußball – alles Mamas Job, obwohl die ­Redakteurin ja schon einen hatte. War die Trennung ihre Schuld? Wann ­hatten sie sich verloren? Doch das Leben muss weitergehen, obwohl es schwer ist für Vera.

Bin ich dran schuld, wenn die Noten schlechter werden?Vera, 46

Allein und erziehend heißt selbstlos funktionieren wie ein Schweizer Uhrwerk: Da ist der Kampf um die Versorgung und Betreuung der Kinder. Da ist die Chefin, die totale Flexi­bilität verlangt. Da ist der Druck, genug Zeit haben zu müssen für gemeinsame ­Momente. Und das schlechte Gewissen, weil trotz allem immer irgendwas auf der Strecke bleibt. Mathe zum Bespiel. „Bin ich dran schuld, wenn die Noten schlechter werden?“ Vera will allen gerecht werden und keinen Wettbewerbsnachteil hinnehmen. Immerhin zahlt ihr Ex für ­Sophie und Tom. Die Kinder besuchen die neue „coole“ Familie von Papa ­regelmäßig. Der Umgang ist ­geregelt, Selbst­zweifel bleiben.

Wer zahlt wie viel? Wer kümmert sich?

Bei uns in Deutschland leben 2,7 Millionen Alleinerziehende, Tendenz steigend. Und mehr als 90 Prozent von ­ihnen sind Frauen. In fast jeder fünften ­Familie gibt es einen alleinerziehenden Elternteil. Doch wer muss eigentlich nach der Trennung für was aufkommen? Für Minderjährige wie Sophie und Tom gilt folgender verpflichtender Unterhaltsanspruch: Während der eine Elternteil, bei dem das Kind lebt, dem Unterhalt durch Pflege und ­Erziehung nachkommt, muss der andere den Barunterhalt leisten.

Aufwendungen für Freizeit, ­kulturelle Teilhabe und Persönlichkeitsentwicklung sind in der Tabelle nicht berücksichtigt

Die nach der „Düsseldorfer ­Tabelle“ geltenden Kinderunterhaltsbe­träge sollen den Lebensbedarf einer Einelternfamilie sicherstellen. Gestaffelt nach Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Betroffenen ist hier die Unterhaltshöhe für Kinder aller Altersstufen geregelt. Ab einem Netto­einkommen von 1 500 Euro beträgt der Mindestunterhalt für Kinder ­unter 6 Jahren 342 Euro, für 6- bis 11-Jährige 393 Euro und für 12- bis 17-Jährige 460 Euro. Das ist das Existenz­minimum. Aufwendungen für Freizeitgestaltung, ­sozial-kulturelle Teilhabe und Persönlichkeitsentwicklung sind nicht berücksichtigt. Bei ­getrennt lebenden Eltern wie Vera und Max erhält der Elternteil das Kindergeld in voller Höhe von je 192 bzw. 198 Euro, in dessen Haushalt das Kind lebt. Es wird allerdings zur Hälfte auf den Barbedarf angerechnet.

Wenn der andere nicht mitzieht

Auch die Berlinerin Jule Urban, 34, ist auf Unterhalt ­angewiesen. Seit drei Jahren wohnt die Alleinerziehende, die seit ­Kurzem arbeitslos ist, mit ­ihrem 13-jährigen Sohn Fabian in ­einer Eineinhalbzimmerwohnung. Sie leben jetzt von Hartz IV und Unterhalt – ­eigentlich. Papa Bernd, Fahrer bei einer Spedition, zahlt den inzwischen immer seltener. Wenn kein Unterhalt fließt, kann ein Teil des Anspruchs vorübergehend durch einen staatlichen Unterhaltsvorschuss ausgeglichen werden. Als Jule noch im Jeansladen angestellt war, hat ihr dieser Vorschuss vom ­Jugendamt geholfen. Doch als Fabian 13 wurde, entfiel der Anspruch darauf. Und das, obwohl die Unterhaltspflicht selbst bis zum Ende der ersten Ausbildung gilt. „Absurde Regelung, als ob er jetzt nichts mehr kosten ­würde“, sagt sie.

Zum 1. Juli 2017 wurde diese ­Ungerechtigkeit im Gesetz für den ­Unterhaltszuschuss endlich korrigiert. Grundsätzlich wird jetzt nicht mehr nur bis zum zwölften Lebensjahr gezahlt, sondern bis zur Volljährigkeit und nicht mehr auf 72 Monate beschränkt. Das macht für Jule theo­retische 268 Euro pro Monat, die ­allerdings von Fabians Hartz-IV-Satz abgezogen werden. Drei Viertel der Berechtigten beziehen staatlichen Unterhaltsvorschuss ­parallel zur Grundsicherung, auf die der ­Vorschuss von den Jobcentern voll angerechnet wird. Gleiches gilt für Unterhalt und Kindergeld. Ein enormer Verwaltungsakt und frustrierend für Mütter wie Jule.

Da wir beide nach wie vor das Sorgerecht haben, müssen wir bei wich­tigen Entscheidungen auch beide ­unterschreiben Jule, 34

Zum Glück ist die Wohnung ­günstig. Bei Extrakosten wie einer Klassenreise stellt sich Jules Ex komplett stur. Bernd zieht sich mehr und mehr aus der Verantwortung, das muss Jule deshalb auffangen. „Da wir beide nach wie vor das Sorgerecht haben, müssen wir bei wich­tigen Entscheidungen auch beide ­unterschreiben.“ Als Fabian auf die neue Schule kam, war das unumgänglich. Auf Bernds Unterschrift wartete Jule drei Wochen vergeblich. Dann hat sie ihn persönlich aufgesucht.

Das Gefühl, alles einfordern zu müssen, hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Irgendwann ­ertappte Jule sich dabei, dass sie sich bei ­ihrem Ex wegen Fabian entschuldigte. Das war der Weckruf! Inzwischen hat sie sich abgewöhnt, sich deswegen schlecht oder klein zu ­fühlen. Und eine Vollmacht hat sie Bernd auch ­abringen können.
Bindende Umgangsvereinbarungen sind für ein friedliches Miteinander das A und O. „Schließlich geht es um ­unser gemeinsames Kind. Das muss uns ­beiden das Wichtigste sein. Ich glaube, das hat er jetzt ­verstanden.“

Viel zu oft droht die Armutsfalle

Der Spagat zwischen Kindern und Beruf führt bei Alleinerziehenden häufig zu einer deutlichen Verschlechterung der Lebenssituation. In der Studie „Alleinerziehende unter Druck“ der Bertelsmann Stiftung wird das erhöhte Armutsrisiko deutlich: Fast 61 Prozent der Alleinerziehenden ­arbeiten, davon mehr als 42 Prozent in Vollzeit im Vergleich zu 25 Prozent der verheirateten Mütter. Meist reicht das Geld trotzdem hinten und vorne nicht. 42 Prozent der Alleinerziehenden gelten als arm oder armutsgefährdet. Und die Hälfte der Kinder und ­Jugendlichen im Sozialleistungsbezug leben in Einelternfamilien. Der Mangel an Kinderbetreuungsangeboten mit flexiblen Öffnungszeiten macht die Rückkehr in einen Vollzeitjob im Schichtdienst oder Dienstleistungs­gewerbe schwierig.

Sollte es nicht eine gesellschaftspolitische Aufgabe sein, ­Alleinerziehenden das Leben zu erleichtern? Sollten zahlungsunwillige Elternteile nicht mit wirksameren Mechanismen zur regelmäßigen Unterhaltsleistung gebracht werden? Und wären nicht Steuer­vergünstigungen für Alleinerziehende hilfreich?

Wir brauchen verlässliche Ganztagsschulen und eine hochwertige ­bedarfsdeckende HortbetreuungVAMV

Um alleinerziehende Eltern nicht länger finanziell zu benachteiligen, fordert der Verband für Alleinerziehende Mütter und Väter e. V. (VAMV) „vom Ehegattensplitting zur Individualbesteuerung zu wechseln und Kinder direkt durch eine Kindergrundsicherung zu fördern“. Geschäftsführerin Miriam Hoheisel: „Wir brauchen verlässliche Ganztagsschulen und eine hochwertige ­bedarfsdeckende Hortbetreuung“, und zwar beitragsfrei, um Familie und Beruf zu vereinbaren.

Faire Bildungs- und Teilhabechancen für alle Kinder sind nach der Studie der Bertelsmann ­Stiftung das wichtigste Ziel unserer ­Gesellschaft. Für schwächere Schüler eine ­Hoffnung mit Potenzial: ­guter Zugang zu digitaler ­Bildung, mit der sie selbst ihre Handicaps überwinden können. Interaktive Plattformen, E-Learning und Vernetzung könnten dabei in Zukunft ihren Beitrag für bessere Bildung leisten.

Bloggen, um andere zu unterstützen

Vor sechs Jahren wurde Ale­xandra Widmer von ihrem Mann verlassen. Aus Mangel an hilfreichen sozialen Netzwerken hat die Alleinerziehende ihr eigenes Blog-Projekt www.starkundalleinerziehend.de live gestellt, um andere zu unterstützen. Die Hamburger Ärztin für Psychosomatik will mit praktischen Tipps, Beiträgen und wöchentlichen Podcasts wie „Wohin mit meiner Wut?“ oder „Was tun, wenn der Ex eine Neue hat?“ emotional stärken. Alles Themen, die sie selbst durchlebt hat. Alleinerziehend wurde ihr schnell klar, dass sie ihre bishe­rigen Überzeugungen, wie ein Alltag mit Kindern aussehen soll, über Bord werfen musste. „Für mich wurden 60 Prozent Einsatz zu meinen neuen 100 Prozent.“ Ihre einzige Chance, nicht im Burn-out zu enden. „Auch wenn die Wäsche nicht selten vom Korb direkt an den Körper wandert und niemals den Schrank sieht.“ Alles geht einfach nicht, und man muss sich mit suboptimalen Bedingungen abfinden.

Es geht da­rum, wieder Vertrauen zu sich selbst zu findenAlexandra Widmer, Ärztin für Psychosomatik

Widmer weiß weiter, wenn Elternteile mit ­ihren Gefühlen wie Wut, Trauer, Angst und Ohnmacht nicht mehr ­allein ­zurechtkommen. Für mehr Energie im Alltag ist es ihr wichtig, „therapeu­tische Elemente in die digitale Welt zu transformieren und somit für Entlastung und Orientierung zu sorgen“. Die ungerechte sozioökonomische Lage der Alleinerziehenden erhöhe das ­Risiko einer Depression. „Es geht da­rum, wieder Vertrauen zu sich selbst zu finden“, sagt die Psychotherapeutin. „Denn nach ­einer Trennung geht das Selbstwertgefühl in den Keller.“ Dank der Kombina­tion aus Fachwissen und Erfahrung fühlen sich Gleichgesinnte von Alexan­dra Widmer verstanden und ermutigt, Probleme selbst zu ­lösen, anstatt auf die Politik zu warten.

Zur Erhaltung der Gesundheit wünscht sie sich „eine engmaschige Betreuung von Eltern nach einer Trennung. Nur wenn es dem Elternteil gut geht, geht es auch dem Kind gut.“ Was rät die Bloggerin Alleinerziehenden? „1. Hol dir Hilfe! 2. Suche Kontakt zu Gleichgesinnten. 3. Sage Ja zu all deinen unangenehmen Gefühlen und lerne, damit umzugehen. 4. Alleinerziehend ist eine Lebensphase, die einen Anfang und ein Ende hat. 5. Familie ist da, wo Kinder sind und Liebe ist!“

Alleinerziehend? Das ist gut so!

Vera ist inzwischen happy ohne ihren Ex Max. Eine Therapie hat ihr geholfen, „ein Kind weniger zu Hause zu haben“ und ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können. Auch Jule spürt sich endlich wieder selbst. Nach intensiven Gesprächen zahlt Bernd wieder Unterhalt, und mit Glück steht ihr sogar ein Job in Aussicht, der alles einfacher machen wird. Und mit Blick auf ihre fast erwachsenen Zwillinge zieht die Autorin Katja Zimmermann (siehe Interview rechts) am Ende eines langen Prozesses Bilanz: „Ich bin einfach nur glücklich und stolz. Ich bin alleinerziehende Mutter, und das ist auch gut so.“



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