Johanna Graf, Begabung, Temperament, Charakter und Alter spielen beim Lernen eine große Rolle. Wie wird man als Mehrfacheltern allen Kindern gerecht?
Das frage ich mich selbst jeden Tag. Es ist nicht leicht, aber für Eltern entlastend ist vielleicht folgende Botschaft: Jedem Kind gerecht zu werden bedeutet nicht, jedem Kind das Gleiche zu geben. Dem Sohn, bei dem in der Schule alles glatt läuft, müssen Eltern beim Lernen gar nicht helfen, während dagegen die Tochter Unterstützung vielleicht sogar einfordert. Vom Kuchen, der aus Zuwendung und Zärtlichkeit besteht, sollten allerdings alle gleich große Stücke kriegen. Kindern, die in der Schule keinerlei Probleme haben, zeigt man seine Wertschätzung, indem man das Interesse an ihren Fächern und Themen nicht verliert. Außerdem sollten Eltern deutlich machen, dass das Angebot steht: Wir sind auch für dich da, wenn du mal Hilfe brauchst.
Wie können Eltern Talente und Begabungen ihrer Kinder entdecken und fördern?
Kinder brauchen jemanden, der sie liebt und an sie glaubtJohanna Graf, Psychologin
Bei Kindern, deren besondere Interessen und Begabungen nicht gleich ersichtlich sind, braucht es Geduld. Eltern erkläre ich das gern anhand der Bambusmetapher. Es gibt eine Bambusart, die pflanzt man ein, gießt sie, und doch passiert jahrelang nichts. Plötzlich aber wächst der Bambus mehrere Meter. Unsere Aufgabe als Eltern: die Zeit mit den Kindern genießen, gemeinsam die Welt entdecken, sie beobachten und respektieren, was ihnen Freude macht und was ihnen guttut. Damit Kinder ihre Anlagen entfalten können, brauchen sie jemanden, der sie liebt, diese Liebe zeigen kann und an sie glaubt. Über das Vertrauen der Eltern lernt das Kind, Vertrauen in sich selbst zu haben. Zutrauen, das zu schaffen, was es möchte. Selbst-Vertrauen.
Wann schießen Eltern übers Ziel hinaus?
Wenn sie Druck ausüben. Auch bedarf nicht jede Begabung der ultimativen Förderung. Manche Kinder brauchen ihre Ruhe und mögen kein Extraprogramm am Nachmittag. Wenn ein solches Kind gern malt und gestaltet, wäre dann ein Zeichenkurs eine gute Idee? Vermutlich nicht. Mit Papier, guten Stiften und ausreichend Muße könnten Eltern aber für den kreativen Freiraum sorgen, in dem sich Talent entfalten kann.
Und wenn ein Kind partout zu gar nichts Talent hat?
Das gibt es nicht. Was es dagegen gibt, sind normierte Vorstellungen, was als Talent zu gelten hat. Eine Familie, drei Kinder: Eins spielt toll Geige, das andere kickt erfolgreich Fußball im Verein, das dritte organisiert gern und ist bei jedem Familienfest unentbehrlich. Begabungen im sportlichen und musischen Bereich werden allgemein geschätzt. Was aber ist mit dem dritten Kind? Es hat wie seine Geschwister ein besonderes Talent, das Wertschätzung verdient. Und, wer weiß, vielleicht ist es ausgerechnet dieses Kind, das aus seinem Talent einen Beruf macht, Eventmanager zum Beispiel. Ein grundsätzlicher Tipp an Eltern: Konzentrieren Sie sich mehr auf ein gutes Miteinander als aufs Fördern. Zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie ihm vertrauen, dass es seinen Weg gehen wird. Das spüren die Kinder, und das ist es, was sie stark macht.
„Individuelle Förderung: Was Eltern tun können“ – Interview mit Johanna Graf – Foto: Wolf Haider-Sawall