Wer digitales Lernen betrachten will, geht an einem normalen Montagmorgen an das humanistische Friedrich-Gymnasium in Freiburg. Klasse 8 a: „Holt bitte jetzt eure Smartphones raus“, sagt der Lehrer. Ja, Sie haben ganz richtig gelesen: Die Geräte sollen auf den Tisch, nicht unter den Tisch! Die Aufgabe, welche die Schülerinnen und Schüler lösen müssen: den Erdumfang mit dem Smartphone bestimmen. Der Lehrer, der die Schüler zum Gebrauch ihres Lieblingsspielzeugs auffordert, ist nicht irgendein Pädagoge – er ist eine Art Lehrer-Popstar, heißt Patrick Bronner und ist mit dem Deutschen Lehrerpreis in der Kategorie „Unterricht innovativ“ ausgezeichnet worden.
Viele Journalisten waren deshalb zuletzt in den Klassen des promovierten Mathe- und Physiklehrers. Sie alle wollten mehr über seinen smarten Unterricht erfahren. Bronner bleibt bescheiden: „Es gibt Tausende Lehrer in Deutschland, die genauso innovativen Unterricht machen wie ich“, erklärt der 38-Jährige. „Der Deutsche Lehrerpreis ging nicht an mich allein, sondern an unser Lehrerteam, das das fünfstufige Medienkonzept mit mobilen Endgeräten entwickelt hat.“
Doch der Weg zu diesem Konzept war lang und steinig. „Noch vor zwei Jahren hatte ich keine Ahnung, wie ich ein Smartphone im Unterricht einsetzen könnte“, sagt Bronner. Er forderte also seine Schüler auf, selbst zu erforschen, was mit digitalen Geräten in der Schule möglich sei. „Sie waren immer schneller als ich“, gibt er zu. „Die Schülerinnen und Schüler haben 60 Experimente für das Lernen mit Smartphones und Tablets erarbeitet und bei einer Ausstellung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg präsentiert.“ Das Schülerprojekt war also der erste Schritt.
Nach und nach hat Bronner digitales Lernen in den Unterricht integriert – entsprechend des Bring-Your-Own-Device-Konzepts (BYOD). BYOD bedeutet, dass Schüler ihre eigenen Geräte mitbringen. Im Unterricht wird immer in Zweierteams gearbeitet – so ist sichergestellt, dass auch die Kinder, die kein eigenes Smartphone besitzen, trotzdem mitmachen können. Mit Eltern, dem Kollegium und Schülerinnen und Schülern hat Bronner immer wieder über Probleme und Risiken diskutiert. Die Schulordnung wurde um Regeln erweitert, Kritiker wurden überzeugt.
Über das Rechnen mit sechs Nachkommastellen stöhnen die Schüler auch mit HandyPatrick Bronner, Mathe- und Physiklehrer
Und wie finden eigentlich seine Schüler den Unterricht mit dem Smartphone? Sind sie so begeistert wie der Lehrer selbst? „Ja, weil sie mit ihrem eigenen Handy arbeiten können“, sagt Bronner. „Wenn sie merken, dass das Rechnen mit GPS-Daten und den notwendigen sechs Nachkommastellen nicht einfach ist, stöhnen sie schon mal. Aber trotzdem sind die Schüler motiviert, mit den digitalen Geräten zu lernen.“
Für die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka ist Patrick Bronner wohl so etwas wie ein Musterschüler unter den Lehrern. Sie hat nämlich einen Plan, einen Digitalisierungsplan für die Schulen: Bis 2021 will der Bund fünf Milliarden Euro in digitales Lernen stecken, auch um sie auf die Berufswelt von morgen vorzubereiten. Alle Schulen im Land sollen von diesem „DigitalPakt#D“ profitieren – so wollte es zumindest die alte Bundesregierung. Ob die Idee von der nächsten tatsächlich umgesetzt wird, ist allerdings noch ungewiss.
Doch so oder so: Es tut sich etwas in Sachen Digitalisierung in Deutschland. Langsam, aber stetig. Da ist zum Beispiel das Calliope-mini-Projekt. Mit diesem Kleinstcomputer sollen einmal alle Drittklässler lernen, wie Rechner funktionieren. Derzeit läuft ein Pilotprojekt an einigen Schulen im Saarland, im Frühjahr soll der Minicomputer im ganzen Bundesland eingeführt werden. Im internationalen Vergleich kommt die Digitalisierung bei uns jedoch mit großer Verspätung – Deutschland ist weit abgeschlagen. Das zeigt die „International Study on Computer and Information Literacy (ICILS)“: Bundesdeutsche Schüler besitzen nur mittelmäßige Kompetenzen im Bereich Computer und Informationstechnologie. Beim Einsatz digitaler Medien sind sie sogar Schlusslicht.
Wenn es nach den Bildungsexperten Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt geht, könnte das digitale Klassenzimmer ruhig viel schneller in den Schulen ankommen. Sie sind überzeugt, dass Tablets und Smartphones das Lernen so stark verändern werden wie zuvor nur der Buchdruck und die Schulpflicht. Über diesen radikalen Wandel des Lernens haben die beiden das Buch „Die digitale Bildungsrevolution“ geschrieben. Ihrer Meinung nach ermöglichen digitale Geräte und Big Data individuelles Lernen und individuelle Förderung für alle. Für die Autoren bedeutet die Digitalisierung eine Demokratisierung des Lernens. Denn auch sozial benachteiligte und bildungsferne Kinder erhielten Zugang zu günstiger und personalisierter Bildung.
Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, teilt die Euphorie der Verfechter des wischenden Klassenzimmers dagegen nicht. Er bezweifelt, dass der Einsatz digitaler Medien den Unterricht tatsächlich besser macht. „Ich kenne keine Studie, die das beweist!“, sagt Kraus. Kein Wunder, dass er auch nicht viel von der Initiative der Bundesbildungsministerin Wanka hält. „Totale Digitalisierung bringt nichts für den Unterricht“, fügt Kraus hinzu. „Sie nützt nur der Industrie.“ Er warnt vor Kollateralschäden bei übertriebenem Einsatz der digitalen Medien im Unterricht: „Die zwischenmenschliche Kommunikation leidet, wenn alles nur noch über den Bildschirm läuft“, sagt er. „Ich befürchte, dass Schüler mit den neuen Medien nur noch Informationshäppchen aus dem Netz holen und Themen nicht mehr ganzheitlich und komplex anpacken.“
Doch selbst wo er gewünscht ist, scheitert digitales Lernen häufig schlicht und ergreifend am Geld. Es würde viele Milliarden Euro kosten, alle deutschen Schulen mit Tablets oder Laptops auszurüsten. Die Bundesländer sind immer knapp bei Kasse, der Bund darf eigentlich nichts zuschießen (wegen des noch bestehenden Kooperationsverbots von Bund und Ländern in der Bildung).
Die Kosten für die Innovationen waren natürlich auch ein großes Thema am Friedrich-Gymnasium in Freiburg. Am Anfang war das Projekt nicht sehr teuer – lediglich ein paar WLAN-Geräte wurden angeschafft. Später haben die findigen Badener um Lehrer Patrick Bronner sogar Geld gespart. Die Schule hat sich selbst direkt von der Overhead-Welt in die Tablet-WLAN-Beamer-Zeit katapultiert – und den Medientisch mit interaktivem Whiteboard übersprungen. „Wir haben unseren Schulträgern vorgerechnet, dass es weniger kostet, wenn alle Lehrer mit Tablets ausgestattet werden – statt einen Medientisch mit Computer, Dokumentenkamera und interaktiver Tafel in allen 30 Unterrichtsräumen zu installieren“, sagt Patrick Bronner. Auch hier greift das BYOD-Konzept. Die Kosten für die Lehrertablets soll zu zwei Dritteln der Schulträger übernehmen. Ein Drittel sollen die Lehrer selbst tragen.
Aber letztlich geht es ja auch in Zeiten des digitalen Lernens um Inhalte und wie sie vermittelt werden. Das war Patrick Bronner von Anfang an klar. In seinem Unterricht kommt das Smartphone nur auf den Tisch, wenn es pädagogisch sinnvoll ist. „Vielleicht jede zweite Stunde“, sagt Bronner. „Mir ist die Medienvielfalt sehr wichtig. Der Lehrervortrag, die Kreidenotiz an der Tafel, aber eben auch die neuen Medien.“ Und der innovativste Lehrer 2016 sagt Sätze, die wahrscheinlich alle unterschreiben würden – die Kritiker und die Befürworter des wischenden Klassenzimmers: „Tablets und Smartphones sind nicht der Weg zum erfolgreichen Unterricht. Der Lehrer ist es! Digitale Geräte können guten Unterricht noch besser machen. Aber schlechter Unterricht wird auch mit den neuen Medien nicht gut!“
Digitales Lernen – Das wischende Klassenzimmer – Fotos: Friedrich- Gymnasium Freiburg