Wundern & Wissen

Streiten kann jeder – versöhnen ist schwer

Wer kennt das nicht? Man pflaumt sich an, Türen knallen, dann herrscht Schweigen im Walde. Streit gibt es in jeder Familie. Doch wie geht das Versöhnen?


Gibt es ein Familienleben ohne Streit? Vermutlich nicht. Klar, oft sind es nur kleine Auseinandersetzungen über liegen gebliebene Socken oder den verschütteten Kakao am Abendbrottisch. Manchmal aber auch um  mehr. Die meisten Eltern dürften Situationen kennen, in denen ihnen der Kragen ­platzt, Türen knallen und Verbote ausgesprochen werden, die, kaum dass sie die Lippen verlassen haben, schon wieder bereut werden. Das Kind weint, man selbst schaut gefrustet in die Welt. Katerstimmung. Und nun? Wie soll man sich versöhnen?

„Streiten ist keine Kunst“, sagt ­Fabienne Becker-Stoll, Diplom-Psychologin und Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München. „Sich zu versöhnen aber schon.“ Die allgemeine Annahme, dass immer der, der Mist gebaut hat, sich auch dafür entschuldigen muss, gelte ganz besonders in der Eltern-Kind-Beziehung nicht, sagt die Expertin: „Die Verantwortung, dass eine Versöhnung und Aussprache stattfindet, liegt immer bei den Eltern.“

Versöhnen stärkt die Bindung

Doch auch die tun sich oftmals schwer mit dem ersten Schritt. „Sich Fehler einzugestehen oder eine Überreak­tion zuzugeben wird häufig noch als Zeichen von ­Schwäche ­gesehen“, sagt Carola Hoffmann, Diplom-Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin aus Saarbrücken. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: „Sich zu entschuldigen ­erfordert Stärke.“

Schwierig wird es vor allem dann, wenn Eltern auf ­einen Streit mit längerem Schweigen oder Rückzug ­reagieren. „Kinder sind emotional immer in der schwächeren Posi­tion“, sagt Becker-Stoll, die aus vielen Bindungsinterviews mit Kindern weiß, dass diese die Ablehnung der Eltern als eine enorme seelische Belastung empfinden. „Kinder handeln ja in der Regel nicht mit Kalkül, wenn sie Regeln missachten, zum Beispiel länger Playstation spielen als vereinbart oder ihr Zimmer nicht aufräumen“, sagt die Psychologin und warnt vor der Vogel-Strauß-Taktik oder willkürlichen Verboten, die mit dem Streitfall gar nichts zu tun haben. „Es ist ein wichtiges emotionales Grundbedürfnis des Menschen, sich bei seinen Bezugspersonen gut aufgehoben zu fühlen – ganz besonders, wenn es mal schwierig ist.“

4 Grundregeln fürs Versöhnen

  • 1. Stoppen

    Wenn aus einer Auseinandersetzung ein Streit wird, ist es häufig schwer, noch die Kurve zu kriegen, und auf ein Wort folgt schnell das nächste. Um die Situation möglichst nicht weiter eskalieren zu lassen, hilft es zu stoppen: „Ich merke, dass ich sehr verärgert bin, deshalb brauche ich eine Pause.“

  • 2. Reflektieren

    Die Auszeit lässt die Emotionen runterkochen. Tief durchatmen, entspannen und nachdenken: Warum rege ich mich gerade so auf? Worum geht es hier wirklich?

  • 3. Entschuldigen

    Wenn die Sicht klarer ist, gilt es, die Verbindung zum Kind wieder aufzunehmen und sich für die Situation zu entschuldigen: „Es tut mir leid, dass wir uns gestritten haben.“ Eine Umarmung und ein Kuss stärken die Verbindung.

  • 4. Klären

    Jeder sollte die Möglichkeit haben, seine Sichtweise darzustellen. Wichtig: sich gegenseitig aussprechen lassen und nicht in neue Vorwürfe verfallen. Dann kann gemeinsam überlegt werden, wie zukünftige Problemsituationen
    vermieden oder besser gelöst werden. Hier sollten auch die Kinder Ideen einbringen und Wünsche äußern dürfen. Das Klärungsgespräch kann mit einem Handschlag
    besiegelt werden.

Die Erfahrung, gehalten zu werden, stärkt die ­Bindung und das Urvertrauen. „Man sollte deshalb nie ins Bett ­gehen, ohne sich vorher mit seinem Kind auszusprechen und zu versöhnen“, rät Becker-Stoll. Das gelte für Kinder im Trotzalter genauso wie für Teenager.

Wichtig für das Selbstwertgefühl

Die gemeinsame Friedenspfeife hilft auch, die verfahrene Situation zu sortieren: Warum haben wir uns so ange­giftet? Was war hier eigentlich gerade los? Wenn man sich vorher versöhnt hat, fällt es leichter, die unterschiedlichen Sichtweisen in Ruhe ­zu betrachten. „Dabei ist es ganz wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass die Situation der Auslöser war“, sagt ­Becker-Stoll. Die Wut und Vorwürfe der Eltern können nämlich sonst schnell dazu führen, dass das Kind sich selbst abgelehnt fühlt. Für die Entwicklung des Selbstwert­gefühls und Selbstbewusstseins braucht es aber die grundlegende Erfahrung: „Ich bin in Ordnung und werde geliebt, auch wenn ich mal Fehler mache oder Mist baue.“

Hoffmann ­erklärt die möglichen Folgen einer unversöhnlichen Streitkultur: „Wenn Kinder immer wieder die ­Erfahrung machen, nach einem Streit in eine Opferrolle zu fallen, aus der sie von den Eltern nicht herausgeholt werden, leidet ihr Selbstkonzept. Sie haben das Gefühl, selbst nichts verändern zu können, und entwickeln eine Grund­unsicherheit, auch im Umgang mit anderen Menschen.“

Der Anlass für den Streit ist klar – aber was ist die Ursache?

Oft sind die Gründe für einen Streit auch nur vordergründig klar. Auslöser war vielleicht das unaufgeräumte Zimmer oder die liegen gebliebene Schultasche im Flur – die wahren Ursachen liegen jedoch nicht selten ganz ­woanders. Ein stressiger Tag im Büro, private Probleme oder eine schlechte Nacht reichen schon, um die Nerven dünner ­werden zu lassen. Wenn dann schon wieder etwas nicht geklappt hat, sucht der Frust ein Ventil.

Hinzu kommen enttäuschte Erwartungen oder auch ganz konkrete Sorgen. Wenn das Kind zum Beispiel nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause kommt, kanalisiert die Standpauke nicht nur den Ärger über den Regelverstoß, sondern vielmehr die Angst, dass etwas passiert sein könnte. „Sich zu versöhnen bedeutet deshalb auch immer, sich zu erklären“, sagt Hoffmann. „Kinder lernen durch die Gefühlsausdrücke der Eltern, die Folgen ihres Handelns besser einzuordnen.“ Zu verstehen, dass Mama sich bei einem kaputten Teller nicht nur über die Unachtsamkeit ärgert, sondern traurig ist, weil er ein Erbstück der Oma war, sorgt für ein viel tieferes ­Verständnis des Konflikts.

Andersherum gilt dieser Blick auf das Ursache-­Wirkung-Prinzip natürlich auch für die Kinder: ­Warum haben sie sich so verhalten? „Sich beide Gefühlsseiten anzuschauen weitet den Blick und hilft in zukünftigen Krisensitua­tionen, die Lage besser einzuschätzen oder sich von vornherein anders zu verhalten“, sagt Becker-Stoll.

Sie rät dazu, sich beim Versöhnen auch unbedingt körperlich nah zu sein und mit dem Kind zu ­kuscheln. „Durch den Hautkontakt schüttet der Körper das Bindungs­hormon Oxytocin aus, einen wichtigen Stress-Gegenspieler, der nach einem Konflikt beiden Seiten richtig guttut.“ Das wohlige Gefühl im Bauch kennen wir alle. Nichts ist schließlich schöner, als wenn sich nach einem blöden Streit die Wogen glätten und wir wissen: Jetzt ist endlich alles wieder gut!



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