Wir hatten einen tollen Urlaub in England hinter uns, und Titus’ Einschulung lag erst eine Woche zurück, da beichtete er mir eines morgens, dass er ins Bett gemacht hätte. Wir machten natürlich keine große Sache daraus. Doch als es in der nächsten Nacht wieder passierte, begann unsere Ursachenforschung. Schnell fiel uns auf, dass Titus viel trank – er hing regelrecht am Wasserhahn. Da war es mir schon fast klar: Diabetes! Zu Hause fing ich etwas Urin meines Sohnes in einem Behälter auf und brachte diesen zum Kinderarzt. Dann ging alles ganz schnell: Blutzucker im Ohrläppchen messen, Wert um die 450 (80 bis 120 sind normal), nach Hause, Tasche packen, in die Uniklinik.
Wie soll man einem Sechsjährigen, dem es außer einem starken Durstgefühl blendend geht, erklären, warum er ins Krankenhaus muss und was jetzt auf ihn zukommt? Er sah die anderen jungen Patienten auf der Kinderstation, und wir alle konnten nicht fassen, dass er hierher gehören sollte.
Eine regelrechte Fortbildung war das, was nun folgte. Zwei Wochen lang wurden wir von Ärzten, Psychologen, Ernährungsberatern geschult. Sogar Oma und Opa waren meist dabei, war Titus doch jeden Tag nach der Schule zum Mittagessen bei ihnen.
„Nein, nein, das kann ich mir nicht alles merken!“, dachte ich oft genug. „Ich kann die Kohlenhydrateinheiten einer Pizza, Lasagne oder von Milchreis nicht berechnen. Ich kann nicht mal die Spalten meines Kniffelblocks addieren! Meine Matheschwäche wird mein Kind umbringen!“ Titus hingegen jagte sich die Pen-Nadel in Bauch und Oberschenkel, ohne mit der Wimper zu zucken: „Ich bin schließlich schon ein Schulkind!“
Es ist erstaunlich, wie pragmatisch Kinder mit so einer Situation umgehen
Es ist erstaunlich, wie pragmatisch Kinder mit so einer Situation umgehen. Titus ist jetzt in der dritten Klasse. Er arbeitet gerade an seinem Silberabzeichen beim Schwimmen, spielt sehr erfolgreich Fußball. Er verabredet sich mit Freunden und schläft auch mal dort. Er geht ohne Begleitung zu Kindergeburtstagen und war im Sommer für zwei Tage auf Klassenfahrt. Er hat sein Notfallhandy dabei, und wenn er einmal nicht weiterweiß, dann ruft er kurz durch: „Mama, das ist mein Wert, und das hab ich gegessen, wie viel soll ich spritzen?“
Die Schule war von Anfang an sehr aufgeschlossen. Mehrere Lehrkräfte hatten schon eine Diabetesschulung absolviert, die Mitschüler wurden mit einem Infofilm in Comicform über die Zuckerkrankheit informiert. Sie waren allesamt sehr hilfsbereit und auch interessiert. Besonders Titus’ Messgerät hatte es ihnen angetan, sah es doch aus wie ein Gadget von James Bond.
Klar haben wir Glück. Titus merkt sofort, wenn er unterzuckert, und holt sein Messgerät heraus. Er hat ein Händchen dafür, wie viele Einheiten er spritzen muss. Er geht selbstbewusst mit seiner Krankheit um und fühlt sich niemals als Opfer. Aber darauf haben wir auch sehr geachtet – und wir trauen ihm etwas zu. So geht’s uns gut – und der Diabetes ändert nichts daran.